Trug und Schein
#2
Der Fußverkehr im Armenviertel nimmt zu. Es könnte Einbildung sein, es ist ja nicht so dass ich bisher darauf geachtet hätte, aber vor einigen Tagen konnte ich noch eine gute Stunde am Feuer verweilen ohne dass jemand vorbei gekommen wäre, und nun... Nun sehe ich laufend Schemen und Schatten an den Toren abbiegen, wo sie sonst vorbei gegangen wären. Manchmal fühle ich mich auch beobachtet, wenn ich mich in das Viertel wage, also sehe ich nichts und niemanden allzu auffällig an und bleibe auch nicht stehen.
Ich fühle mich mächtig, selbst wenn es sich wirklich nur als Einbildung herausstellen sollte. Ein kleiner Wurm wie ich kann so viele Menschen aufbringen? Wer hätte das gedacht. Berauschend ist es.
Diesmal stehe ich nicht am Tor zwischen Altstadt und Armenviertel, das wäre zu gefährlich und zu auffällig. Stattdessen muss die bröckelige Wand neben dem Eingang des Badehauses als Stütze herhalten, und von dort aus halte ich auch Ausschau nach... allem. Opfern für einen flinken Griff in die Tasche, Opfern für ausgiebiges und klagendes Betteln, und potenziellen Spähern, die für mich einen Blick ins Armenviertel werfen. Ich habe zwar schon zwei Gossenjungen jeweils eine Münze in die Hand gedrückt und ihnen eine weitere versprochen sobald sie zurück kommen, aber wer Gossenjungen traut ist ein Glücksspieler. Sie sind beide nicht wieder gekommen, wie zu erwarten.
Gerade will ich eine Frau mit abgehalfterten Röcken und fadenscheiniger, viel zu locker sitzender Bluse ansprechen, als eine Gruppe von gut gekleideten Personen Platz am Tisch vor der Taverne einnimmt. Schlagartig fühle ich mich wieder beobachtet, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Es ist nicht gut, wenn das eigene Gesicht zu bekannt wird, und ich will es nicht darauf anlegen. Nicht mit meinen Opfern, zumindest.
Ich folge der Frau in den alten Hafen, wenn auch etwas verträumt und nicht so motiviert wie zuvor. Sie biegt um eine Ecke, und anstatt wie sonst einen größeren Bogen zu machen folge ich ihr in meiner Träumerei ohne zu zögern - ein Fehler.
Sie packt mich, kaum dass ich die Bewegung aus dem Augenwinkel gesehen habe, drückt meinen Rücken an die Wand und ein kleines, schartiges Messer an meinen Hals. Der Geruch nach frisch geschnittenen Zwiebeln steigt mir in die Nase, während ich ihr verdutzt entgegen blinzle und etwas ertappt aufgrinse.
Sie hat eine Zahnlücke, strähniges, schmutzigblondes Haar, weit auseinander liegende Augen und einen Buckel am Nasenbein, der auf einen alten Bruch hindeutet. Ihre Lippen sind allerdings so voll und rosig, dass ich automatisch dorthin starren muss, wo sie sich zornig kräusen. Man muss die schönen Dinge im Leben im Auge behalten, daraus ist die Hoffnung gestrickt.
"Hier gibts nichts zu holen, verzieh dich!" knurrt mir das blonde Ding entgegen. Nicht dass ich es ihr glauben würde, immerhin riecht ihr Messer nach der Zubereitung von warmem Essen. Es ist allerdings erst zwei Stunden her dass ich einen Eisenbarren gegen eine ordentliche Schüssel Fleischbrühe (nur leicht vergammelt!) getauscht habe, und selbst der Geruch von Essen kann meinen flatterhaften Verstand gerade nicht fesseln. Es sind die Lippen, das wette ich.
"Gibt es für fünfzig Heller etwas zu holen, Liebchen?" erwidere ich daher, und setze mein bestes Lausbubengrinsen auf, um ihr zu zeigen dass ich im Gegensatz zu vielen Anderen noch alle Zähne habe.
Es wirkt. Oder das Geld wirkt, ich weiß es nicht.
Mit einem Schnauben drückt sie mir das Messer noch einmal fester gegen den Kehlkopf, dann knurrt sie "Geld im Vorhinein!" und steckt ihre wenig beeindruckende Waffe wieder weg.
Meine letzten Münzen wechseln den Besitzer, dann nimmt sie mich an der Hand und zieht mich in eine matschige, finstere Seitengasse. Einmal mehr bin ich völlig mittellos, aber im Gegensatz zu den Taten meiner blonden Erwählten werde ich für die Behebung dieses Problems keine Hilfe brauchen.
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Nachrichten in diesem Thema
Trug und Schein - von Alaric Creutz - 27.06.2014, 04:15
RE: Trug und Schein - von Alaric Creutz - 28.06.2014, 20:03
RE: Trug und Schein - von Alaric Creutz - 30.06.2014, 03:11



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