Zwei Leben
#4
Die Träume hielten ihn wach. Es waren nur selten zusammenhängende Sequenzen, die sich den Weg aus seiner Erinnerung bohrten, zumeist waren es Bilder, Gesichter, kleine Ausschnitte von Landschaften, ein Wort, ein Lachen, eine Geste, die er sah obschon niemand außer ihm im Raum war. Sie waren ihm in den letzten Jahren treue Begleiter geworden, diese Erinnerungen. Kyron nannte sie "die Schatten", denn wie Schatten schlichen sie hinter ihm her, tagein, tagaus.
Früher hatte er versucht sie mit Alkohol, Rauschgiften, wilden Schlägereien zu vertreiben, sich derart um Kopf und Kragen gebracht dass er am Ende im Kerker geendet war, aber die Jahre der Haft hatten ihn gelehrt dass nichts davon Wirkung zeigte.
Alkohol? Nein. Alkohol raubte ihm nur die Kontrolle darüber, wie er auf diese Phasen des Traumwandelns reagierte, nahm ihm die Beherrschung und führte zu unschönen Szenen.
Stechapfel sorgte dafür, dass die Erinnerungen zu Schreckgespenstern wurden, die ihn in ein sabberndes, zitterndes Häufchen Elend verwandelten, das sich nicht mehr aus seiner Ecke wagte. Dieses Teufelszeug hatte er nach dem ersten Versuch bereits weit, weit fort verbannt aus seinen kleinen Exkursen.
Fliegenpilz und Pantherpilz ließen ihn an einzelnen Sequenzen hängen bleiben wie ein Säufer am Bier, mit der überaus unangenehmen Zugabe, dass er sich zugleich nicht regen konnte. In Kombination mit Alkohol verbesserte sich die Angelegenheit und zerfaserte alle Gedanken zu einem aussagelosen Einheitsbrei, aber nachdem er einmal beinahe gestorben war erschien ihm die Sache das Ergebnis nicht wert.
Und Mohnsaft? Laudanum... Es nahm den Schatten ihren Schrecken. Mit Laudanum im Magen konnte er zwischen ihnen hindurch wandeln wie ein Heiliger durch die Heiden, unberührt und unbeeindruckt, dafür übernahmen sie alles, erfüllten die Umgebung so vollständig, dass er mit einer entsprechenden Dosis des Rauschgifts nicht mehr wusste wo er war, wann er war, und wer die Menschen um ihn herum waren.
Es hatte ihn Jahre gekostet, alle Reaktionen auf die Visionen zu unterdrücken, zu akzeptieren dass sie nicht mehr als Schall und Rauch waren, und die Finger von all den Giften zu lassen hatte dabei eindeutig ihren Beitrag geleistet.

Nun aber, wo er schlimm genug verletzt war um selbst eine Heilerin davon zu überzeugen, dass dem Süchtigen Laudanum zu geben eine gute Idee war, da blieb auch ihm keine andere Wahl. Nicht dass er anders gewählt hätte, die Worte Eirenes gaben ihm nur die perfekte Ausrede, sich an das Gebräu zu klammern wie ein Kälbchen an die mütterliche Zitze, und verdammt seien die Schatten!
Und nun lag er da, derart betäubt und jenseits von gut und böse, dass nicht einmal die Erinnerungen ihn mehr aufschrecken konnten.
Angst jedoch hatte keinen Einfluss auf ihr Erscheinen.

*~~~*
"GOTTVERDAMMT! LAUF, LOS!"
Tatsächlich zeigte der schockartige, herrische Ausruf Wirkung. Noch während Cahira losstürmte, den wandelnden, grausigen Leichnam namens Arzel regelrecht über den Haufen rannte, hallten Alarmrufe über das Kultgelände. Natürlich, wozu hatten sie Wachen... Es erschien wie ein Traum, als er die aufgeregten, erzürnten Stimmen hörte, fühlte wie Arzel ihn zu packen versuchte, und er reagierte instinktiv, mit letzter Kraft. Es knirschte ekelerregend, als er dem Untoten den Arm verdrehte bis er brach. Er hätte noch weiter gedreht, weiter gehebelt, immerhin hatte er Arzel versprochen ihn in Fetzen zu reissen sobald er frei kam, doch im nächsten Moment blitzte es rot in seinem Augenwinkel auf, und Dutzende von feingeschmiedeten Panzerplatten verschärfte Schläge prasselten auf ihn ein - er musste loslassen.
Kyron hatte beileibe schon oft Prügel bezogen, doch niemals so intensiv, genüsslich, schlichtweg gedankenlos brutal wie in diesem Moment. Nach den ersten drei oder vier Schlägen war er selbst zu schwach für Schutz oder Gegenwehr, und immer noch trat Bernados auf ihn ein. Er wusste nicht wann es ein Ende genommen hatte, aber er spürte das kalte Eisen der Kette die ihm um den Hals geschlungen wurde, spürte den reibenden Schmerz als Bernados ihn schlicht hinter sich her schliff, um ihn dann in die altbekannte Zelle zu werfen...

*~~~*

Der tropfende, knochen- und leichenbedeckte Keller verwandelte sich mit einem trägen Blinzeln zurück in das freundliche, helle, warme Heilerzimmer, und doch sprang sein Herz noch drei verwirrte Schläge hinterher bevor es wieder seinen gelassenen, gleichmütigen Rythmus fand.
Wie lange war er nun schon hier, gefesselt vom stetigen, nimmerendenden Zugang zum Gift? Einen Tag? Keinen Tag? Drei Tage? Düster erinnerte er sich an Cahiras Worte in seiner letzten Wachphase, als sie ihm eindringlich mitgeteilt hatte dass sie gehen müssten, bald, heim, zurück in die Sicherheit Zweitürmens. Wie lange war dieses Gespräch her?
Träge hob Kyron den Kopf und sah sich um. Die Kerzen waren nicht mehr frisch, und Cahira war nicht zu sehen, es musste also eine Weile her sein. Zudem war dort nur Finsternis hinter den Fenstern des Heilerhauses zu entdecken. Vielleicht war Cahira schon gegangen, hatte ihn hier zurück gelassen, in der Erwartung er würde nachkommen?
Es war ein irrwitziger Gedanke den er da hatte, aber trotzdem so simpel und logisch, dass er ihn nicht anzweifelte. Mühsam und unendlich langsam erhob er sich von der Krankenliege, und wickelte sich in den Umhang, den Inara ihm vor Tagen gegeben hatte um Lionel darin einzudecken.
Die Welt um ihn flackerte zurück zum Keller. Der Geruch von verwesendem Fleisch und Blut drang ihm in die Nase, und in der Ferne konnte er das rythmische, monotone Murmeln dutzender betender Kultisten hören. Nichts als Schatten, sie können dir nichts tun. Mit einem Blinzeln ergriff Kyron die Kiste mit seinem Rüstzeug, und schleppte sie hinüber zur Treppe, die sich als gähnender Abgrund tarnte. Für einen Moment spürte er das alte Zögern, die Sorge dass das was er sah doch die Realität war, also warf er die Kiste die Treppe hinab. Es polterte und polterte, wie es bei einer Rüstung geschehen sollte, die eine Treppe hinab fiel, und der Lärm war Bestätigung genug für ihn.
Die Schrecken um sich ignorierend wanderte er die Treppe hinab und atmete erleichtert auf, als die Welt sich wieder normalisierte. Der Heilerlehrling, der wohl die Nachtwache übernommen hatte, wusste nicht so recht wie man einen ausgewachsenen Krieger aufhalten sollte, und so stand er nur Momente später auf der Straße.
Der nächste Schemen der auf ihn zukam hatte Cahiras Stimme, und mehr brauchte es nicht um ihr Gesicht zu berichtigen. Erleichtert darüber, dass sie ihn doch nicht zurück gelassen hatte, ergriff er ihren Wappenrock und folgte ihr... aber nur ein paar Schritte.

"Euer Mann... scheint etwas mitgenommen."

Der Abgrund seines Verstandes öffnete sich einmal mehr.

*~~~*
"Gut. Gut, ich gebe auf."
... "Aufgeben? Aber das tut ihr doch nicht." der Namenlose lächelte, und es wirkte aufmunternd und bestärkend. "Ihr gewinnt... ihr gewinnt eure Freiheit von den Lügen und Verspiegelungen zurück, die dieser heuchlerische lichte Gott euch vorspielte. Ihr gewinnt euren klaren Geist zurück, eure Vernunft, euer Bewusstsein. Mein allmächtiger Herr ist gut zu seinen Jüngern, er schützt und behütet sie vor dem Bösen, das dort draussen in der Welt lauert und seine Klauen in euer Fleisch schlägt. Und wenn ihr ihm die Treue schwört, wird er euch die Macht geben, eure Liebsten zu schützen." Seine Stimme klang so beruhigend, ernst und gütig, gedämpft und vertraulich.
Kyron kniete in der Ecke, an die Wand gepresst, den Blick teils gehetzt, teils verwirrt auf den Mann der vor ihm auf den Fersen saß gerichtet, den Mann der zum Nekrarchen gewählt wurde, nachdem sein Vorgänger aufgestiegen war. Einen Moment schossen verschwommene Erinnerungen an den unterirdischen Kerker in der Eiswüste durch sein Bewusstsein, damals, als die Rollen anders herum verteilt gewesen waren.
Als er ihn gefoltert hatte, den verhassten, fanatischen, eifrigen Mithrasdiener. Als er das überzeugte Böse gewesen war, das seine Klauen ins Licht geschlagen und an dessen Fleisch gerissen hatte. Er war sich sicher der Namenlose konnte sich ebenso erinnern, und einen Moment stieg Trotz in ihm auf, Trotz gegen den Mann zu verlieren.. Trotz sich schlussendlich doch zu ergeben.
"Ich will nicht als Untoter enden.." Kyrons Stimme war heiser und krächzend, nach drei Tagen in einer frostigen, nassen Zelle kein Wunder. Sein Blick huschte über den Anblick seines Gegenübers. Er wirkte ruhig, glücklich, zufrieden. Dinge die Kyron schon lange nicht mehr gekannt hatte, Zustände von denen er gar zu behaupten wagte er hatte sie nie gekannt. Beneidenswert.
"Das werdet ihr auch nicht wenn ihr meinem Meister gut dient und seinem Willen folgt. Nur wenn ihr widerstrebt und frevelt, und zuwider handelt der göttlichen Weisung." Erneut kam die Antwort prompt, selbstsicher und überzeugt. Kyron's sorgfältig gehegtem Misstrauen wurde mehr und mehr der Boden unter den Füssen weggezerrt, entsprechend beunruhigt war er.
Der Namenlose streckte die Hand aus, langsam, vorsichtig, als würde er erwarten Kyron könne ihn beissen oder anfallen. Der letzte Mann der eine solche Geste auf ihn zu gemacht hatte, hatte nur einen Augenblick später nervenzerreissende Energiestösse durch seinen Körper gesandt, die seine Muskeln zucken hatten lassen, doch dieses Mal passierte.. nichts.
"Und wenn ich ablehne... wird die Jagd jemals ein Ende haben?" Er musste diese Frage stellen, sie brannte ihm wie ein blutiger Schnitt auf der Seele.
Es schien als würde seines Häschers Gesicht einfrieren, doch nicht vor Hass, sondern um kühl und ungerührt festzustellen: "Dann wird die Jagd weitergehen, und ihr werdet eines langen, grausamen, qualvollen Todes sterben. Doch er wird erst der Anfang der Pein sein, denn eure Seele wird für den Rest der Existenz von den Folterknechten des Abyss mit Schmerz und Qual versehen werden, auf dass ihr eure Sünde büßt."

*~~~*

Schatten. Es waren nichts als Schatten.
Die Narbe an Kyrons Handfläche juckte und juckte, und kein Kratzen dieser Welt konnte es lindern. Für einen Moment glaubte er, den Odem des Todes gegen sein Genick wehen zu fühlen, aber sein Geist weigerte sich es zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass er eine längst vergessene Stimme hören konnte, die Dinge sagte an die er sich nicht erinnern konnte.
Nein, nein, diese Worte von dieser Stimme mussten irgendwo in seinem Verstand geboren worden sein, es gab keine andere Erklärung. Er war tot, tot wie Dorkalon, tot wie Bernados, Belshira, Arzel, Tauron,... Schatten. Sie waren alle nichts als Schatten. Eine Strafe der Götter für seine Frevel, die er wie ein Mann zu tragen hatte.
Sich an diesen Gedanken klammernd ergriff er wieder Cahiras Wappenrock, ließ sich von ihr durch die Stadt leiten, hinaus in die kühle Frühlingsnacht, ein Blinder der sein ganzes Vertrauen in jemanden legte, der behauptete sehen zu können.
[Bild: spxyfrht.png]

Pain clears the mind of thoughts
Let pain clear your mind of all thought
so that the truth may be known
(Life - Charlie Crews)
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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