Die Veltenbruchs
#4
Freiheit
Welf

Es war stockdunkel und Welf war hellwach. Er lag auf seiner Strohmatte und starrte in die Dunkelheit, dorthin, wo sich irgendwo die Balken der Decke des Schlafsaales befanden. In seinem Kopf summte noch immer die monotone Stimme des Erzpriesters, der die immer gleichen Phrasen des Nachtgebets herunterleierte und im Gegensatz zur Wirklichkeit, schien er in seiner Einbildung nie zu einem Ende zu kommen: Auf verwirrende Weise wiederholten sich die Worte und verschwammen gleichzeitig zu einem dialektischen Brei, der jede Bemühung, einen klaren Gedanken zu fassen, zu einer schieren Unmöglichkeit machte.

Dein sind wir mit Haut und Haar auf alle Zeit…Mithras, Licht der Welt…Im Angesicht der Finsternis rufen wir Dich an…Dein Feuer erfülle uns…Die Schönheit und Stärke Deiner Ordnung…unsere Herzen quellen und überschäumen…kein Abgrund zu tief…die Schatten aus den Seelen der Menschen…Dein Feuer erfülle uns…Dein Feuer erfülle uns! DEIN FEUER ERFÜLLE UNS! DEIN SIND WIR MIT HAUT UND HAAR AUF ALLE ZEIT, IN EWIGKEIT!

Gequält raufte er sich die Haare. Verkrampft bog er den Rücken durch und sank dann wieder auf das zerwühlte Laken. Kurz lag er still und atmete tief durch. Das selige Schnarchen der Mitbrüder bewies ihm, dass niemand von seiner Unruhe erwacht war. Ganz allmählich schaffte er es, sich wieder etwas zu beruhigen. Er ließ seine Gedanken in die Vergangenheit wandern, um sich abzulenken und um nicht mehr an sein jetziges Leben denken zu müssen.

Welf erwachte und die Sonne schien ihm warm auf den Bauch. Schläfrig sah er sich um und konnte nicht recht erkennen, was ihn geweckt hatte. Dann sah er Ferdinand, den Lehrling der Stellmacherei von Welfs Vater und ein entfernter Vetter von ihm selbst, der rufend über den Hof gerannt kam. Welf, der gerade auf der Bank vor dem Haus herumlümmelte, betrachtete den aufgebrachten Jungen entgeistert. Das normalerweise rotwangige Gesicht war erstaunlich blass und die Augen schreckengeweitet. Welf stand augenblicklich auf.
„Wo ist Tante Kataris?“, fragte Ferdinand mit zittriger Stimme.
„Hinten im Garten.“, antwortete Welf verwirrt. „Was ist denn los?“
Sein Vetter starrte ihn kurz an, sein Gesicht unverändert erschrocken und rannte dann einfach in Richtung des Gemüsegartens davon. Welf rannte hinterher. Ferdinand flitzte gerade durch den Durchlass in der Gartenmauer und hatte Mutter offenbar erblickt, denn er rief: „Tante Kataris! Komm schnell in die Werkstatt!“
Welf bog um die Mauer und sah seine Mutter eiligen Schrittes auf ihn zukommen, Ferdinand im Schlepptau.
„Was ist denn passiert?“, wollte sie wissen. Ein besorgter Unterton schwang in ihrer Stimme mit. Ferdinand hatte sie ebenso beunruhigt wie ihn. Als sie auf den Hof hinaustraten, erklangen Rufe aus der gegenüberliegenden Werkstatt. Mutter begann zu laufen und die Jungen eilten hinterher. Sie traten durch das breite Tor, das zur Hälfte aufgeschoben war. Im Inneren war es etwas dunkler. Durch Fenster in der gegenüberliegenden Holzwand fielen breite Balken aus hellem Licht auf den gestampften Lehmboden, in denen Milliarden von Staubflöckchen wirbelten. Auch am Schnaufen merkte Welf, dass ungewöhnlich viel Staub in der Luft lag. Die beiden Gesellen und der zweite Lehrling, allesamt Verwandte, versuchten gerade eine Art Plattform vom Boden aufzuheben. Mutter stieß einen kurzen entsetzten Schrei aus und eilte zu den Männern. Die Plattform sah irgendwie kaputt aus und dann ging Welf erst auf, dass es sich gar nicht um eine Plattform handelte. Er schaute nach oben. Die hölzerne Decke, die auf dieser Seite der Werkstatt direkt unter dem Dachstuhl eingezogen war, war heruntergebrochen. Rechterhand lagen allerlei verschiedene Hölzer durcheinander. Balken, Leisten und Schäfte, Achsen und Speichen, die auf dem offenen Dachboden dort oben gelagert wurden. Es musste ein gewaltiger Krach gewesen sein, als das alles heruntergepoltert war. Deswegen war er also gerade aufgewacht! Den beiden Gesellen gelang es nun allmählich, den Plankenboden hochzuheben.
„Schick die Jungen raus!“, bellte Heinrich, der ältere der beiden, vor Anstrengung Mutter an. Die Worte schienen ihre schlimmsten Befürchtungen nur zu bestätigen. Sie war unfähig, irgendetwas zu tun und stand einfach nur da und starrte auf den herabgestürzten Dachboden. Welf fasste sich ein Herz und trat an die Balken, um den Gesellen zu helfen. Ferdinand tat es ihm nach. Mit geeinten Kräften hoben sie den Dachboden an und hievten ihn ein paar Schritt zur Seite. Dort wo gerade noch die zusammengezimmerten Planken gelegen hatten, lag Welfs Vater flach auf dem Boden. Sein Blick vernebelte sich seltsam. Mutters verzweifelter Schrei drang dumpf zu ihm durch, wie als wären seine Ohren mit Watte verstopft. Er fühlte sich ungewöhnlich schwach und stützte die Hand auf einen heruntergefallenen Balken. Vaters Hinterkopf war seltsam eingedellt und sein rechter Fuß stand in einem grotesken Winkel ab. Sein Gesicht, das zur Hälfte in dem harten Lehmboden vergraben war, lag in einer Lache von Blut, dass von der trockenen, staubigen Erde nicht aufgesaugt wurde, einzelne Tropfen perlten, wie wenn man Wasser auf bestimmte Blätter goss. Welf knickten die Knie ein und er plumpste auf den Hintern. Er blieb einfach sitzen. Als er etwas Feuchtes auf seinen Arm tropfen spürte, wurde er gewahr, dass es Tränen waren, die ihm die Sicht vernebelten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Heinrich das Sonnenzeichen machte. Mutters Schluchzen drang wie aus weiter Ferne zu ihm.

Drei Tage später war Holger Veltenbruch bereits unter der Erde und Welf saß am Tisch in der Stube des Wohnhauses. Gegenüber von ihm saß ein älterer Mann mit graumelierten Haaren und einer roten Robe und hatte die Hände, die vor ihm auf dem Tisch lagen, gefaltet. Mutter saß ebenfalls am Tisch und schaute mit verschlossener Miene starr aus dem Fenster. Der Priester sprach schon eine ganze Weile, aber Welf hörte ihm nicht so recht zu. Mutter hatte ihm tags zuvor bereits erklärt, wie seine Zukunft aussehen würde. Vater hatte ihr seinen Wunsch anvertraut, dass sein ältester Sohn, der bisher noch keine Anstalten gemacht hatte, sich für irgendeinen Beruf zu begeistern, Novize im Mithrastempel werden sollte. Welf war entsetzt. Zwar war sein Vater Stellmachermeister des Familienbetriebs, doch an Nachwuchs in diesem Gewerbe mangelte es durchaus nicht. So hatte er Anderes ausprobiert: Das Herstellen von Mixturen und Tränke, wie es die Gelehrten machten - aber da fehlte ihm das Interesse und die Geduld, sich Stundenlang in eine muffiges Kämmerlein zu sitzen. Die Arbeit als Schmied, aber er konnte diesem Spiel mit den Elementen nichts abgewinnen und seines kleinen Bruders Begeisterung für geschmiedete Waffen teilte er ebenso wenig. Das Schneidern empfand er als Frauenarbeit und außerdem war er dabei recht ungeschickt. Und mit Tieren umzugehen lag ihm zwar schon, jedoch war ihm diese Arbeit immer zu hart gewesen… Ihm war wohl bewusst, dass die Verwandten ihn nicht zu Unrecht als faul abstempelten. Aber so war er nun eben. Sein Vater hatte das genauso erkannt und es offensichtlich für das Beste gehalten, ihn in den Dienst Mithras zu verweisen. Welf hielt es für das denkbar Schlechteste.
Vor ihm saß nun dieser alte, langweilige Mann und sprach über Regeln und Pflichten des priesterlichen Lebens sowie die Erfüllung und Zufriedenheit, die der Dienst an Mithras, dem Herrn, geben konnte. Der Priester hieß Vater Rodewin und war ein Freund von Welfs Vater gewesen. Er war gekommen, um Welf nach Guldenach zu bringen, wo er Novize im Mithrastempel werden würde. Aber was konnte er schon dagegen tun? Dies war praktisch Vaters letzter Wunsch an ihn. Diesem nicht nachzukommen käme einem Verrat an dessen Seele gleich, und er liebte seinen Vater. Welf hatte nicht einmal ein Bündel packen müssen. Seinen gesamten weltlichen Besitz ließ er zurück. Von morgen an würde er nur mehr schlichte Wollroben tragen und beten und arbeiten von früh bis spät.

Das war nun schon über drei Jahre her, und doch war seine Erinnerung noch so klar, wie als wäre es gestern gewesen. Sein Leben hatte sich binnen weniger Tage vollständig verändert. Wenn seine Tage zuvor in gelegentlicher Arbeit, versüßt durch lange Stunden des Müßiggangs bestanden, in denen er in der Schenke ein Bier mitgehen ließ oder die Mädchen ärgerte, ganz besonders seine kleine Schwester Gwendolyn, so hieß es nun viermal am Tag gemeinsames Gebet im Tempel, selbst mitten in der Nacht! Feldarbeit und meist langweiliger Theologieunterricht füllten die langen Stunden zwischen langweiligen Gebeten und so man nicht gehorchte, hatten die Priester sogleich harte Strafen bei der Hand.
In der heiligen Gemeinde lernte er zusammen mit den anderen Novizen das tägliche Beten und Arbeiten, die Auslegung und das Studium religiöser Schriften und das Predigen. In der strengen Gemeinschaft waren Enthaltsamkeit, Gehorsam und Frömmigkeit oberstes Gebot und besonders mit Ersterem und Zweiterem hatte Welf gewisse Schwierigkeiten. Immer häufiger war er in der Nacht nach schweren Träumen ruhelos aufgewacht, besonders wenn er am Tag zuvor auf den nahen Feldern gearbeitet hatte und verstohlen die lachenden Bauerntöchter beim Heubündeln auf dem Nachbarfeld beobachtet hatte. Oder er dachte an die Mädchen zuhause, malte sich in Gedanken aus, wie sie mittlerweile zu jungen Frauen herangewachsen waren. Und als er nun so da lag, im Dunkeln wachend, musste er sich wieder einmal eingestehen, dass er selbst nach drei Jahren im Noviziat noch immer Heimweh hatte. Oder vielleicht einfach Sehnsucht nach der Welt außerhalb des Tempels, von der er nur sein Zuhause kannte. Die meisten der Novizen hatten dieses Leben aus freien Stücken gewählt, aber er nicht. Und die meisten von ihnen, die mit ihm ins Noviziat eingetreten waren, waren längst geweihte Priester.

Dieses Mal hatte es jedoch andere Gründe, dass er wach lag in dieser Nacht und ein weiteres Mal über die letzten Jahre nachdachte, und darüber, wie es weitergehen würde. Heute Vormittag war ein junger Novize schnellen Schrittes an ihn herangetreten, während er gerade in die Lektüre eines alten Folianten vertieft war. Es handelte sich um die „Flora und Fauna Amhrans“, eines der wenigen Bücher im Besitz des Tempels, das ihn interessierte. Den tiefschürfenden Disputen über Mithras‘ Ordnung oder die Abhandlungen über den Sinn der unvollkommnen Gerechtigkeit in der Welt, welche sich regalweiße in der Bibliothek reihten, langweilten ihn zu Tode. Doch dies hier hatte etwas mit der Welt außerhalb der Tempelmauern zu tun…
Er schreckte hoch, als der Novize das Wort an ihn wandte.
„Bruder Welf, es ist ein Brief für dich abgegeben worden.“
Welf schaute zu dem jungen Burschen auf, der mindestens zwei Jahre jünger wie er selbst war. Mit einem freundlichen Gesicht, das zugleich Aufregung als auch Neugierde zeigte, hielt er Welf einen schlichten Brief hin. Persönliche Briefe an Angehörige des Tempels waren sehr selten, besonders, wenn es sich nur um Novizen handelte. Dankend nahm er den Umschlag entgegen und betrachtete ihn kurz, während sich seitlich an das Lesepult lehnte. Drauf stand lediglich sein Name. Der Brief war durch ein schlichtes Wachssiegel verschlossen, dass Welf sogleich aufbrach. Zum Vorschein kam ein Schreiben mit sauberem Schriftbild. Er zögerte kurz, bevor er es herausnahm und schenkte dem Novizen, der immer noch neugierig neben ihm stand, einen unwirschen Blick. Enttäuscht wandte sich dieser ab und verließ den Garten wieder. Welf zog gespannt das Blatt heraus und begann zu lesen.

Langsam schaffte Welf es, sich zu beruhigen. Er hatte Angst. Angst vor dem, was bevorstand. Und doch hatte er seinen Entschluss bereist gefasst. In dem Brief hatten ihm Theresia und Kaspar von ihren Plänen geschrieben, ihren Plänen, Silendir zu verlassen und ihr Glück in Löwenstein zu versuchen, der prächtigen Königsstadt im fernen Servano. Sie planten, sich von dem Rest der Verwandtschaft loszusagen und dem Namen Veltenbruch einen neuen Glanz zu geben, fern von der alten Heimat. Damit brachen sie mit den strikten Prinzipien der Sippe, lehnten sich regelrecht auf. Es war die Chance für Welf, es ihnen gleich zu tun.
Welf war in Kindheitstagen sehr oft auf dem Hof von Kaspars und Theresias Vater gewesen und vor allem Theresia war ihm eher wie eine große Schwester, denn eine einfache Verwandte. Sie würden jede Unterstützung brauchen, um an einem neuen Ort, in einer neuen Stadt Fuß zu fassen. Und er wollte dazu seinen Teil beitragen. Langsam richtete er sich auf der Schlafmatte auf. Er sah sich im Dunkeln um und versuchte die allzu vertraute Umgebung des Schlafsaals zu erkennen. Kein Licht drang durch die kleinen Fenster in der Steinwand herein, es war eine mondlose Nacht. Außer dem Schnarchen der Mitbrüder war nichts zu hören. Leise stemmte er sich von der Matte hoch und leise schlüpfte er in seine abgetragene Wollrobe…
[Bild: unterschrift2dkj0.png]
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Die Veltenbruchs - von Theresia Veltenbruch - 19.05.2013, 00:40
RE: Die Veltenbruchs - von Damian Pereste - 04.07.2013, 14:16
RE: Die Veltenbruchs - von Welf - 08.10.2013, 20:56



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