Ganz und gar
#24
Sie stand noch lange im Dunkeln da, blinzelte nachtblind zwischen den Wänden umher und horchte in die Stille des Hauses hinein, bei jedem zufälligen Knirschen oder Knarzen nervös aufschreckend. Vielleicht würde man sie ja doch gleich holen. Vielleicht käme gleich jemand zurück und riefe sie mit sich. Nach unten, wo es Licht gab und Stimmen und interessante Sachen zu erfahren. Es ging da unten um die Zeitung, hatte Lisbeth gesagt. Sie half doch auch bei der Zeitung. Onkel Gaius hatte sie sogar bei Gesprächen mitschreiben lassen. Sie war doch auch... oder nicht? Vielleicht nicht mehr. Vielleicht brauchte man sie nicht mehr.
Gwendolin stand trotzdem da, wartete und wartete, auf das Prasseln des Regens und die Stille im Inneren des Hauses lauschend. Erst als verabschiedende Stimmen draußen aufklangen und Schritte auf der Treppe zu den Schlafräumen nebenan knarzten sah sie endgültig ein, dass niemand sie holen würde.

Sie schluckte es still herunter, gab sich einen Ruck und holte langsam neue Kerzen aus dem Vorratsregal – deswegen war sie schließlich gekommen. Vorhin. Vor Urzeiten. Dann ging sie noch eine Weile in den nun endgültig schlafenden Häusern um, tauschte Kerzenstummel gegen frische Wachsstängel. Sie selbst brauchte kein Licht dafür, kannte die Route und die Stellen, an welchen Kerzenständer im Anwesen standen, gut genug.
Allein die Schlafräume wurden ausgelassen: Gwen musste schon vor einiger Zeit verwundert feststellen, dass die Leute aus irgendeinem Grund gereizt reagierten, wenn sie Nachts hereinkam um ihre Kerzen zu wechseln. Einmal war sogar ein Nachttopf nach ihr geworfen worden. Dabei hatte sie es jedes Mal nur gut gemeint, und sich auch möglichst leise verhalten, die Kerzen sogar beim Einstecken mit einem Messerchen angespitzt, damit sie still und mühelos in die Halterungen glitten. Das mit dem Messer war jedoch plötzlich auch ein Stein des Anstoßes gewesen – man nahm es ihr nach dem Nachttopfvorfall weg, und so war das Ende vom Lied, dass sie sich nur noch tagsüber der Beleuchtung der Schlafräume annahm.
Was wiederum völlig widersinnig erschien, denn wen interessierten Kerzen tagsüber schon? Der Tag war eine ganz und gar falsche Zeit zum Kerzenwechseln. Aber manchmal waren die Leute komisch im Kopf und sahen das nicht ein, das musste man eben so hinnehmen.
So vor sich hin grübelnd und murmelnd beendete sie ihren Rundgang endlich in der Küche, steckte dort die letzte mitgebrachte, besonders große Kerze in den schweren Leuchter auf dem Tisch, und verharrte dann wieder mit den Taschen voller Wachsstummel. Die galt es noch wegzubringen – heimliches Entsorgen im Kanal eignete sich bekanntermaßen besonders gut, wenn man nicht im Regen zur Müllgrube laufen wollte – und dann war sie eigentlich fertig und würde sich auch hinlegen können.


Einige Minuten später erwischte Gwen sich dabei, wie sie doch zur Müllgrube ging, und das nicht auf dem kürzesten Weg. Die Straßen waren wie leergefegt, was wenig verwundern mochte: Klammer Regen, der einem in den Kragen fiel und nicht minder klammer Wind, der überall da unter die Kleidung kroch wo der Regen nicht hinkam, ließen kaum Gründe offen, mitten in der Nacht noch unterwegs zu sein. Außer man ging zur Müllgrube. Auf dem möglichst langen Weg.
Weil... weil... im Grunde weil sie sich nicht schlafen legen mochte, so musste das Mädchen es sich eingestehen. Es war viel, viel zu gruselig in der Nacht aus einem Alptraum aufzuschrecken, ohne dass bereits jemand an ihrem Ohr flüsterte, dass sie bloß schlecht geträumt hätte. Viel zu gruselig, mit klopfendem Herzen allein in der Küche zu sitzen, zu grübeln, ob es nun ein Traum war oder nicht, und dann noch einmal lange auf bekannte Schritte zu warten, die doch nicht kamen.
Njal hatte zu tun, hieß es. Hatte was Wichtiges zu tun. Man sagte ihr nicht, was, aber am Ende war er nicht da – und sie begann sich wieder vor dem Schlafen zu fürchten und vor blutigen Schatten, die aus leeren Ecken krochen und von niemandem mehr vertrieben wurden.
Also wanderte sie Nachts herum, bis Kälte und Müdigkeit sie doch nach Hause treiben würden. Sie hätte auch gern jemanden besucht, aber Garion hatte sie in Wochen nicht gesehen, die Zuflucht gab es nicht mehr, und wo man Deagen suchten sollte, wusste sie auch nicht. Zu jemand Anderem traute sie sich in dieser Zeit nicht hin: Nachher würden bloß wieder Nachttöpfe fliegen.
Es blieb sich nur klamm zu wundern, wie die Leute plötzlich alle verschwunden waren. Als hätten die Untoten sie geholt. Aber vielleicht war es auch so? Vielleicht hatte man es ihr nur nicht gesagt, damit sie nicht durchdrehte und weiter jemand zum Wäsche machen und Kerzen wechseln da war?

Gwen schnappte nach Luft bei diesem Gedanken, der sich so plötzlich wie tückisch herangeschlichen hatte und nun seinen vollen Schrecken im regennassen Köpfchen entfaltete. Sie hätte beinah erschrocken aufgeschrieen – zum Glück ging das aber in kratzendem Husten unter, kaum, dass der Schwall kühler Herbstluft in ihrer Kehle ankam.
Zum Glück...besser Husten als Schreien, wurde ihr bald darauf klar, als sie sich schwer atmend an die nächstbeste Wand drückte, wartend, dass sich das Zittern der Knie wieder beruhigte. Schreien hätte doch recht peinlich enden können.
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Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
Trommeln am Fluss - von Gwendolin Grünthal - 16.05.2013, 01:14
Von Toten - von Gwendolin Grünthal - 21.05.2013, 18:23
Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 30.05.2013, 19:23
Schuld - von Gwendolin Grünthal - 04.06.2013, 17:07
Sehen und gesehen werden - von Gwendolin Grünthal - 10.06.2013, 13:41
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
Stille - von Gwendolin Grünthal - 15.06.2013, 20:04
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RE: Ganz und gar - von Guntram Ganter - 29.07.2013, 11:24
RE: Ganz und gar - von Godwin Ganter - 05.08.2013, 15:19
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RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
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