Tagebuch der Taliya Valaris
#5
[Bild: z86h34mu.png]
Sechster Eintrag: Freier Fall

Ich stehe auf dem Dach.
Der Wind weht durch mein schwarzes Haar und
zerzaust es. Und doch spüre ich nichts.
Ich stehe neben mir, im wahrsten Sinne des Wortes.
Mein Geist hat meinen Körper verlassen, sich von allem
weltlichen befreit. Mein Körper steht starr, lediglich
vereinzelte Böen lassen meinen Leib kurz wanken. Der
Blick der topasblauen Augen ist leer und geradeaus gerichtet.

Und dann der Sprung.
Während mein Geist meinen Körper betrachtet, jede
Bewegung mustert und festhält, schließt jener still
die Augen und lässt sich nach vorne fallen. Ich falle.
Ich will den Körper festhalten, doch gleite haltlos durch
meine Schulter. Ein schrei von mir, während mein
fleischliches Ich schweigsam zu Boden gleitet… und
schließlich hart auf das Pflaster des Platzes vor dem
Tempel prallt.

Schock geweitete Augen richten sich auf den Leib mit
seinen verdrehten Gliedern, unter dem sich langsam
eine rote Lache bildet. Das schwarze Haar bedeckt
das blasse Gesicht. Oder was davon übrig ist. Ich
stehe noch immer auf dem Dach, starre auf die Reste
meines Körpers.
Wieso…?

Ein harter Ruck durchfährt mich, als ich aufrecht im
Bett sitze und die Augen aufreiße. Es ist tiefe Nacht,
um mich herum höre ich den ruhigen Atem meiner Mitnovizen.
Ein Traum… Wieder einer der Solchen, die man sich sparen will.
Es ist mitten in der Nacht, doch an Schlaf kann ich nicht
mehr denken. So erhebe ich mich langsam und quälend.
Obwohl es nur ein Traum war, schmerzen mir die Glieder
so sehr, dass ich als alte Vettel begeistern könnte.
Trotzdem… Ich muss aufstehen.

Meine nächtliche Wanderung treibt mich raus auf die
Straßen Löwensteins und in Richtung des Badehauses,
jegliche Vorsichtsmaßnahmen aus Acht lassend. Ein Bad…
Ein warmes, wohltuendes Bad! Um diese Zeit ist niemand
hier, sodass ich ausnahmsweise sogar auf das Handtuch
verzichten kann, welches meinen Leib bedeckt und mich
beim Waschen einschränkt.
Was warme Wasser auf meiner nackten Haut tut
unbeschreiblich gut und ich genieße die Stille der Einsamkeit,
die das Badehaus bietet. Nur einen Augenblick für mich,
einen kurzen…

Ich bleibe wirklich nicht lange. Schon nach ca. 30 Minuten
habe ich den Tempel wieder erreicht und ich trete in die
Mitte des im Boden eingelassenen Ornamentes. Ein Gebet,
nicht vorgegeben von den Schriften, sondern selbst erdacht
und verfasst. Mein Mantra, meine stetig in mir widerhallenden
Worte. Dabei versinke ich in Trance. Der Raum um mich herum
verblasst. Es gibt nur noch mich, das Ornament, auf dem ich
ruhe und die Statue des Mithras vor meinem gesenkten Haupt.
Es wird noch dauern, bis die Sonne aufgeht und der Rest des
Tempels erwacht. Ich bin allein, habe Ruhe für den Augenblick.
Ich liebe mein Leben, doch es ist die Ruhe, die Meditation,
die mir fehlt.

In meinem Gebet und der Stille der Nacht finde ich Ordnung.
Keine Ordnung im Lager des Tempels, sondern innere Ordnung,
die ich zutiefst benötige. Ordnung durch Führung… Mithras
führt mich durch die Nacht und fort von meinen Träumen,
die meine Gedanken in Chaos stürzen. In meinem Gebet
kann ich mich fallen lassen. Ein freier Fall, der nicht mit
Blut, gebrochenen Knochen und dem Tot zusammen hängt,
sondern ein Fall in die tiefe, innere Ruhe…
Innerer Frieden.
Ich brauche inneren Frieden.

[Bild: gwajtihw.png]
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RE: Tagebuch der Taliya Valaris - von Taliya Valaris - 24.06.2013, 22:09



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