Ein Spatz in der Hand
#1
Einmal mehr kam es mir so vor als wisse er, was ich denke. Andererseits war es vermutlich nicht schwer zu erraten - ich malte mir in leuchtenden Farben aus, wie sein Gesicht sich röten würde, wenn ich ihm den Teller Suppe einfach ins Gesicht schüttete anstatt ihn artig auf dem Tisch abzustellen. Wie kirschrotes Blut hervorquellen würde, sollte ich das Messer eines Tages an seiner Kehle ansetzen, statt ihm einen Kanten Brot abzuschneiden und zu servieren. Er lächelte sanft.

"Du bist Dir in Wahrheit nicht einmal sicher, wen von uns beiden Du mehr verfluchen sollst nicht wahr - Deinen Vater oder mich, ich gerate nur ins Hintertreffen, weil ich eben grade hier bin.."

Eine rasche Antwort lag mir auf der Zunge und doch schwieg ich, starrte ihn an. Weil er Recht hatte und ich mich nur lächerlich machen würde. Ab und an gelang es ihm mich zu provozieren, allerdings wurden die Gelegenheiten seltener, je länger wir in Löwenstein verweilten. Ich begann mir Fragen zu stellen, die meine Wut kühlten und es blieb ihm nicht verborgen. In der Tat schien es ihn zufrieden zu stellen - das letzte was ich wollte, doch vielleicht würde es meine Flucht aus der momentanen Lage erleichtern. Dafür galt es alles zu tun, das nötig war. Nunja, nicht alles..

Wieder lächelte er breit, als wäre er in der Lage meine Gedanken zu erraten. Allerdings hatte es in den vergangenen Nächten, seit ich sein Preis beim Kartenspiel gegen meinen Vater geworden war keinerlei Anzeichen gegeben, er interessiere sich derart für mich. Jetzt allerdings besaß ich seine volle Aufmerksamkeit, ich hatte nicht geantwortet.
"Es war nicht seine Idee. Es war meine."
Erleichterung und erneut aufwallende Wut mischten sich in einer jähen Woge, der es stand zu halten galt. Ich wandte mich abrupt ab und begann die Einrichtung abzuwischen. Eine nicht schwerlich zu deutende Reaktion, dennoch schwieg er nun.

"Einerlei - er hätte nicht darauf eingehen müssen."

"Mag sein, aber manchmal besteht keine echte Wahl."

Was auch immer das bedeuten mochte, ich wollte es nicht hören, dennoch wandte ich mich herum und betrachtete den Mann mit den grauen Schläfen, der ebenso mein Vater hätte sein können. Nein ich wurde nicht schlau aus ihm - ein echter Künstler war er jedenfalls nicht, auch wenn er gewiss Gemälde fabrizierte und viel gegorenen Traubensaft soff, so wie man es von derlei Leuten wohl erwartete. Ein passionierter Spieler vielleicht, aber auch das konnte ich mir nicht als seinen Lebenssinn und -inhalt vorstellen. Wo verbrachte er seine Nächte und seine Nachmittage, wenn er nicht soff, zeichnete oder am Kartentisch hockte und wichtiger, wie würde ich es anstellen ihm zu folgen..
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Ein Spatz in der Hand - von Iveres Tesanto - 01.06.2013, 16:32
Kartenhaus - von Iveres Tesanto - 16.02.2014, 16:47



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