Von der Kunst des Gefundenwerdens
#8


Schneefall und das Ende der Flucht


Die Türe zu einem festen Wohnsitz zu öffnen war ein komplett anderes Gefühl, als den Bretterverschlag vor einem notdürftigen Unterschlupf auf irgendeinem Dach oder am Ende einer dunklen Gasse zur Seite zu stemmen. Die Scharniere quietschen nur leise, das Holz splitterte kaum und eine umarmende Wärme strömte sogleich wie ein herzliches Willkommen über die Schwelle. Die dunklen Räume schwiegen, doch als die Türe wieder ins Schloss fiel, verwandelten sich die wenigen Zimmer in ein stilles Königreich, dass seine Herrscherin vermisst hatte.
Ekatalin lehnte sich an die geschlossene Tür und starrte in das Zwielicht. Selbst durch ihre dicke Kleidung hindurch spürte sie die Kühle der Tür, der Trennwand zwischen ihrem Königreich und der Welt da draußen.

Sie war spazieren gegangen, trotz der Dunkelheit, trotz des Schneefalls und es war ein gutes Gefühl gewesen. Aus den geplanten wenigen Minuten an der frischen Luft wurden erst eine, dann zwei Stunden, und es kümmerte sie nicht im geringsten drei mal an der Bank vorbeizulaufen. Sie war in verschiedene Straßen hinab getaucht um deren eigene, besondere Atmosphäre zu trinken. Der träge Wintereinbruch hatte die hektische Stadt ein wenig beruhigt, den Gestank etwas vertrieben und die aufgestaute Wut der Bewohner sanfter werden lassen.
Die Nacht Löwensteins war ebenfalls still, und oft hatte sie nur ihre eigenen Schritte gehört, ein steter, leiser Takt von Stiefelsohlen auf nassen Pflaster, gelegentlich mit dem Brechen von dünnen Eis kleiner Pfützen ausgeschmückt. Nur selten hatte sie sie einen anderen Passanten gesehen, und selbst die Ratten waren größtenteils von der Straße verschwunden.
Es war tatsächlich so still gewesen, dass ihr jede erhoffte Illusion von Einsamkeit vorenthalten worden war. Die unsteten Schatten ihrer Wahrnehmung hatten sich spottend hinter viel zu kleinen Schneeflocken versteckt, gewisperte, unverständliche Worte waren um den Laternenschein getanzt und hatten all die lauten und ungelenken Gedanken der Diebin mit trägem Witz kommentiert.
Es gab einige Dinge, mit denen sie ungeschickt versucht hatte, den Irrsinn von sich fernzuhalten: Avon, Kennan, Herr Sasz, Sorgen um die Keuche, Sorgen um die Rattenplage, Sorgen über die Gerüchte eines gewaltigen Gifthandels und hundert Kleinigkeiten über all die Dinge die sie so im Laufe der Zeit gehört hatte.
Nur über ihre eigenen Probleme hatte sie nicht nachgedacht. Die Schneeflocken waren zu zart und unschuldig gewesen, um sie mit derartigem Teer zu beschmutzen.

Hier im warmen Haus jedoch schmolzen die Flocken zu klammer Feuchte. Hier gab es kein Draußen, keine wütende, schmutzige Welt, keine kranken und hässlichen Menschen. Hier im warmen Haus wurde die Wirklichkeit auf das Wesentliche reduziert. Rielaye war seit einer geraumen Weile verschwunden, der Wahnsinn war Ekatalins beständiger Begleiter geworden, und nur hier in diesem Haus gab es soetwas wie Sicherheit.
Auch wenn die Diebin nun schon seit einen Monat hier lebte, verspürte sie noch immer etwas Unglauben, ein echtes Heim zu bewohnen. Völlig unerwartet hatte Rielaye ihr das Haus am Eingang zum neuen Hafen präsentiert, sie eingeladen zusammen mit ihr zu leben, und spontan und erfreut hatte die Diebin zugestimmt. Die Sorgen, auffindbar und in gewisser Weise sichtbar zu werden, waren schnell verflogen. Kaum jemand interessierte sich für sie, nicht einmal die direkten Nachbarn. Sie hatte ein winziges Reich geschenkt bekommen, und auch wenn die andere Königin gerade abwesend war, bot es doch Schutz und Trost.
Die Sorge um das Verschwinden ihrer schwarzhaarigen Mitbewohnerin war durchaus präsent, aber bei weitem nicht mehr so durchdringend und dramatisch wie beim Mal zuvor. Sie hatte bereits den Totenbeschwörer und die Keuche überstanden, und so drehten sich die Sorgen vor allem darum, ob Rielaye genug warme Kleidung für die harschen Winternächte hatte.
Ekatalin trat in den düsteren Vorraum, befreite sich von Umhang, Handschuhen und Überwurf, schlüpfte aus den Stiefeln und folgte einem Impuls nach in das große Zimmer. Schreibtisch, Kissen, Bücherregale, Teppiche, Kerzen, Wärme - alltägliche Dinge, die sie vor allem aus den Häusern kannte, die sie früher ausgeraubt hatte. Mit leisen Schritten trat sie an ein Fenster, blickte zur flackernden Laterne auf der anderen Straßenseite und erwischte sich bei einem melancholischem Lächeln.
Allein zu sein war ihr nie fremd gewesen, und nach einigen Jahren hatte sie sich sogar eingebildet die Einsamkeit vorzuziehen. Doch spätestens nachdem sie Rielaye kennengelernt hatte, war dieser Gedanke zerbrochen. Und später hatten die Stimmen in ihrem Kopf jede Möglichkeit auf wahre Einsamkeit verschlungen.
‘Siehst du das, Ssuruhn?’, sprach sie in die Stille des Hauses und deutete auf den dunklen Himmel. ‘Das ist zwar kein Sturm, aber bestimmt erinnert es dich an Zuhause. Schwere, düstere Wolken...’
Niemand antwortete. Ekatalin war die einzige existierende Person im Haus, und es war ihr bewusst. Das Lächeln verzog sich, wurde breiter, greller.
‘Und du, Darjanka? Grigori? Glaubt ihr das Gespenst hinter dem Spiegel würde sich freuen, die gefrorenen Pfützen zu sehen?’
‘Itramin..?’
Geisterhände legten sich auf die Schultern Ekatalins als sie sich bemühte ein aufquellendes Lachen zu unterdrücken. Ein Teil war hysterisch darüber belustigt, mit den eingebildeten Gestalten sprechen zu wollen, ein anderer warnte sie, dass solch ein Lachen in dieser Situation kaum weniger Irrsinnig wirken würde, ein nächster, dass sie so und so niemand sehen konnte, und noch ein anderer freute sich über die tröstende Berührung der Gespenster ihrer Geschichten.
‘Und es macht nicht einmal Sinn mit euch allen zu sprechen! Ich hab’ selbst gesehen, was mit euch geschah, und wenn ihr irgendwo seid, dann gewiss nicht hier bei mir. Mein Herz weint um euch, aber ihr seid nicht hier.’
Der Drang zu lachen verging langsam und mit einiger Mühe wandte sie sich vom Fenster ab. Unwille lenkte die Schritte ziellos durch den Raum, ließ sie die Bücherrücken in ihren Regalen berühren, die Kissen in der Sitzecke zurechtlegen und führte sie schließlich an den Ort, der sie schon den ganzen Tag lang lockte. Es kostete Überwindung, sich auf den Schreibtischstuhl zu setzen, und noch viel mehr die Kerze mit ungeschickten Händen zu entzünden, doch als sie endlich saß und flackerndes Licht einen mittlerweile ansehnlichen Stapel beschriebenen Pergaments erhellte, glaubte sie eine unbestimmte Erleichterung zu empfinden.
Zwei reale und mehrere Gespensteraugenpaare verfolgten ihre Hand, als sie vorsichtig den Federkiel aufhob und die Spitze testete. Sie suchte sich ein unbeschriebenes Blatt, legte es vor sich, und hielt inne. Ein plötzlicher Gedanke zog an ihrer Aufmerksamkeit vorbei. Kurz darauf lehnte sie sich in die Lehne zurück, starrte an die Decke und gab ein leises, überraschtes Lachen von sich.

Es war nur eine kleine Sache, aber dennoch veränderte die Tatsache, dass sie sich nicht mehr verfolgt fühlte einiges.
Sie blickte nach links und rechts, dort wo ihre unsichtbaren Begleiter standen und den Blick überrascht erwiderten. Es waren eingebildete Truggestalten, aber Ekatalin war zum ersten Mal froh darüber, dass es ihre bittere und verfluchte Gabe Gefunden zu werden war, die ihr die Geschichten der Gespenster zugetragen hatte.
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