Ganz und gar
#11
Es kam aus dem Sumpf. Aus ihrem, nach Moos und Fröschen und feuchtem Laub duftendem Sumpf. Es kroch über den grünen Boden, grub die dürren Krallen tief hinein und riss Wunden in die Erde, die nie wieder heilen würden, setzte Schatten in die Welt, bis es nichts mehr außer der Dunkelheit gab.
Es war nicht mehr ihr Sumpf, und sie verlor sich, verlor sich in der Dunkelheit. Sie spürte noch das weiche Moos unter nackten Fußsohlen, konnte es jedoch nicht mehr sehen, hörte allein den eigenen rasselnden Atem als sie rannte, das kriechende Ungeheuer hinter sich. Es kam aus dem Sumpf und war hinter ihr her, kam immer näher, egal wie weit sie rannte, ohne einen Weg im Dunkeln finden zu können.

Nackte Sohlen schlugen dumpf über nachgiebigen Boden, sie rannte weiter, bis plötzlich, nach einer langen, angsterfüllten Ewigkeit, ein Licht zwischen den Bäumen aufblinkte. Erst eines, dann zwei, drei, zehn, mehr - unzählige Glühwürmchen schwebten durch die Nacht, weit ab vom verschlungenen Pfade.
'Man darf Glühwürmchen nicht folgen...sie sind in Wirklichkeit Totenlichter.'
Sie durfte nicht... doch das Ungeheuer kam näher, sie konnte die Erde hinter sich reißen und bluten hören. Sie durfte nicht...

Nackte Sohlen schlugen dumpf über nachgiebigen Boden als sie den Pfad verließ. Lichter schwirrten in wildem Tanz durch die Luft, und die Toten wiesen ihr den Weg.



Gwendolin wachte auf einen Schlag auf, ohne zu schreien. Sie öffnete einfach die Augen und starrte zur vom Rauch verfärbten Küchendecke, so lange, bis sich der eigene Atem wieder beruhigt hatte.
Zwielicht...die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Nacht jedoch längst auf dem Rückzug. Ein Blick durch den Türbogen in den Vorraum ließ die schlafende Gestalt des Leibeigenen erkennen, in seiner eigenen Ecke zusammengerollt. Im ganzen Haus war nichts zu hören.
Als wäre gestern nichts passiert, auch bloß ein Alptraum gewesen. Das Mädchen versuchte es sich einen Moment lang auszumalen, es wäre ganz genau so, doch die wackligen Beine als sie aufstand, und die nagende Müdigkeit, die doch keinen Schlaf mehr gestattete, gemahnten zu deutlich an die viel zu kurze Ruhe - und den Grund dafür. Verschenkt. Ein letztes Spielzeug für einen alten, verrückten Mann.

Sie schauderte, kratzte sich einmal schmerzlich fest über die Oberarme und trottete dann auf weichen Knien in den halbdunklen Innenhof hinaus, das Wasserfass ansteuernd. Ihr Rücken tat auch noch weh... nein, das würde in keinerlei hinsicht ein schöner Tag werden.
Kaltes Wasser im Gesicht und an den Gliedern, die Kälte kroch tief unter die Haut, tat jedoch kaum viel dazu, sie aufzurütteln. Sie nahm es hin, zum Haus zurückkehrend um ihre Körbe für das Feld bereit zu machen. Es galt die Tiere zu füttern, den Weizen zu gießen...später wollte Greta noch Gerstenschrot haben.
Irgendwie drehte die Welt sich weiter, ganz ohne sich für den Abgrund vor ihren Füßen zu interessieren.

Die Stadt raste heute an ihr vorbei, als sie über die Straßen trottete. Aus dem Wirtshaus um die Ecke kam die Wirtin hervor, wollte ihr ein Körbchen in die Hand drücken... Gwen verstand nicht wieso, verstand nichts von dem Gerede der Frau, während jene mit diesem Körbchen vor ihrer Nase herumwedelte. Worte waren heute schwer zu verstehen. Wahrscheinlich wollte man ihr bloß etwas verkaufen. Sie zog jedenfalls ohne weiter, das Tavernenweib fahrig umrundend, flog durch endlos scheinende Straßen, bis eine Regung den Blick einfing.
Nein, keine Regung...bloß eine dreckige Fensterscheibe, aus der ihr Spiegelbild herausstarrte. Nun, zumindest das, wovon man allenthalben sagte, es sei ihr Spiegelbild: Sie selbst konnte nicht glauben, dass das verzogene, blutige Ding hinter dem Glas ihr eigenes Spiegelbild sein sollte. Es gruselte sie davor.
Heute jedoch machte das Ding keine Faxen, es starrte sie bloß stumm an, und Gwen hielt den Blick, zumindest länger als sonst. Genau so lange, um zu verstehen, was da noch hinter dem Glas lag. Plötzlich hielt das Rasen der Stadt an.

Die Feldkörbe fielen ihr aus der Hand als sie sich halb umwandte und den kleinen Laden betrat, die dürren Finger um jenen einen Schilling in der Tasche geschlossen, den Onkel Gaius ihr geschenkt hatte. Alles, was sie an Geld besaß... es würde reichen müssen.

"Was kann man für euch tun, Fräulein?"

Das Misstrauen war deutlich in der müden Stimme des Inhabers zu hören - den Haaren nach zu urteilen, war er eben erst aus dem Bett gekrochen. Gwen wandte sich herum und deutete mit der Linken zur Auslage.

"Was wollt ihr für den hier?"

Die eigene Stimme klang raschelnd leise in ihren Ohren, der Mann schien sie jedoch gut genug zu verstehen.

"Fünf Schilling...Fräulein."

"Ich habe nur einen."

Die Lippen des Händlers krümmten sich etwas, abfällig vielleicht, ehe er sich träge umblickte und schließlich halb von ihr abwandte. Gleich würde er sie herausschicken...

"Hier. Den könnt ihr für einen Schilling haben. Nicht das neueste Stück aber... euch reicht das womöglich."

Die junge Frau blinzelte zum emporgehaltenen, kleinen Dolch in der Hand des Trödlers. Die Klinge setzte am Übergang zum schmucklosen Heft bereits Rost an, schien jedoch noch scharf.
Sie lächelte versonnen und hob den Blick.

"Oh... das ist nicht für mich. Das wird ein Geschenk."
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
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Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
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RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
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RE: Ganz und gar - von Godwin Ganter - 05.08.2013, 15:19
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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