Arx Obscura

Normale Version: Ein Spatz in der Hand
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Einmal mehr kam es mir so vor als wisse er, was ich denke. Andererseits war es vermutlich nicht schwer zu erraten - ich malte mir in leuchtenden Farben aus, wie sein Gesicht sich röten würde, wenn ich ihm den Teller Suppe einfach ins Gesicht schüttete anstatt ihn artig auf dem Tisch abzustellen. Wie kirschrotes Blut hervorquellen würde, sollte ich das Messer eines Tages an seiner Kehle ansetzen, statt ihm einen Kanten Brot abzuschneiden und zu servieren. Er lächelte sanft.

"Du bist Dir in Wahrheit nicht einmal sicher, wen von uns beiden Du mehr verfluchen sollst nicht wahr - Deinen Vater oder mich, ich gerate nur ins Hintertreffen, weil ich eben grade hier bin.."

Eine rasche Antwort lag mir auf der Zunge und doch schwieg ich, starrte ihn an. Weil er Recht hatte und ich mich nur lächerlich machen würde. Ab und an gelang es ihm mich zu provozieren, allerdings wurden die Gelegenheiten seltener, je länger wir in Löwenstein verweilten. Ich begann mir Fragen zu stellen, die meine Wut kühlten und es blieb ihm nicht verborgen. In der Tat schien es ihn zufrieden zu stellen - das letzte was ich wollte, doch vielleicht würde es meine Flucht aus der momentanen Lage erleichtern. Dafür galt es alles zu tun, das nötig war. Nunja, nicht alles..

Wieder lächelte er breit, als wäre er in der Lage meine Gedanken zu erraten. Allerdings hatte es in den vergangenen Nächten, seit ich sein Preis beim Kartenspiel gegen meinen Vater geworden war keinerlei Anzeichen gegeben, er interessiere sich derart für mich. Jetzt allerdings besaß ich seine volle Aufmerksamkeit, ich hatte nicht geantwortet.
"Es war nicht seine Idee. Es war meine."
Erleichterung und erneut aufwallende Wut mischten sich in einer jähen Woge, der es stand zu halten galt. Ich wandte mich abrupt ab und begann die Einrichtung abzuwischen. Eine nicht schwerlich zu deutende Reaktion, dennoch schwieg er nun.

"Einerlei - er hätte nicht darauf eingehen müssen."

"Mag sein, aber manchmal besteht keine echte Wahl."

Was auch immer das bedeuten mochte, ich wollte es nicht hören, dennoch wandte ich mich herum und betrachtete den Mann mit den grauen Schläfen, der ebenso mein Vater hätte sein können. Nein ich wurde nicht schlau aus ihm - ein echter Künstler war er jedenfalls nicht, auch wenn er gewiss Gemälde fabrizierte und viel gegorenen Traubensaft soff, so wie man es von derlei Leuten wohl erwartete. Ein passionierter Spieler vielleicht, aber auch das konnte ich mir nicht als seinen Lebenssinn und -inhalt vorstellen. Wo verbrachte er seine Nächte und seine Nachmittage, wenn er nicht soff, zeichnete oder am Kartentisch hockte und wichtiger, wie würde ich es anstellen ihm zu folgen..
Gleichförmige Tage, verstohlene Nächte und ein Sumpf aus immer gleichen Überlegungen bildeten meinen Alltag - zu lange schon. Als ihm diesmal die Flasche aus der Hand fiel, machte ich mir nicht einmal die Mühe, die Lache des restlichen Fusels aufzuwischen. Mein Kopf drohte zu bersten, wie eine der Flaschen die regelmässig auf dem Boden zerschellten. Heute nicht, heute lag eine Stimmung im Raum, die fast greifbar war oder vielleicht auch nicht, vielleicht war ich nur einem Nervenzusammenbruch nahe.

Die Angst er könnte etwas von mir wollen, das ich ihm nicht zu geben bereit war, hatte sich mit der Zeit verloren und trotzdem war es mir kaum erträglich, lange in seiner Nähe zu sein. Tagaus tagein kümmerte ich mich um ein großes Kind, das nicht das meine war. Der einzig zielgerichtete Gedanke für den Augenblick war: raus hier. Raus. Einfach weg.
Als ich die nächtlichen Straßen entlangstolperte, fragte ich mich für ein zwei Momente ob er mich suchen würde, wenn ich nicht bis zum Morgen zurück wäre. Dann überwog die schattenhafte Vermutung, dass ich ohne ihn vermutlich in einem der Hurenhäuser am Hafen enden würde und ich verlangsamte meinen Schritt. Bog meine spontane Flucht zu einem Kreis, den ich auch diesmal nicht zu brechen bereit war.
Ein Scheppern nahebei aus einer Gasse ließ mich endgültig inne halten, abrupter als vorgehabt und unbehaglicher als gewünscht. Mich ausrauben zu wollen wäre lächerlich wie vergeblich, allerdings wusste das ja nur ich, sonst niemand..

Der Lumpen, der sich aus den Schatten schälte, schien indes nicht auf Gewalt aus - im ersten Moment konnte man ihn wohl für einen Bettler halten, im zweiten für einen Säufer und auf den dritten Blick stimmte noch viel mehr an ihm nicht.
Bei allen Göttern, welche Krankheit konnte ein Gesicht so entstellen? Das was nicht im Halbschatten seiner Kutte lag, glich eher einer Parodie, denn einem wirklichen Gesicht.. die knorrigen Finger, die sich nach mir streckten zitterten. Trotzdem wehte mir weder der Geruch von altem Schnapps entgegen, noch der eines Mannes, dem Wasser und Seife fremd sind.

"Ich habe selber nichts - weder Taler noch Hoffnung. Schert Euch weg."

Zuerst dachte ich, er würde von einem Hustenanfall geschüttelt, dann wurde mir klar, dass der Mann lachte. Zumindest vermutete ich anhand von Größe und Statur, dass hier ein Mann vor mir Stand oder das, was von ihm übrig war..

"Hättest du keine Hoffnung mehr, wärst Du jetzt nicht hier. Aber ich bin nicht hier um zu schwatzen. Iv Du musst verschwinden, jetzt gleich. Du kannst nicht zurück gehen. Sie werden kommen und Dich holen.. heute Nacht. Schau Dir den Mond an.. es ist Zeit.."
Ich hätte seine Worte für das Geplapper eines irren Alten abgetan, kaum verständlich für meine Ohren, eher das Knarren eines vorzeitlichen, gewundenen Baumes, hätte er mich nicht bei dem Spitznamen meiner Kindheit genannt – so sah ich genauer hin und begann, etwas in diesem falsch zusammen gesetzten Puzzle von Gesicht zu erkennen. Augenblicklich gefror mir das Blut in den Adern und doch wurden meine Wangen zugleich brennend heiss.

“Vater...? Was bei.. was machst Du hier? Was ist mit Dir passiert?” Meine Stimme überschlug sich fast, das umgekehrte, kreischende Gegenstück zu der seinen. Rasch tat ich einen Schritt auf ihn zu, wollte nach seiner Hand greifen, doch er zog sich zurück als könnte ich mich an ihm verbrennen – so behende, wie ich nicht damit gerechnet hätte, dem Zustand nach zu urteilen, in dem er sich befand.

“Das ist jetzt einerlei. Verschwinde. Geh in das Hurenhaus vor dem Du Angst hast wenn es sein muss – was immer sie schicken um Dich zu holen, ist beängstigender.”

Auch wenn sein Gerede keinen Sinn für mich ergab, spürte ich seine Anspannung nicht nur in seinem Tonfall, sondern in der gesamten Gestalt, sie war eine Aura die ihn einhüllte, wie manche Menschen in Fröhlichkeit oder Trauer getaucht zu sein schienen, wenn man sie nur aufmerksam genug betrachtete. Und ich glaubte ihm, fragte mich nicht einmal im Stillen, wie er von meinen unausgesprochenen Ängsten wissen konnte. Während meine Gedanken rasten, was ich jetzt tun sollte, näherte er sich mir ganz langsam und zog dabei etwas aus den Falten seiner weiten Kutte um es mir hin zu halten.

“Nimm das und beeil Dich jetzt. Zuerst einen öffentlichen Ort, eine Taverne, irgendwas. Finde jemanden, bei dem Du unterkommen kannst. Dann lies. Und zähl die Schatten.”

Selbst wenn ich noch immer kein Wort verstand, reichten seine Erscheinung und seine Entschlossenheit aus, den tiefergehenden Fragen Einhalt zu gebieten. Nur eine blieb. “Du kommst nicht mit mir?”
Ich glaube, dass seine Reaktion ein Lächeln darstellte.. Er wusste, was ihn in dieser Nacht erwartete, dass wir uns nicht wiedersehen würden, nicht in dieser Welt.
“Ich gehe und werde ein Band lösen, das ich nie hätte knüpfen dürfen. Auch wenn es nicht viel nutzen wird, gewisse Traditionen müssen gewahrt bleiben.”

Wie ein ungeduldiges Ross, das losgaloppieren will, anstatt zu warten bis sein Herr es ausreichend verziert und gestriegelt hat schüttelte ich mich, suchte seine Worte abzuschütteln – ich verstand nicht. Dennoch nahm ich den Ledereinband und drückte den knorrigen Rest von einem Mann an mich, bevor ich mich einfach umdrehte und los lief. Ein Teil von mir ahnte vielleicht doch schon etwas, ein Teil der noch in den Schatten schlief aus denen er eben gekrochen war.