Ganz und gar
#23
Es war lange her, dass die Dunkelheit da gewesen war. Eigentlich das letzte Mal in ihrer Kindheit, als sie sämtliches Begreifen, sämtliche Erinnerungen an das geschluckt hatte, was Gwendolin am Ende in das Haus Ganter geführt hatte. Auch danach war das Dunkel noch da gewesen, durchbrochen von vagen Momenten der Klarheit, fahrigen Erinnerungen an ein karges Zimmer, an erst neblige, dann zunehmend bekannte Gesichter, an den schwarzen Schopf Njals, der sich seit damals kaum verändert zu haben schien.
Und je weiter ihre Gedanken in den Jahren voranrückten, desto weniger Dunkelheit war da, desto mehr Erinnerungen nahmen ihren Platz ein. In den letzten Jahren kam das Dunkel höchstens in ihren Alpträumen einmal vor – und auch da selten, denn schließlich gab es ganz andere Dinge in den Träumen des Mädchens, vor denen es sich zu fürchten galt.
Kurzum: Es war so lange her, dass sie im Dunkeln gewandelt hatte, dass Gwendolin sich kaum daran erinnerte, wie es eigentlich war. Bis heute.


Sie hätte es ja eigentlich erwarten müssen. Die Geister, die Untoten, der Gestank der Kryptagänge, Menschenreste, auf den Tempelstufen verteilt, hallende Schritte eines dunklen Reiters in ihrem Haus – die Ereignisse der letzten Wochen hatten sich hoch und höher aufgetürmt. So hoch, dass sie sich in den letzten Tagen gar nicht mehr sicher war, was noch geträumt und was echt war, und sich irgendwann hauptsächlich mit der Sorge getragen hatte, sich diese Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Sie wollte ja nicht wieder eingesperrt werden.

Dummerweise war es mit aufgetürmten Problemen ähnlich wie mit allem, was man auftürmte: Irgendwann brach der Haufen über einem zusammen. Ihr Begreifen pfiff noch einige Male aus dem letzten Loch, als Marcus durchdrehte. Dann noch ein Mal, als es dem Patriarchen die Lüge um seinen Hermelin aufzutischen galt. Und ein allerletztes Mal, schrill und hoch, als ihre baldige Ehe mit dem Schlächter endgültig bestätigt wurde.
Sie erinnerte sich noch, in die Gesichter der Anwesenden gestarrt zu haben, die mit ganz Anderem beschäftigt blieben, verschwammen, und schließlich verschwanden. Sie erinnerte sich an einen grotesken Tanz und dass sie sogar mit jemandem geredet hatte – die Götter mochten wissen, mit wem genau, sie hätte ihn bloß gern tot gesehen.

Danach hatte Stille geherrscht, und die Dunkelheit folgte ihr auf dem Fuße, ließ nur noch kleine Inseln von Bewusstsein zu, die keine Verbindung mehr zueinander zu haben schienen.

....

Sie setzte ein Hermelin in Godwins Arbeitszimmer. Hermes.... echt oder auch nicht, das hatte gar keine Bedeutung. Sie setzte das Hermelin hinein, weil es da am richtigen Platz war.

Dunkelheit.

Sie stand in der Küche vor dem großen Eintopfkessel, in der Hand ein Fläschchen. Das Fläschchen gehörte Onkel Gaius.
„Ein Tropfen zu viel davon, und ich wache nie mehr auf.“
Sie erinnerte sich zum Glück noch daran, dass Njal aus dem Kessel essen könnte, und kippte den Inhalt doch nicht hinein.


Dunkelheit.

Sie klopfte an der Türe der Zuflucht, eine ganze Weile, bis ihr klar wurde, dass das Haus längst verlassen war.

Dunkelheit.

Menschen beteten am Tempel Mithras'. Sie beteten falsch, und die Toten würden wieder über sie kommen. Die Toten waren nie wirklich fort – wenn man genau hinsah, sah man ihre Schemen in der Menge der Betenden stehen.

Dunkelheit.

Die Stadt war leer, und sie irrte durch die Gassen auf der Suche nach dem Leibeigenen. Sie war sich nicht sicher, ob sie in den richtigen Gassen suchte und ließ es irgendwann sein.

Dunkelheit.

Ein Schrein. Man musste etwas verschenken, also leerte sie ihre Taschen und legte alles, was sie darin fand, als Opfer ab. Ihre Finger zitternden grässlich, und ließen erst den Stift, dann die wenigen Heller auf den Boden fallen. Das war ärgerlich. Kalte Erde sammelte sich unter den Fingernägeln, als sie die Sachen immer wieder aufhob.

Dunkelheit.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Ganz und gar - von Gwendolin Grünthal - 11.05.2013, 19:39
Trommeln am Fluss - von Gwendolin Grünthal - 16.05.2013, 01:14
Von Toten - von Gwendolin Grünthal - 21.05.2013, 18:23
Von Lebenden - von Gwendolin Grünthal - 27.05.2013, 17:01
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 30.05.2013, 19:23
Schuld - von Gwendolin Grünthal - 04.06.2013, 17:07
Sehen und gesehen werden - von Gwendolin Grünthal - 10.06.2013, 13:41
RE: Ganz und gar! Oder doch lieber blutig? - von Galaria Ganter - 10.06.2013, 15:35
Stille - von Gwendolin Grünthal - 15.06.2013, 20:04
Glühwürmchen - von Gwendolin Grünthal - 22.06.2013, 14:25
Mohn und Schmetterlinge - von Gwendolin Grünthal - 04.07.2013, 16:52
Von Kosten und Wert - von Gwendolin Grünthal - 12.07.2013, 16:23
Das ungeschriebene Wort - von Gwendolin Grünthal - 21.07.2013, 15:43
RE: Ganz und gar - von Guntram Ganter - 29.07.2013, 11:24
RE: Ganz und gar - von Godwin Ganter - 05.08.2013, 15:19
Vom Wesen der Schweine - von Gwendolin Grünthal - 07.08.2013, 15:48
Vor der Tür - von Gwendolin Grünthal - 15.08.2013, 19:35
Des Bastards neue Kleider - von Gwendolin Grünthal - 03.09.2013, 19:51
RE: Ganz und gar - von Galaria Ganter - 06.09.2013, 18:42
Familienangelegenheiten - von Gwendolin Grünthal - 18.09.2013, 16:53
Galates - von Gwendolin Grünthal - 24.10.2013, 16:51
Das Mädchen mit den Kerzen - von Gwendolin Grünthal - 05.11.2013, 13:29
Schritte in der Dunkelheit - von Teranas - 06.05.2014, 00:06
Mabon - von Gwendolin Grünthal - 13.07.2014, 14:22



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste