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Von der Kunst des Gefundenwerdens



Die Scharniere quietschten leise, als Ekatalin das Fenster von außen öffnete. Das Geräusch war zwar nicht sonderlich durchdringend, aber die Einbrecherin verzog dennoch unwillig das Gesicht. Mit eiligen Bewegungen steckte sie den schmalen Metallstift wieder in ihre Gürteltasche, dann schlüpfte sie durch die Öffnung.
Im Haus herrschte Stille. Hinter ihr erklangen noch die Abendrufe der Vögel und das Rauschen der Blätter – doch der kleine Raum war still wie eine leere Kirche. Es war zwar ein wenig wärmer als draußen, aber die geduckten, gemauerten Wände fraßen das spärliche Abendlicht von draußen auf, bis nur noch Bedrückung übrig blieb. Schatten wanderten zwischen alten Tischbeinen und leeren Schränken.
Ekatalin begann sich zu orientieren. Sie befand sich im ersten Stock des abgelegenen Herrenhauses in einem kleinen Abstellraum. Hinter der Tür würde sie ein Flur erwarten, Treppen ins Erdgeschoss am Ende, drei Zimmer zu ihrer Linken, das Schlafzimmer und eine kleine Bibliothek zu ihrer Rechten. Sowohl das Schlafzimmer als auch das zweite und dritte Zimmer zu ihrer Linken hatten einen eigenen Balkonzugang, der als Fluchtweg dienen könnte. Im Erdgeschoss fände sie einen Ausgang in der Küche, den Hauptausgang und diverse Fenster, die jedoch recht stabil ausgesehen hatten. Und hinter ihr war das Fenster zum Vordach, praktischerweise direkt unter den Ästen eines Walnussbaumes.
Sie öffnete die Tür zum Flur einen Spaltweit und lauschte nach irgendwelchen Geräuschen, die sich von den vagen Lauten der Außenwelt unterschieden.

Niemand da seit heute Mittag. Vielleicht irgendein Besuch außerhalb. Aber nicht mal irgendwelche Diener oder Leibeigene? Der Gedanke hing wie ein übel riechender Vorhang vor ihren Überlegungen, doch sie schob ihn seit Stunden immer wieder weg. Ruhiges Land, wenig Sorgen… Leichtsinnig.
Doch trotz ihres Einredens – die Stille war tief. Sie kannte die Stille der Häuser, deren Einwohner gerade nicht da waren. Dann erschien es, als würden die Mauern lediglich schlummern, in Vorfreude auf die Rückkehr der Herren. Nicht hier: Diese Mauern schwiegen wie ein Grab.
Sie trat über die Schwelle, verzog unwillkürlich die Lippen in vagem Neid über die geschmackvolle Einrichtung und ging leise aber zielstrebig zu der Tür des Schlafzimmers. Nur ein Funke Selbstzufriedenheit flackerte auf, als sich das Innere des ersten Stockes tatsächlich so aufteilte, wie sie das aus ihren verschiedenen Beobachtungswinkeln von außen erahnt hatte.
Die hellen Holzdielen unter den Teppichen am Boden knarrten nicht, die niedrigen Kommoden waren staubfrei und das wenige Licht wurde mehrfach zwischen mehreren Spiegeln hin und her geworfen. Der Herr des Hauses hatte sowohl Stil als auch Geld.
Die Tür zum Schlafzimmer war ohne Schwierigkeiten zu öffnen und trübes Licht erhellte den Flur. Sie wollte sogleich eintreten, doch der Luftzug aus dem geräumigen Zimmer ließ sie erstarren.
Kühle, klamme Luft, ein muffiger Geruch und eine Stille die beinahe zu berühren war wehten an ihr vorbei, und trotz der Einrichtung flackerte erneut das Bild einer Ruhestätte auf. Ekatalin sah ein großes Himmelsbett, Schränke, Kommoden, einen Kamin voller Asche, helle Vorhänge zurückgezogen neben den Fenstern, einen Sekretär voller Pergament und Büchern. Und sie sah ein klein wenig Chaos.
Auf dem Boden waren diverse Schmuckstücke verteilt, Ringe, Anhänger, Amulette – im Abendlicht glimmende Verlockung für das Herz der Diebin. Sie trat einen unwillkürlichen Schritt in das Zimmer, bevor die Vernunft sie wieder zum Stillstand brachte. Sie wusste genau, weshalb sie hier war und diese Unordnung war für ihren Auftrag ein plötzlicher Schlag in die Nieren. Unwohlsein, das über die augenblickliche Situation hinausging, streckte die Finger nach ihr aus und erinnerte sie daran, auf welche ungewöhnliche Art ihr Auftrage zustande gekommen war.

Ihr Auftragsgeber hatte sein bestes getan, seine füllige Gestalt unter einem Berg aus Kleidung zu verbergen, hatte sogar sein Gesicht mit einer tiefen Kapuze verdunkelt, als seien sie in Ravinsthal, wo Diskretion in ihren Kreisen zu gutem Anstand gehörte. Er beschrieb genau, wo sie den gesuchten Rubinstein finden würde, im Schlafzimmer des Herrenhauses, eine schwere Schatulle in der obersten Schublade der Kommode neben der Tür. Anderer Schmuck als Ablenkung in der Schatulle, ein einfacher Mechanismus mit einer Giftnadel, wenn man den doppelten Boden ohne Bedacht herausnahm und eine Beschreibung vom Aussehen des Zielobjektes. Drei Gulden bei erfolgreicher Übergabe.
Der dicke Mann schwitzte unaufhörlich bei seinen Ausführungen und wischte sich ununterbrochen mit einem Tuch über die fahle Haut, die hier und da sichtbar wurde.
Und obwohl das südliche Servano weit von ihrer Heimat Ravinsthal entfernt war – der Mann hatte sie gefunden wie eine Falke eine kleine Maus zwischen hohen Gräsern. Unter seiner Kapuze erahnte sie stechende Augen.
All ihre Bemühungen unerkannt zu bleiben wurden mit seinen Worten weggewischt, als wäre es seine Freizeitbeschäftigung, Flüchtigen die Hoffnung zu nehmen.

'Kat, ich habe einen Auftrag für dich.'

Die kalte Stimme des Mannes in ihrem Kopf ließ nicht zum ersten Mal Schauer ihren Rücken herunter laufen. Wären die drei Gulden Belohnung nicht deutlich mehr gewesen, als sie früher sonst in einem halben Jahr verdient hatte, hätte sie niemals zugestimmt. Etwas Unnatürliches haftete der ganzen Sache an, nicht zuletzt, dass er sie einfach so gefunden hatte, nach Monaten der Flucht und des Versteckens.
Sie fand die beschriebene Schatulle auf der Kommode, jedoch zerschmettert und zerbrochen. Sie sah den herausgerissenen doppelten Boden, konnte die Überreste der Falle ausmachen – und sie war sich sicher, dass der gesuchte Rubin nicht mehr an diesem Ort war. Ein flaues Gefühl reizte ihre Kehle und alles in ihr drängte auf sofortige Flucht. Sie trat einen Schritt zurück und ihre Knie versagten ihr beinahe den Dienst, als sie unerwartet auf einen kleinen, harten Gegenstand trat. Sie benötigte mehrere schwere Atemzüge, bevor sie die Kraft aufbringen konnte, die aufsteigende Panik niederzukämpfen. Sie blickte zu Boden, wurde von einem warmen, silbergefassten gelben Schimmern begrüßt und ohne wirklich nachzudenken bückte sie sich, um den fingernagelgroßen Schmuckstein aufzuheben.
In ihren Augenwinkeln sah sie unter dem Bett hindurch auf der anderen Seite die Umrisse einer Gestalt am Boden liegen.
Kälte griff nach ihrem Herz. Sie erhob sich, trat mechanische Schritte um das Bett herum und sah.
Sie hatte den Tod bereits in einigen Formen gesehen, doch mit einem friedlichen oder gewaltsamen Ende eines Lebens hatte das hier nichts zu tun. Es war kein Blut zu sehen, keine Verletzung – der ältere Mann lag still am Boden und nur die erstarrten Züge verrieten von der unvorstellbaren, unmenschlichen Qual, die er erlitten haben musste.
Ekatalin fühlte sich fliehen. Ihre Hand umklammerte den geraubten Bernstein als wollte sie ihn in ihre Handfläche pressen.



Drei Wochen später, Gegenwart

Löwenstein war ein ungemütlicher Ort, wenn es regnete. Es war zwar nicht schrecklich kalt, doch klamme Kleidung, frischer Wind und ständig neue Schauer taten genug, um jedermanns Laune zu vergiften.
Es war später Nachmittag und die Menschen beendeten ihre Arbeiten, fluchten über das Wetter, das Essen, der Mangel an Alkohol, die Keuche, die Armut. Von dem unglücklichen Volk merke man jedoch an diesem Ort nicht allzu viel, denn wer im alten Hafen unterwegs war, hatte zumeist dringlichere Sorgen.
Das Holz der Gebäude war alt und vom Seewind durchweicht und so allgegenwärtig, dass fauliges, salziges Holz den Geruch des Viertels dominierte. Abfälle und ausgekippte Nachttöpfe taten ihr Übriges, um den Eindruck eines miesen Viertels zu vervollständigen. Das hier das Nest einer brodelnden Unterwelt zu finden war, hätte beinahe nebensächlich für diesen Eindruck sein können.
Seit etwas mehr als einer Woche hielt sich Ekatalin nun bereits in Löwenstein auf und nichts deutete darauf hin, sie könnte hier glücklich werden. Sie war sich jedoch bewusst, das viele der aktuellen Notlagen von der Keuche stammten, daher war sie bereit, ein wenig länger abzuwarten.
Zudem hatte sie hier tatsächlich jemanden kennen gelernt, der ihr nicht unsympathisch war. Vages Wohlbefinden drängte die schlechte Laune davon, als sie sich einige Momente lang an Kennan erinnerte. Unglücklicherweise war er nicht der einzige, den sie kennen gelernt hatte, doch über Marean wollte sie keine Zeit auch nur in Gedanken verschwenden. Immerhin hatten die beiden den kalten Horror vertrieben, der sie bis zu der Stadt hin im Schlaf verfolgt hatte. Es ging ihr mittlerweile wieder so gut, dass sie sogar ein wenig Hoffnung geschöpft hatte, irgendwann zur Ruhe zu kommen.
Doch dafür zuallererst musste sie dafür sorgen, dass sie eine Geldquelle fand. Sie war auf dem Weg zu einer Taverne, die sie vor ein paar Tagen im alten Hafen entdeckt hatte.
Sie wusste nicht viel über das innere funktionieren der Gesellschaft von Löwenstein, aber mit ihren Gaben würde sie laut diversen, wenig schmeichelhaften Gerüchte wohl am besten hier im alten Hafen ein Dasein anfangen können.
Theoretisch gäbe es sicher genug Gelegenheiten, auf eigene Faust etwas aufzuziehen, aber sie glaubte nicht einen Herzschlag lang daran, dass Freiberufler in irgendeiner Weise gerne gesehen waren. Und da sie im Grunde nur ein halbwegs ruhiges Leben mit einem gelegentlichen Diebstahl vor Augen hatte, war der Gedanke, irgendwelchen Hauptmännern der Unterwelt auf die Füße zu treten regelrecht unsinnig. Also musste sie irgendwie Anschluss finden, was wohl am besten durch vorsichtige Präsenz geschehen würde. Sie hatte die vage Befürchtung, dass sie zu sauber oder gepflegt erschien, um als Dieb ernst genommen zu werden, deshalb hatte sie sich Mühe gegeben möglichst abgerissen zu erscheinen. Sie hatte die dunkelroten Haare behelfsmäßig mit einem Messer schief zurück geschnitten, sie sorgfältig in Unordnung gebracht und sich mit Ruß Schmutz ins Gesicht gerieben. Ein Blick in eine Pfütze am Wegesrand hatte sie halbwegs zufrieden gestellt, aber die Gefahr, dass sie jemand aufgriff und in ein billiges Bordell steckte war natürlich nie ganz gebannt. Sie wusste sich zwar ein wenig zu wehren, aber zum einen war sie trotz allem nur eine nicht sonderlich starke, junge Frau, zum anderen wollte sie Aufregung vermeiden.
Die Mischung aus halbwegs neuen Verschlägen und Unterschlüpfen und alten, abbruchreifen Lagerhallen und Werftgebäuden gaben dem Viertel eine ganz eigene Art von Unübersichtlichkeit – zum einen konnte man sich leicht an herausstehenden Gebäuden orientieren, zum anderen waren die Wege dorthin zum Teil so verwinkelt, dass man am besten umkehrte und sich einen komplett anderen Weg suchte.
Es wunderte Ekatalin daher nicht sonderlich, dass sie plötzlich in einer Sackgasse stand, deren Ende aus einer wenig vertrauenserweckenden Wand aus altem Holzdielen bestand, durch deren Spalten sie diversen Unrat erkennen konnte. Sie schnaufte missmutig durch und wandte sich wieder um, um einen neuen Weg zu suchen.
Ein Mann versperrte ihren Weg am Ausgang der Gasse. Dicklich, braune, kurze Haare, Halbglatze, gerötete Wangen auf heller Haut. Er wischte sich mit einem nassen Tuch vergeblich über die hohe Stirn, während die freie Hand auf seinen braunen, einfachen Kleidern über der Brust ruhte, als wollte er ein rasendes Herz beruhigen. Wie eine kalte Hand griff Unwohlsein nach den Gedanken Ekatalins.
'Entschuldigt, Entschuldigt, bitte, ich bin nicht so schnell, dass ich euch ohne weiteres einholen könnte.' sprach der Mann mit einer Stimme, die von Anstrengung durchsetzt war.
Mit schweren Atemzügen setzte er sich in Bewegung, und Schritte, die zu leicht für einen Mann seiner Statur wirkten und keinerlei Anstrengung verrieten brachten ihn näher. Ungewissheit flackerte in der Diebin auf, doch sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
'Puuuhhh, dieser Regen macht das alles nicht besser. He, ihr braucht keine Angst zu haben, ich will nur kurz mit euch reden.'
'Was wollt ihr von mir?' Ekatalin brachte nur wenig Freundlichkeit auf, doch für den Moment blieb sie an Ort und Stelle.
'Nun…' fing der Mann an, bevor die unbetuchte, beringte Hand über seine breiten Züge strich, um Regen oder Schweiß zu entfernen. 'Ich habe ein kleines Geschäft vorzuschlagen.'
Der Mann machte keinen sonderlich bedrohlichen Eindruck, aber seine Gestalt, seine Stimme, seine Art sich die Stirn zu wischen – Erinnerungen an ihren unheimlichen Auftragsgeber an jenem Tag, an die Stille des Herrenhauses und an den schrecklichen, schrecklichen Ausdruck der Leiche flackerten ungebeten auf.
'Ich weiß,' fuhr der Mann nun mit etwas ruhigeren Atemzügen fort, 'dass ihr im Besitz eines hübschen Edelsteines seid, den ich gerne erwerben würde – und ich würde sogar deutlich mehr zahlen, als ihr hier bei einem dieser Schmuckdiebe in ihren Läden erhalten würdet. Oh, ganz nebenbei -' er hustete kurz, trat einen Schritt näher, lächelte breit und unschuldig und streckte die Arme aus um seine leeren, breiten Hände zu zeigen, 'Mein Name ist Rotander Gallmann. Erfreut euch kennenzulernen.'
'Ähm.' Ekatalin wusste nicht, was sie sagen sollte. Im ersten Moment herrschte Leere in ihrem Kopf, bevor sich misstrauische Gedanken überschlugen. Woher weiß er von dem Stein. Ich habe den Stein nicht mehr. Wieso spricht er mich hier an?
Sie musste ihn allzu misstrauisch angestarrt haben, denn Rotander wischte sich mit einem sorgenvollen Ausdruck über die Stirn, bevor er überrascht einen kleinen Schritt zurückwich.
'Du bist Kat! Verdamm’ mich, du siehst so abgerissen aus, dass ich dich nicht erkannt habe!' Seine Stimme klang fröhlich überrascht und nicht einmal der Inhalt der Worte trübte dies, doch genauso gut hätte er einen Dolch in das Herz der Diebin rammen können. Er ist es. Er ist es. Er ist es. Er hat mich schon wieder gefunden.
Sie wich zurück, unstete Schritte, bis sie von der Bretterwand im Rücken aufgehalten wurde.
'Aber, aber, Kat. Keine Angst. Ich bin nicht böse wegen der Sache neulich. Ich habe gesehen was passiert ist, und da konntest du sicher nichts dafür. Das war einfach ein unvorhergesehenes Missgeschick. Ich wäre sicherlich genauso davongerannt - wie ein Junge, der die Hosen voll hat.' Das breite Mondlächeln in seinen Zügen wurde immer breiter und gewann etwas dazu, das kein Mensch mehr fröhlich nennen würde. Im Gegensatz zu seinen Zügen lächelten seine Augen nicht – kalte, harte Berechnung formten einen brutalen Kontrast zu seinen Zügen. Ekatalin verspürte dumpfe Übelkeit, die über ihre momentane Furcht noch überstieg.
'Aaaaaber, Kat,' sprach Rotander weiter, 'wie kommt es, dass gerade du diesen Bernstein bei dir hast? Und warum ist das Zeichen jetzt so schwach? Das verstehe ich nicht, und ich bin nicht froh über Dinge, die ich nicht verstehe. Kat. Hm, hm.. Hm, hm.' Der Kopf des Mannes legte sich zur Seite, Augenbrauen stark erhoben, als wollte er einen tadelnden Blick nachahmen. Ekatalin sah nur Bedrohung. Sie suchte nach einem Ausweg, doch der einzige Fluchtweg wurde von dem dicken Mann versperrt. Sie erwog ihn anzugreifen, doch der Gedanke ihn mit ihrem Dolch anzugreifen erschien ihr hysterisch lächerlich. Ein kleiner Teil in ihren rasenden Gedanken beharrte darauf, dass etwas Unnatürliches im Spiel sei, und sie besser anfangen sollte zu beten, wenn sie gerettet werden wollte, doch stärker werdende Panik ertränkte diesen Gedanken wie eine Flutwelle kleine Hunde.
'Ich weiß es nicht, ich habe ihn nicht mehr!' spie Ekatalin hervor, bevor ihr die Gefahr dieser Botschaft klar wurde. Ich darf ihn nicht enttäuschen! Wenn er wütend wird... Der Gesichtsausdruck des toten Mannes flackerte erneut vor ihren Augen auf. Ihre Kehle schmerzte, als sie hastig Worte anhängte. 'Aber ich kann ihn holen, ich habe ihn in meinem Zimmer gelassen!'
Die gehobenen Augenbrauen des Mannes senkten sich nicht. Stattdessen erschien sein Lächeln wieder, beinahe sanft, und er nickte zufrieden.
'Wunderbar. Wunderbar, Kat. Ich wusste, dass wir gut zusammenarbeiten. Ich bezahle dich sogar, wenn du mir den Stein gibst. Drei Gulden, wie beim letzten Mal. Wie schön. Es ist erfreulich, wenn Geschäfte so gut verlaufen, findest du nicht?' Sein Lächeln gewann wieder an Kraft und sein rundes, bleiches Gesicht strahlte wie ein Mond, der Blut und Mord gerochen hatte.
Ekatalin starrte ihn nur an, unfähig ihre verworrenen, panischen Gedanken in Worte zu fassen. Ein dumpfes Gefühl an ihrem Hinterkopf gewann an Schärfe, bevor es wieder verebbte. Ihre Hände umklammerten faulige Holzplanken und übel riechende Feuchtigkeit tropfte von ihren Fingern.
Rotander verneigte sich abrupt, vagen Spott in den lächelnden Zügen, bevor er sich umwandte und gemächlich davonging. Bevor er die Gasse verließ, blieb er noch einmal stehen und warf ihr noch wie nebensächlich einige Worte hin.
'Keine Sorge wegen der Übergabe. Ich weiß nun, wie ich dich finden kann; ich komme also irgendwann demnächst vorbei. Du musst mir dann aber auch erklären, wieso gerade du den Stein hast. Das ist ungewöhnlich. Ungewöhnlich. Schönen Abend, Kat.'

Sie wusste nicht, wie lange sie zusammengesunken an den Brettern lehnte. Die Panik war vergangen und hatte einen dumpfen Geschmack von Bedrohung hinterlassen.
Die Forderung nach dem Stein stellte Ekatalin vor ein recht großes Problem. Sie hatte den Stein vor zwei Tagen Marean gegeben, damit er ihn verkaufen konnte. Sie brauchten dringend Geld um zu überleben, und sie hatte keine Verwendung für den Bernstein gehabt. Sie hoffte inständig, dass er noch keinen Abnehmer gefunden hatte.



Der Preis von Sicherheit



‚Ja, Ja, ich habe den Stein verkaufen können. Hier ist dein Anteil.’
Wilde Hoffnung war unter den Worten Mareans wie ein alter Wegestein bei plötzlichem Frost zersprungen. Selbst jetzt noch, zwei Tage später, hallten die Worte in ihrem Kopf und säten rasch wachsende Verzweiflung und Furcht. Nur die Hand ihres Begleiters Kennan und eine neue, vagen Hoffnung bewahrten sie vor einer fatalen Panik. In der Ferne, hinter einer Wegbiegung der Strasse, ließ sich ein Dach eines einsamen Hauses erkennen. Sie waren beinahe angekommen.

Zwei Tage zuvor, Löwenstein

Sie war aus dem Zimmer Mareans gestürmt kaum dass sie erfahren hatte wie der Ankäufer des Bernsteines hieß. Noch bestand die Chance, den Stein zurückzukaufen, zurückzustehlen oder zur Not auch mit Gewalt zurückzurauben.
Doch lange Stunden des Suchens, unzähliger Gespräche und endloser Enttäuschung hatten auch diese Idee zerfressen wie harte Nachtkälte den Wegestein. Nach einer schlaflosen Nacht voller eingebildeter Schrecken fand sie am nächsten Tag schließlich jemanden, der den Namen des Händlers schon einmal gehört hatte – und gleich darauf frohgemut verkündete, dass dieser Händler vor einem halben Jahr nach Silendir ausgewandert war, um dort sein Glück zu versuchen.

‚Als hätte er den ganzen Ärger hier vorhergesehen. Schlauer Mann!’
Die Worte schmeckten bitter wie Galle. In Gedanken sah sie Rotanders grässliches Lächeln verblassen, als sie ihm gestand, den Stein nicht mehr zu besitzen.
Sie ließ den Mann ohne Kommentar stehen und begann mit unstetem Schritt zurück zum Beginn ihrer hoffnungslosen Suche zu wandern. Sie ahnte, wie leicht sich Marean hatte täuschen lassen – jeder drittklassige Hehler und Dieb würde ahnen, dass niemand einfach so einen hübschen Schmuckstein verkaufen würde ohne dass etwas an der Sache faul war. Und natürlich würde er versuchen ohne Spuren zu hinterlassen zuzuschlagen – Schmuckstein war Schmuckstein. Marean war in manchen Dingen einfach unglaublich naiv. Sie redete sich zwar ein, dass er nicht Schuld an der ganzen Sache war, doch flammten trotzdem Wut und mörderische Gedanken auf. Sie hatte schon zu tiefe Wunden durch Verrat erlitten, als das sie einfach so über diese Sache hinwegsehen konnte.
Doch nicht einmal die Genugtuung eines mehr oder minder gerechten Mordes war ihr vergönnt. Ekatalin hatte kaum aus dem Viertel verlassen, bevor sich die Wut in Frustration und schließlich Resignation auflöste und sie benommen in dumpfer Taubheit zurückließ. Wie willenlos ging sie in eine Taverne, ließ sich mechanisch auf einen Stuhl fallen und wollte ihre sicherlich letzten Stunden in dieser Welt mit billigem Alkohol ertränken. Die Tatsache, dass selbst dieser Ausweg hier in Löwenstein beinahe unbezahlbar war, tat ihr bestes, um sie weiter in Verzweiflung zu stürzen. Stumm und einsam saß sie in einer Ecke und ließ das gedämpfte Lachen und die heitere Verzweiflung einer Stadt am Abgrund über sich hinweg fließen. Keiner der gezwungen fröhlichen Menschen in ihrer Mittagspause sah sie an, keiner der lachenden und sich gleichzeitig duckenden Einwohner Löwensteins schien sie auch nur zu bemerken.

Marean war da anders gewesen. Zum einen war er wie sie nicht aus Löwenstein, zum anderen versuchte er es nicht einmal, Freude oder brave Geschäftigkeit vorzutäuschen. Stattdessen war er von einem verzehrenden Zorn und einem unbestimmten Ziel besessen, das irgendwie mit ihr zu tun hatte. Am ersten Tag ihrer Ankunft in der Hauptstadt hatte er wie ein abruptes Sommergewitter Ekatalins dumpfes Brüten verjagt; ein tobendes Blitz- und Donnerwesen, das eine einzelne Erhebung in einer weiten Ebene gefunden hatte. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie seine Naturgewalt beinahe begrüßt.
Sie war wie auch jetzt in einer Taverne gesessen und hatte nichts als misstrauische Blicke und abweisende Worte für alle Fremden übrig gehabt. Doch der Wütende hatte diese Verteidigung wie einen Wall aus dürren Ästen davon gewirbelt und lies sich nicht von einigen drohenden Blicken vertreiben. Abrupt wie Rotander und ohne all dessen schmeichelnde Freundlichkeit hatte er sie vor die Überreste ihres Überfalles im Herrenhaus gestellt, dessen schreckliche Erinnerung sie hier in Löwenstein eigentlich entfliehen wollte.
Diese plötzliche Begegnung hatte das das Bildnis des tobenden Gewitters mit dem Namen Marean geformt und selbst wenn dieser mittlerweile etwas ruhiger geworden war – Ekatalin sah noch immer sein bedrohliches Flackern in den dunklen Wolken am Horizont.
Das sie unterdes schon wieder auf unerklärliche Art und Weise gefunden wurde, stieß ihr nur kurz bitter auf. Marean fehlten die unerklärliche Kälte und der berechnende Spott, den sich Rotander regelrecht von der Stirn wischte. Er mochte wütend, unverschämt und anschuldigend sein, aber er war nicht unheimlich.
Nachdem sich so etwas wie ein Dialog geformt hatte, flossen bald erste Informationen. Er war der Neffe des älteren Mannes, der im Herrenhaus umgekommen war. Er hatte seinen Onkel so aufgefunden, wie Ekatalin ihn zurückgelassen hatte – und neben der Aufklärung dieses Todes war er auch wild entschlossen den entwendeten Rubin wieder in seinen Besitz zu bringen. Und er hatte auf irgendeine mysteriöse Weise von Kat erfahren, der Diebin aus Ravinsthal, die sich gerade in Löwenstein versteckte.
Es war nicht leicht gewesen, ihn wenigstens seine Version anzweifeln zu lassen – sie hatte geschworen und versucht zu erläutern, dass sie weder den Edelstein bei sich hatte, noch mit dem Tod seines Onkels etwas zu schaffen hatte. Die vage Ungewissheit bändigte seine Wut nicht völlig – er bestand darauf Ekatalin im Auge zu behalten, ob sie nun wachte oder schlief.
Diese Worte hatten an jenem Abend ein Fass zum Überlaufen gebracht, und mit einer Mischung aus Entrüstung und Spott war sie vor ihm geflohen – und eine absurde Laune so gut wie seit Monaten ließ sie dabei lachen und lachen und lachen.
Die Erheiterung verflog schnell, als Marean seine Worte in die Tat umsetzte und mitten in der Nacht in ihr Zimmer einbrach um sie wie angedroht im Auge zu behalten. Wieder hatte man sie gefunden, und ihr Finder war wieder so wütend wie zu Beginn ihres Aufeinandertreffens. Sie hatten keinen Schlaf in dieser Nacht gefunden –ein stilles Duell zorniger Blicke, die keine Bewegung von der einen Zimmerhälfte in die andere erlaubte, hatte alle Gedanken an Ruhe vertrieben.

Ein Pulk sich verabschiedender Gäste riss sie wieder in die Gegenwart zurück – ihr unbekannte Männer und Frauen auf den Weg zurück an ihre Arbeit, was auch immer diese sein mochte. Für einen langen Moment dachte sie noch einmal an Marean zurück – in der Zwischenzeit hatte sich so etwas wie einen Waffenstillstand zwischen den beiden entwickelt und abseits der Empörung und der Wut konnte verspürte sie einen Funken Ver- und Bewunderung über ihn.

Er ist so wütend, weil er sich auf dem rechten Pfad glaubt – einem Pfad, den er sich selbst ausgesucht hat. Niemand, nur er selbst, zwingen ihn zu seinem Handeln. Zorn ist sein Wegpfand, und er zahlt ihn gerne für sein Ziel. Ich wette, er würde an meiner Stelle nicht verzweifelt in einer Taverne sitzen und auf sein Ende warten.
Doch sie schaffte es nicht, genug Motivation aus diesen Gedanken zu ziehen – nach zwei Tagen erfolgloser Suche fühlte sich tatenloses Warten beinahe wie eine Belohnung an. Wahrscheinlich würde ihr schleichendes Grauen nun immer näher kriechen, doch sie sah keine Möglichkeit mehr, dieses abzuwehren. Der Gedanke an ein komplettes Leben auf der Flucht war beinahe genauso abstoßend wie die Aussicht auf ein bernsteinloses Treffen mit Rotander. Immer mehr der Gäste erhoben sich nun, um zurück an ihre Arbeit zu gehen und in der stiller werdenden Gastwirtschaft schlich sich der Gedanke an Aufgabe ein.
Sie hatte nicht allzu viel zu verlieren, lediglich ein Leben voller Härte und Undankbarkeit, von Furcht und Flucht und Verzweiflung geprägt – und mit etwas Entschlossenheit könnte sie all ihren Flüchen entgehen und endlich Ruhe finden. Kein Rotander, der sie um den Verstand bringen wollte, kein Marean, der ihr den Schlaf stahl, und kein Kennan, der ihre Gefühle zu rauben drohte.
Ekatalin kämpfte ein Lächeln nieder, das sicherlich wenig Vertrauen in ihre geistige Stabilität erweckt hätte und versuchte sich ins Hier und Jetzt zurückzukämpfen. Sie kannte diese Taverne. Sie war nicht völlig zufällig hierher gekommen, doch wie bewusst diese Entscheidung war, vermochte sie nicht mehr zu sagen. Hier hatte sie Kennan bereits mehr als einmal getroffen – und jedes Mal hatte sie die Schankstube mit einem warmen Gefühl inmitten all ihrer kalten Gedanken verlassen. Die Idee einen Mann für sich zu finden war ihr eigentlich stets fremd gewesen – sie hatte zu viel gesehen, um an so etwas wie Liebe zu glauben. Doch vielleicht gab es ja doch mehr als nur Schmerz in ihrem Leben.
Wie auch sie selbst hatte der junge Mann mit dem Namen Kennan keine sonderlich erfreuliche Vergangenheit. Er hatte mit eigenen Dämonen zu kämpfen, die ihn seit der Kindheit plagten, hatte eine lange Flucht hinter sich – und doch schaffte er es, so unbeschwert und unbekümmert wie ein junger Bürger mit sicherem Lebensausblick zu sein. Seine gelegentlichen düsteren Phasen ignorierte Ekatalin weitestgehend – mit Dunkelheit hatte sie selbst genug zu kämpfen.
Er war ein Gegenpol zu Marean – wo der Wütende seine Aufgabe sich selbst auferlegt hatte und diese mit immer neuem Zorn nährte, schien sich Kennan mit seinem Geburtsschicksal abzufinden. Er mochte dabei Mühe haben, aber er kam zumindest ohne Wut und Verbitterung aus.
Sie wusste nicht, welches der bessere der beiden Wege war, oder ob sie überhaupt zu vergleichen waren.

Und wo stehe ich auf diesen Pfaden? Habe ich überhaupt eine Wahl? Ekatalins Gedanken zerfaserten an diesem Punkt, und es war ihre mehr oder minder unbewusste Entscheidung gerade diese Taverne zu besuchen, die sie aus der inneren Misere rettete. Kennan erschien ahnungslos in der Taverne, fand sie zusammengekauert an ihrem Ecktisch und trieb die Furcht und Verzweiflung mit einer einfachen, lächelnden Begrüßung ein Stück weit zurück.


Gegenwart, eine halbe Tagesreise entfernt

Das Dach und die nun zwischen den Blättern aufblitzenden Fenster waren jetzt so nahe gekommen, dass Ekatalin Stimmen zu hören glaubte. Das musste die Wegstaverne sein, hinter der ihr Ziel lag. Mit ermutigendem Lächeln deutete Kennan in die Richtung ihres Zieles und beschleunigte seinen Schritt.
Ihre Hand in der Seinen fühlte sich warm an. Ein närrisches Lächeln lag auf ihren Lippen und obgleich er dies nicht einmal sehen konnte, vermochte sie es nicht von den Zügen zu wischen. Im Hintergrund brodelte schlechtes Gewissen. Sie sah sich den netten jungen Mann ausnutzen, indem sie seine Kraft und Wärme gegen ihre Probleme aufwendete ohne ihm mehr zurückzugeben als etwas verunsicherte Nähe und vorsichtige Worte. Doch über jede Aufmerksamkeit ihrerseits schien Kennan übermäßig erfreut und sein Lächeln vertrieb ihre Sorgen für einen Moment. Und tatsächlich hatte er eine Idee gehabt, die sie nun gemeinsam verfolgten.
Zugegebenermaßen war es eine weit hergeholte Idee, die das Problem letztlich nur an einen anderen weitergeben würde, doch sie war weitaus besser und sinnvoller als die wirren und verzweifelten Ausflüchte, die Ekatalin eingefallen waren.
Vielleicht konnten die Druiden der Mondwächter weiterhelfen, wo rohe Gewalt und einfache Gedanken versagten.
Sie hatte sich in ihrer bewussten Zeit nie sonderlich viel um die Götter gekümmert. Sie erinnerte sich hauptsächlich an Geschichten aus ihrer Kindheit, die ihre Mutter ihr zum Schlafengehen erzählt hatte. Doch die Zeit, als sich ihre Mutter um Dinge wie Erziehung ihrer Tochter kümmerte, war lange vergangen. Und spätestens als sie aus der dörflichen Enge in das damals große und unbekannte Rabenstein geflohen war, versanken die alten Sagen und Gebete in Vergessenheit. Die Unterseite der Gesellschaft dort war mit gänzlich anderen Dingen beschäftigt, als sich mit alten Bräuchen abzugeben. Aber immerhin war ihr während dieser Zeit ein Funken Ehrfurcht vor den Druiden und Festen geblieben, so unstet und vage dieser auch glimmen mochte. Denn auch wenn die Druiden keine Ahnung von der Realität in der Gosse haben mochten – abseits des Tagtäglichen würden sie sicherlich mehr Ahnung haben als eine verschreckte Diebin.

Das Lager der Mondwächter in Servano war ein harter Gegensatz zu der Hauptstadt aus der sie kam. Die Luft war frisch, sie sah das Grün der Wälder und Wiesen im Hintergrund und es lag kein Schatten der Furcht vor der Sonne. Zwischen Zelten, offenen Lagerfeuern und Menschen, deren Fröhlichkeit echter wirkte als die der Menschen in Löwenstein, fand sie eine ältere Frau, die sich nach einigen Höflichkeiten als Ophelia Rabenfeder vorstellte.
Ekatalin war überrascht: In ihrer Erinnerung hatte sie Druiden nur strenge, bärtige Männer erlebt, die richtend und abweisend über ihre Gemeinde wachten. Im Antlitz der sanften, freundlichen Frau vor ihr erkannte sie jedoch, dass sie aus dem Blickwinkel eines Kindes geurteilt hatte. Ohne große Umstände gewährte ihr Ophelia Zeit und Raum, ihre Geschichte zu erzählen und ihre Sorgen darzulegen – und auf einer ruhigen Wiese neben einem See in der Nähe des Lagers fand sie auch die Kraft dazu.
Ekatalin beschrieb ihre Zeit nach der Flucht aus Ravinsthal: die erste Begegnung mit Rotander, die Leiche des alten Mannes, der zweite Besuch des unheimlichen und dicken Mannes, erzählte von ihrer Furcht, ihrer Verzweiflung, ihrer Todesangst. Ophelia hörte ihr ernst zu, selbst als sie zu ihren unwirklichen Ahnungen über Rotanders Kraft kam. Selbst ihr Eingeständnis, für Geld Diebstähle auszuführen nahm diese hin, als wäre es nichts allzu außergewöhnliches oder verdammenswertes. Sie wusste, dass sie sich selbst anstelle der Druidin niemals so ernst genommen hätte.
Als sie schließlich mit ihrer Erzählung endete, ahnte sie hinter der Aufmerksamkeit der Älteren Besorgnis, doch Ophelia überspielte dies mit einem freundlichen Lächeln. Als sie dann wieder sprach, erfolgte zuerst ein Rat, den Ekatalin fast schon erwartet hatte. Sie sollte zu Galates beten, dem Gott der über Erinnerungen wachte, ein Gott der Nacht und des Vergessens.
Sie erinnerte sich an die Geschichten ihrer Mutter – ohne Mund und voller Gram herrschte der Herr des Vergangenen einsam auf seinem dunklen Thron zwischen den Sternen. Er trank die Geheimnisse aller Menschen die ihn um Schatten oder Vergessen anflehten – und sein Durst war nicht zu stillen.
Die Worte der Druidin hörten sich weit weniger morbide an, doch die Vorstellung um Galates’ verbergende Hand zu bitten, ließ das Kind in ihr erschaudern.
Ophelia ging in ihrer Hilfe jedoch weiter als Ekatalin es sich erhofft hatte. Neben dem Rat, Den Nachtgott anzuflehen, erzählte sie ihr von einem heiligen Ort, der dem Herren des Vergessens nahe stand, zu dem sie ein junger Streiter namens Ryev bringen sollte. Und schlussendlich sorgte sie sich sogar um die Sicherheit ihrer Unterbringung. Da die Sonne schon weit im Westen stand, und eine Rückkehr nach Löwenstein an diesem Tag nicht mehr sinnvoll schien, hatte sich die Diebin entschlossen in der Wegstaverne zu übernachten. Sie führte Ophelia zu der Bettstätte und war nicht wenig verwundert, als die Druidin mit einer durchsichtigen Flüssigkeit einen Kreis um das Laken auf den Boden zog. Für einen Bruchteil eines Lidschlags flackerte die Flüssigkeit in einem fahlen Licht auf, so kurz, dass sie sich im nächsten Moment bereits wieder unsicher war – doch die kniende Ophelia war von Anstrengung gezeichnet. Trotzdem lächelte die Ältere zufrieden und freundlich und beruhigend. Ekatalin fühlte sich das Lächeln unwillkürlich erwidern, wie das Kind, das sie vor langer Zeit einmal gewesen war, bevor Raub und Unterweltssorgen sie zu einer verbitterten Halbstarken hatten aufwachsen lassen.

Die Dämmerung war schneller zur Nacht geworden, als Ekatalin es für möglich hielt. Mit der Dunkelheit hatten sich ihr Ausblick wieder verdüstert – seitdem Ophelia gegangen war, fielen die Gedanken immer wieder in alte Muster zurück und die Ehrfurcht, beinahe schon Furcht vor den alten, ursprünglichen Geschichten ihrer Kindheit war wieder entflammt. Mit einigem Zögern verließ sie die Taverne und trat wieder zwischen die Zelte des Mondwächterlagers. Sie fand ihren Begleiter und Führer Ryev bald an einem der Feuer, und ohne große Worte führte er sie auf gewundenen Wegen durch die Nacht. Es war ein langer und schweigsamer Marsch, doch der Bewaffnete strahlte genug Selbstsicherheit und Kraft aus, um einige der weltlichen Sorgen einer Wanderung ohne Sonnelicht zu vertreiben. Der Rest ihrer Gedanken wirbelte wie stets um Rotander und nun in vermehrten Maß auch um den mundlosen Gott herum.
Nimmt er mich ebenso sorglos an wie Ophelia es tat? Ich habe so lange nicht mehr an einen der Mondwächter gedacht. Sie sagte, es sei nicht vermessen in der Not zu den Göttern zurückzukehren, aber ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen. Was wohl Mutter sagen würde?
Ihre Gedanken färbten sich wanderten mit jedem Schritt immer negativer, so dass es nicht unpassend erschien, dass das anfängliche Mondlicht immer mehr von treibenden Wolkenfetzen gedämpft wurde, bis es letztendlich dunkel wie zu einem Neumond war.
Als sie schließlich an der heiligen Stätte ankam, half die Vorwarnung der Druidin nicht viel – ein Friedhof bei Nacht, zusätzlich noch dem Gott des Vergessens und der Vergangenheit nahe war mehr als unheimlich genug, um Schauder über den Rücken der Diebin zu jagen. Rationale Gedanken wurden vom leichten Nachtwind fortgeweht wie die alten, braunen Blätter, die sich hier und dort hinter den verwitterten Grabsteinen gesammelt hatten. Ryev zeigte ihr stumm den heiligen Baum, doch auch ohne diesen Fingerzeig hätte Ekatalin diesen erkannt. Eine uralte Weide stand auf einer kleinen Erhebung, der einzige Baum in direkter Umgebung, blattlos, zeitlos, bedrohlich. Ihr Begleiter zog sich zurück, und kurz darauf fühlte sie sich völlig allein.
Der Atem der Nacht war kühl und spielte in den herabhängenden, kahlen Zweigen der Weide wie auf einem beinernen, stummen Windspiel. Statt einem normalen Rascheln von Blättern erklangen nur gelegentliches Knarren und die kaum hörbaren Geräusche von aneinander schlagenden Zweigen. Die leeren Gräber neben der Weide klafften dunkel und lockend am Rande ihrer Aufmerksamkeit und der schwere Geruch von nasser, offener Erde vollendete den morbiden Eindruck.
Es dauerte lange, bis sie den Mut fand, durch den Vorhang der herabhängenden Zweige zu treten und vor dem knorrigen Stamm zu knien. Feuchtigkeit sog sich augenblicklich und kalt durch den Stoff ihres Rockes und unablässig berührten die windbewegten Zweigspitzen wie Skelettfinger ihren Rücken und Kopf. Ihr Schaudern war längst vergangen – Ekatalin zitterte, und die klamme Feuchtigkeit trug nur den kleinsten Teil dazu bei.
Das Zittern färbte auch ihre Stimme, als sie irgendwann den Mut zu sprechen fand. Sie erzählte leise von ihrem Leben im groben, von Rotander und seiner Bedrohung im Detail, von ihren Ängsten, von ihrer Verzweiflung. Trotz der düsteren Worte fand sie irgendwann so etwas wie Ruhe in ihrer Erzählung. Das Zittern wich erst aus ihren Silben, dann aus ihrem Leib, die Kälte verlor ihre Schärfe und nach und nach vergaß sie die schaurige Umgebung. Sie war reduziert auf ihre Erzählung und darin erkannte sie so etwas wie Frieden.
Ekatalins Blick war auf eine Astgabel in Kopfhöhe gerichtet, die den alten Baum in Zwei zu teilen schien. Dahinter konnte sie den wolkenbedeckten Himmel erkennen, dessen Konturen in scheinbarer Trägheit dahin flossen. Die Welt, zusammengestaucht auf den kleinen Hügel mit den offenen Gräbern und der Weide lauschte stumm und wertfrei. Als ihre Geschichte zu Ende war, fühlte sie sich so sicher wie seit vielen Jahren nicht mehr.
‚So bitte ich dich also um Schutz, Galates – auch wenn ich lange Zeit nicht mehr an dich und die deinen gedacht habe, so kehre ich nun in meiner Not zurück. Bitte beschütze mich vor Rotander und seiner furchtsamen Weise.’
Ekatalin verstummte das erste Mal seit langen Minuten wieder. Ein plötzlicher Impuls ließ sie die Augen schließen und die Stirn auf den Boden herabsenken. Kalte Graberde empfing ihre Züge und eine leise Stimme im Hinterkopf, die bisher unwillig geschwiegen hatte, beschwerte sich empört über diese Unterwerfung. Doch der größte Teil Ekatalins war noch immer in ihrem eigenwilligen Frieden gefangen – und mit gelinder Verwunderung spürte sie sich schluchzen. Heiße Tränen der Erleichterung wurden von der kühlen Erde aufgesogen wie Regen von verdurstendem Sand. Die leise Stimme im Hinterkopf zeterte unbeachtet weiter.
Irgendwann begannen ihre Atemzüge zu schmerzen und die Kälte der Nacht drang tief in den niedergeworfenen Leib. Langsam und unschlüssig hob sie den Blick und für einen Augenblick schien die Zeit still zu stehen. Die Wolken waren aufgebrochen und zwischen dem uralten Holz der Äste konnte sie die Sterne erblicken. Hinter ihr stand der Mond wieder frei und ungehindert am Himmel und sein warf mit seinem Licht unstete Schatten der dürren Weidenzweige in hypnotischen, starren Mustern an die bleiche Rinde des Baumstammes.
Der Friede in ihrem Inneren vertiefte sich und ließ selbst die leise Stimme im Hinterkopf verstummen.
Lächelnd sah wieder Bewegung in den Zweigschatten zurückkehren, die Wolken verdichteten sich wieder und das Mondlicht verebbte. Der Wind ließ die dürren Finger der Grabweide tanzen und Ekatalin fühlte sich umarmt.


Zur gleichen Zeit, anderswo

Rotander Gallmann saß gemütlich auf einer Bank in einem Wirtshaus drei Tagesreisen entfernt von dem Friedhof, und ohne jede Sorge genoss er die Auswahl einer gewaltigen Käseplatte. In seiner Linken hielt er eine Scheibe Schwarzbrot, in das er immer wieder biss wenn er einen Happen Käse zu sich nahm, während die Rechte zwischen den Ausflügen zu der Brotzeitplatte mit einem kleinen, kupfernen Schlüssel spielte. Dicke, mittlerweile etwas fettige Finger drehten den kleinen Schlüssel hin und her, wendeten ihn in nachdenklicher Geste, und ein zufriedenes, breites Lächeln spielte auf dem Mondgesicht des beleibten Mannes. Die Gedanken Rotanders drehten sich um mehr als nur den Schlüssel – er war nur ein weiteres, inkonsequentes Stück Absonderlichkeit, mit dem er sich abgab. Es gab so viel zu finden und zu erwerben, dass es schon einiges mehr brauchte, um ihn in Aufregung zu versetzen. Dennoch – er war mehr als zufrieden mit seiner Arbeit. Er hatte genug Geld und Abwechslung um nie Not oder schlimmer noch Langeweile zu erleben. Und als wäre das nicht genug, fühlte er sich in diesen strengen Zeiten auch noch geradezu unverschämt sicher.
All die Sorgen der einfachen Leute waren völlig irrelevant für ihn. Er konnte essen was er wollte, sich Vergnügen wo er wollte und er hatte sicherlich mehr Freude an seiner Aufgabe als jeder Schmied oder Schneider.
Ein weiterer Bissen Käse mit dem Rest Schwarzbrot verschwand hinter seinen Lippen, bevor er mit leichter Verwunderung feststellte, dass ihm das Brot ausgegangen war. Mit umständlichen Gedanken dachte er einige Momente über die universell schief stehende Balance zwischen Brotzeitplatte und mitgeliefertem Brot nach – dann hob er seine Hand und winkte der Schankmaid zu, die wohl bereits ahnen musste, was er wollte.
Die kräftige Frau trat gerade mit saurer Miene um die Theke, als Rotander von einem Schwall warmer, unsteter Fremdartigkeit überrollt wurde. Es war kein unangenehmes, lediglich ein befremdliches Gefühl. Seine Züge mussten seine Verwunderung beeindruckend widergespiegelt haben, denn die Schankmaid war stehen geblieben und starrte ihn überrascht und herausfordernd an.
Rotander fing sich wieder, schüttelte breit lächelnd den Kopf und rief seinen Wunsch nach noch zwei Scheiben Brot durch den Raum. Seine Gedanken sprangen jedoch bereits erfreut hinter diesem plötzlichen Mysterium her und es dauerte nicht allzu lange, bis er die Quelle gefunden hatte. Einer der Fixpunkte in seinem Geist, konstruierte Punkte, die er schlicht Anker nannte schien ungewöhnlich schwammig und unstet zu sein. Ihre gewohnte Funktion, ihn sicher und ohne Umwege zu den gewissen Orten oder Punkten zu führen, an denen er den Anker ausgeworfen hatte, war hier nicht mehr gegeben. Er verharrte eine geraume Weile, bevor er einer plötzlichen, leise Sorge nachgab und er einen etwas anderen Fixpunkt in seinem Geist überprüfte. Die vorsichtige Berührung wurde wie erhofft und erwartet mit einem scharfen Sengen belohnt, welches ihn schwer aufseufzen ließ.
An dieser Stelle ist also alles in Ordnung. Mhmhm. Ich frage mich, was gerade wirklich passiert ist. Einer meiner Anker scheint sich aufzulösen. Er wird nicht zerstört, er verschwimmt lediglich – wie im Treibsand. Jemand hat etwas Kraft gefunden. Oder jemanden, der Kraft hat. Wie Ungewöhnlich. Interessant. Ungewöhnlich. Interessant. Ah, ich kann noch den Ort erkennen, wo ich den Anker habe fallen lassen. Löwenstein. Da habe ich doch gleich eine gute Ahnung, wer das ist. Da ist jemand voller Überraschungen. Oh, wie Ungewöhnlich. Aufregend!
Fettige Finger griffen nach einem Taschentuch und wischten Schweiß von einer breiten, hohen Stirn, während hungrige Lippen voller Vorfreude lächelten.





Wegekreuz (dunkle Wolken) am Horizont



‚Ich meide Theater, denn sie färben Grandioses zu grandios und übermalen das Wesentliche.
Ich war geblendet und habe Schreckliches getan.’

Sie fand sich auf einer rauen, kühlen Steinbank aus hellem Gestein sitzen. Ekatalin war dürftig in ein loses, weißes Kleid gekleidet, das hilflos im eisigen Wind flatterte. Unter ihren bloßen Füßen spürte sie Steinfließen, glatt und von kleinen Steinsplittern bedeckt. Erschreckt und verwirrt versuchte sie sich auf ihrer Bank zusammenzukauern, doch die schneidende Kälte hatte bereits ihren Leib durchdrungen. Der weiße Nebel ihres Atems verlor sich augenblicklich in der zitternden Luft.
Eine gleißende Helligkeit machte es schwierig, Einzelheiten zu erkennen, doch nach und nach fügten sich die einzelnen Eindrücke zu einem Ganzen zusammen: Sie befand sich in einem riesigen Amphitheater, dass in die Flanke eines schroffen, kahlen Berges geschlagen worden war. Der halbe Trichter mündete in einer rechteckigen, leeren Bühne, hinter der abrupt die Leere eines steilen Abhanges lauerte. Die weite Aussicht in ein breites, grünes Tal bildete einen harten Kontrast zu dem desolaten Theater. Zu ihren Seiten waren weitere Gipfel und hohe Kämme zu sehen, die sich in Schnee kleideten und dem Wind Wolkenfetzen stahlen. Das helle Gestein wurde von einem stahlblauen Himmel eingerahmt, der in ihren Augen schmerzte. Die Sonne stand in einem starren Zenith, bleich, kalt und blendend. Vergeblich versuchte sie das Zittern ihres Körpers zu unterdrücken, doch ihre Kraft schien nicht länger zu verweilen als ihr verbleibendes Verstehen.
Denn trotz der Helligkeit, trotz der unberührten Schneeverwehungen, trotz der gewaltigen, friedlichen Stille lag etwas Verstörendes über den hellen Blöcken und Fließen. Viele Bänke waren in kantige Teile zerbrochen, die selbst auf ihren flüchtigen Laienblick zu regelmäßig und glatt geschnitten erschienen, um Kunstwerke von Frost und Wetter zu sein. Graue, unscheinbare Flechten hatten sich auf den Bruchstücken festgesetzt und ließen die Steinwerke alt und verwittert und verdorben erscheinen. Und vor allem wirkte die dichte Stille mehr als unnatürlich – das Wehklagen des Bergwindes fehlte vollkommen, obgleich er hier so viele Kanten und Ecken vorfand.
Eine aus der Vergangenheit geborene Einsamkeit herrschte mit einer eisernen Faust über diesen Ort, der dereinst einmal ein Theater gewesen war. Ekatalin spürte, wie sie hilflos in einem reißenden Sog unterging. Nicht einmal ein klägliches Wimmern drang über ihre frostgeküssten Lippen.
Ihr Blick verschwamm in der blendenden Helligkeit und wie gelähmt beobachtete sie das Verrinnen ihrer Gedanken. Sie spürte nur noch Kälte, Wind. Schwerelosigkeit. Sie begann Eins mit dem Schneeatem der Berge zu werden.
Eine Berührung an ihren tauben Füßen ließ sie plötzlich wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren. Sie öffnete ihre schweren Lider und erkannte, dass sie auf einmal auf der Bühne stand, zu den sich vor ihr aufbäumenden Rängen gewandt. Sie war weiterhin völlig allein, doch war eine fremde Erinnerung in ihre müden Glieder gefahren und hielt sie aufrecht. Ihr Blick in den Zuschauerhang fühlte sich klar und starr und ausgekühlt an – und er wurde erwidert.
Eine durchdringende Aufmerksamkeit eines ungesehenen Publikums in hunderten leeren Bankreihen traf sie und ließ sie schlimmer erzittern als die Temperatur es zuvor vermocht hatte. Sie stand aufrecht, erhellt von der fahlen Sonne und unzähligen Gespensteraugen und fühlte sich nackt, hilflos und stumm. Nackte, hilflose und stumme Panik begehrte auf.
Sie wünschte sich davonlaufen zu können, doch stattdessen lenkten selbstsichere Schritte ihren Leib an den Rand der Bühne. Sie wünschte sich zu verstecken, doch stattdessen erhob sie ihre Arme in einer grandiose Geste und machte ihre Anwesenheit allen Zuschauern bekannt. Sie wünschte sich zu schreien, doch stattdessen rief ihre Kehle rief nur stumme, unbekannte Worte aus.
Tränen flossen und erstarrten auf ihren Wangen, als ihr Geisterpublikum im begeisterten Einklang einen ungehörten Namen rief und rief und rief. Die Vergangenheit hielt diesen Ort gefangen, und die Vergangenheit hatte hier Grauenhaftes erblickt.
Ein rauer Vogelruf durchdrang die Stille und die Schmerzensschreie der Gespenster.


Ekatalin riss die Augen auf und blickte schwer atmend in den nachtdunklen Himmel. Hochgewachsene Graßhalme erhoben sich um sie herum und Bäume, schwarz vor dem Sternenhintergrund, umgrenzten eine weite Lichtung. Ein warmer Wind, der nicht mehr nach Tragödie und Schnee roch, flüsterte unschuldig in den Blättern und Gräsern. Sie hörte ihr Herz noch immer panisch in ihren Ohren klopfen, ahnte echte Tränen auf ihren Wangen und sah Flimmerfiguren vor ihren geblendeten Augen zerfliesen. Das kalte und einsame Bild ihres Traumes verblasste nur quälend langsam. Sie lauschte angestrengt, aber die Stille an diesem Ort war friedlich. Nur ab und an erklang ein ferner, leiser Tierlaut.
Nach langen, orientierungslosen Momenten setzte sich die Diebin vorsichtig auf und spürte augenblicklich Schwindel, Trägheit und dumpfen Schmerz hinter ihrer Stirn. Ein ganz besonderer, pelziger Geschmack auf ihrer Zunge berichtete von einem weinreichen Abend, während ein Kratzen in der Kehle Heiserkeit ankündigte. Sie hob ihre Hand an die Schläfe, doch der Druck ihrer Finger verstärkte lediglich den Schmerz. Der Versuch, sich umzusehen scheiterte in einem plötzlichen Aufbäumen der Welt – und mit einem leisen Wimmern, das ihr im Traum verwehrt gewesen war, sank sie wieder in ihr Bett aus Graß zurück. Für lange Atemzüge kämpfte sie gegen Übelkeit und freute sich zugleich ihrem Entkommen aus dem Alptraum. Die harschen Details begannen nach und nach zu verschwimmen und wurden von Bruchstücken der Realität ersetzt. Mit Mühe versuchte sie sich daran zu erinnern, wie sie dazu kam, auf irgendeiner Lichtung mitten in der Nacht zu erwachen und von einem großen und sicher noch weiter wachsenden Kater geplagt zu werden. Träge Erinnerungstropfen flossen nur widerwillig zu einer trüben Pfütze zusammen.
Ein Fest, ein Freudenfeuer, Trank und Speis zu Ehren Branwens, Menschen, oh so viele Menschen um sie herum, die sich freuten, gegeneinander antraten, gewannen, verloren, liebten, tranken, tranken und tranken. Sie selbst hatte in diesem Wirbel getanzt, war darin untergegangen und hatte für einige Stunden geglaubt zu leben, ohne je Härte und Sorgen gekannt zu haben. Sie sah sich lachen, klatschen, Kämpfer anfeuern, lächeln und trinken.
Weitere Erinnerungen tauchten aus der Dunkelheit auf. Kennan. Rielaye. Oh, da war ja etwas..
Sie blickte nach rechts und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Nach einigen unsteten Herzschlägen wichen die Schatten und ein ruhender Leib schälte sich aus der Nacht, völlig still bis auf ein vages Heben und Senken des Brustkorbes. Ein Lächeln keimte in den Zügen der Diebin auf, unsicher und verwirrt, während sie unschlüssig die Schlafende betrachtete. Tiefschwarzes Haar rahmte ein sternendüsteres, zeitlos schlummerndes Gesicht, das in dieser Ruhe jede Erinnerung an betrunkene Fröhlichkeit geradezu absurd erscheinen lies. Beinahe folgte sie dem Impuls Rielaye zu wecken und zu fragen, was passiert sei, doch dann ließ sie ihre Hand wieder sinken, als ihre Gedanken von alleine in Bewegung kamen. Sie stützte ihren pochenden Kopf auf ihren Arm und ließ die schwerfälligen Augen auf der schlafenden Frau verweilen.

Sie hatte zu viel getrunken. Und als sie in trunkener Weisheit beschlossen hatte, noch einen weiteren Becher Wein in sich hineinzuschütten, hatte sich die Fröhlichkeit in Übelkeit gewandelt und mit einer kurzen Entschuldigung musste sie dem Fest entfliehen. Sie hatte wohl Besorgnis erweckt, denn sowohl Kennan als auch Rielaye waren ihr kurz darauf gefolgt. Sie erinnerte sich noch, dass Kennan nach einigen Worten beruhigt wieder zur Feier zurückging, während sie noch eine geraume Weile mit der Schwarzhaarigen über irgendetwas gesprochen hatte. Danach vernebelten die Erinnerungen, aber augenscheinlich waren sie beide hier an Ort und Stelle eingeschlafen. Aber immerhin habe ich meine Kleidung noch an und Rielaye ist kein dicker, alter Mann. Kein nackter, dicker, alter Mann.. Ugh. Morbides Interesse ließ sie den Gedankenstrang für einen unangenehmen Moment lang verfolgen, dann wandte sie sich der Art von Fragen zu, die ihrem Zustand zwischen Trunkenheit und schmerzhafter Nüchternheit eher entsprachen.
Was tue ich hier eigentlich?
Was bringt mich an diesen Ort?
Was will ich morgen tun?

Die ersten beiden Fragen waren leicht zu beantworten. Die dritte – nicht so sehr.
Nach ihrem Gebet an Galates hatte sich ihre Welt verändert. Wie am Morgen nach einer schier endlosen Nacht war plötzlich silbernes Licht in ihre Furcht vor Schatten und Rotander gedrungen, hatte sie zerrissen und verstreut und einen Frieden freigelegt, den sie seit ihrer Kindheit nicht mehr verspürt hatte. Sie konnte lachen, sie konnte unter Menschen wandeln, sie konnte das Leben genießen. Zum ersten Mal erblickte sie Löwenstein aus einem anderen Blickwinkel als dem einer zynischen, desillusionierten Halbstarken und so etwas wie Bewunderung und Stolz erfüllten sie. Genauso waren ihre Gedanken von der Güte und der Wärme erfüllt, die sie von der Druidin Ophelia erfahren hatte, so dass es nicht lange dauerte, bis sie wieder ins Lager der Mondwächter zurückkam.
Anfangs sehr zurückhaltend betrachtete sie das Leben an diesem Ort, und überrascht stellte sie fest, dass sie sich dort hingezogen fühlte. Sie lernte Namen kennen und es war ihr auf einmal nicht mehr egal, wer hinter diesen Bezeichnungen steckte – sie begann in den Menschen mehr als nur potentielle Opfer oder Angreifer zu sehen. Unter den so lebendigen Menschen befand sich auch Rielaye, die jetzt neben ihr schlief. An den Feuern hatte sie so frisch, direkt und voller Leben gewirkt, dass Ekatalin keine Ahnung hatte, wie sie dem begegnen sollte. Hilflos wie ein Schwamm hatte sie schließlich von der Lebensfreude der Schwarzhaarigen getrunken und sich noch einmal daran erinnert gefunden, dass es in Ordnung war, sich des Daseins zu erfreuen. Andere Namen und Gesichter flackerten auf, flüchtig, lächelnd. Der Ort war einladend. Zum Fest zu Ehren Branwens zu erscheinen war zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
Sie hatte auch Ophelia wieder getroffen und wieder waren ihre Worte so voller Wärme und Weisheit, dass sie bald ihre verbleibende Zurückhaltung verlor. Als die Druidin anbot, in ihre Zukunft zu blicken hatte sie ohne tiefere Bedenken zugestimmt.
Im Nachhinein hätte sie jedoch auf die leise Besorgnis in der älteren Stimme hören sollen, denn die Erinnerung an die geworfenen Knochen war nicht ganz so glücklich und sorglos wie der Rest. Nicht dass ich nicht früher oder später selbst darauf gekommen wäre, dass mein Frieden wohl kaum von Dauer sein kann. Aber dennoch.. Meine Vorstellung hätte sicher komplett anders ausgesehen als diese Prophezeiung. Ein Handel.. Ich mag es nicht mit anderen Leuten zu handeln.
Bevor sich die trägen Gedanken weiter auf die Vorhersagen der Druidin wälzen konnten, bewegte sich Rielaye in ihrem Schlaf ein wenig ihr ein wenig und beanspruchte für einen atemlosen Augenblick die Aufmerksamkeit für sich. Als sie dann jedoch wieder still lag, vertrieb Diebin mit etwas Nachdruck ihr spontanes und unstetes Lächeln wieder von den Zügen.
Ich habe ihr doch vor dem Schlafen noch irgendetwas versprochen. Etwas Wichtiges. Oh, bei allen Göttern, wie ich es hasse betrunken zu sein. Wieder so ein Abenteuer auf den Wehrgängen Löwensteins? Wieder einen Abend in der Aussicht, Ärger zu stiften? Nein.. irgendetwas konkreteres, direktes. Unschlüssig betrachtete sie die schlafenden Züge, unfähig die Nebelschwaden in ihrem Gedächtnis aufzulösen.
Ungewollt und plötzlich wallten stattdessen die Züge Kennans aus der Dunkelheit auf. Wie immer gingen damit ein Hauch von Mitleid und Trauer einher, gefolgt von einer ungewissen Wärme und Zuneigung. Der arme, arme Mann. Jede Freude, die er empfand, wurde von seiner Bürde niedergedrückt, jeder Funken von Witz und Feuer war von Schwermut überschattet. Er war noch immer zu so vielem Interessantem fähig, doch sie fürchtete sich vor dem Tag, an dem alles zu viel für ihn würde. Auf ihr Drängen weichte er ab und an auf und hatte ihr sogar an einem seiner guten Tage einmal eine irrwitzige Geschichte erzählt, die ihn zu einem heroischen Monsterschlächter aufstilisierte, furcht- und reuelos, männlich und ursprünglich. Aus seinem Mund klang all das so ungewohnt und frei, dass sie sich tatsächlich sehr amüsiert hatte. Der Zauber hielt jedoch dann nur für die Dauer seiner Geschichte an.
Vor einer geraumen Weile hatte sie ihn gerne als Gegenpart zur gerechten Wut Mareans gesehen, doch mittlerweile war sie sich nicht mehr so sicher. Dunkelheit auf der Seele lasten zu haben, ja ein Hexer zu sein, verachtet, verboten und verborgen zu sein – das würde sicherlich jedermann am Boden zerschlagen und hatte nichts mit Niederlage zu tun. Die Bezeichnung Hexer schmeckte noch immer nach Asche, auch nach all der Zeit voll seiner freundlichen und ehrlichen Worten. Sie war sich sicher, dass er harmlos war und dass er in jeder Hinsicht nichts für seinen angeborenen Fluch konnte – aber er war dennoch verdammt. Sein scheues Lächeln brannte schwermütig in ihrer Erinnerung.
Kann ich wenigstens irgendetwas daraus lernen? Immerhin erträgt er irgendwie sein Los, genauso wie er es erträgt, selbst die wärmsten Sommertage mit seiner Schwermut zu färben. Wahrscheinlich merkt er es nicht einmal, aber tut es. Hätte ich die Kraft gehabt, halbwegs normal weiterzuleben, wenn Galates sich nicht erbarmt hätte?
Nun. Sinnlos in diese Richtung zu denken. Außerdem wäre es vermessen, mein Leid mit seinem zu vergleichen. Was ist schon die Dunkelheit in meinem Leben? Dieberei? Vergangene Furcht vor einem Schattenmann? Eine ungewisse Prophezeiung? Pah.

Trotzdem flogen die mittlerweile etwas flinkeren Gedanken mit einem schweren Ausatmen wieder einmal zurück zur Vorhersagung der Druidin. Satzfetzen wehten rasch und routiniert in der ernsten Stimme Ophelias an ihrer Aufmerksamkeit vorbei.

‚Weggabelung’ … ‚ungewiss, welchen Weg ihr gehen werdet’ … ‚Morrigú und Lyon vereint’ … ‚ein Handel um euer Leben selbst’ … ‚als würde es unter einem guten Stern stehen’

Die Worte brachen weitere Erinnerungen mit sich. Sie schmeckte erneut die klamme Luft, roch die Regenwolken, spürte das Graß an ihren Armen, den winzigen Schnitt an ihrem Finger. Die Worte waren gerahmt von den dunklen Monolithen der Opferstelle und von ihrer Blutbindung mit den Knochen. Bis auf Ophelia und Ekatalin war der Ort verlassen und still. Sie fragte sich mittlerweile scheu, wie viel der Prophezeiung rohe Wahrheit und was lediglich Interpretation der Druidin war. Zwar standen die gravierten Knochenplättchen noch immer deutlich vor ihrem inneren Auge, aber auch nach all der Zeit konnte sie aus den Konstellationen der Mondwächter keine Bedeutung herauslesen. Über allem lag die vage Unsicherheit, die sie in Ophelia zu spüren geglaubt hatte, was völlig gegen ihr sonstiges Auftreten sprach.
Der Gedankengang erschöpfte sich nach einigen Minuten und schließlich versuchte sich die Diebin erneut aufzurichten, um sich umzusehen. Die Kopfschmerzen pochten zwar noch immer, aber zumindest der Schwindel war gewichen. Der Horizont färbte sich gerade in zaghaftem Rosa. Und was mache ich jetzt?
Mareans Züge flackerten auf, wie immer mit einem strengen, wenig erfreutem Ausdruck. Wie lange hatte sie ihn nun schon nicht mehr gesehen? Einen Monat? Schlechtes Gewissen regte sich im Hintergrund. Vielleicht war es Zeit, mal wieder nach ihm zu sehen. Wer weiß, vielleicht finde ich ja dort einige Antworten. Vielleicht ist ja er meine Weggabelung. Immerhin ist er mit der ganzen Sache von damals irgendwie verbunden. Mhm. Doch dann muss ich auch wieder an dich denken, Rotander. Du hast mich sicher nicht vergessen, oder?
Ein Schaudern floss wie Eiswasser ihren Leib herunter und für einen längeren Moment brachen einige Kanten der Realität ab und wurden mit verharrenden Erinnerungen ihres Traumes ersetzt. Aus irgendeinem Grund trieb die Impression von Frost auf ihren Lippen Feuchtigkeit in ihre Augen. Mit verschränkten Armen hielt sie sich selbst für mehrere Atemzüge fest, bevor sie sich innerlich straffte und langsam und betont leise aufstand.
Sie blickte unschlüssig auf die noch immer fest schlafende Rielaye hinab, bevor sie sich abwandte und in Richtung des Lagers aufbrechen wollte.
Die Züge der Schlafenden gingen ihr jedoch nicht aus dem Kopf – und auf einmal kehrte eine noch fehlende Erinnerung zurück. Rielayes Züge, für einen Augenblick scheu und zurückhaltend, so ungewohnt, so vorsichtige, weiche Worte – und Ekatalin ahnte sich leicht erröten, als sie an ihre eigene Antwort und ihr Versprechen dachte.
Bei den spottenden Göttern, wie betrunken bin ich gewesen? Und nicht nur ich..
Sie wandte sich zurück zur Liegenden. Der friedliche Ausdruck in ihrem Gesicht erschien auf einmal nicht mehr nur mit Ruhe erfüllt und etwas Hintergründiges, Ungewisses lauerte hinter den hellen Zügen. Ohje, ohje, ich kann sie wohl jetzt kaum so zurücklassen. Wie konnte ich mich nur so selbstsicher geben? Was soll ich tun? Eine Nachricht hinterlassen?
Sie hatte nicht viele Möglichkeiten eine Nachricht zu hinterlassen – ein suchender Blick über die verwilderte Wiese bot wenig zuerst wenig Anhaltspunkte, bevor unscheinbare Farbflecken ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Einige dutzend Atemzüge später legte sie ein kleines Bündel Blumen vorsichtig neben den Kopf der Schlafenden. Kritisch betrachtete sie ihr Werk, runzelte die Stirn über den langen Grashalm, mit denen sie die Blumen zusammengebunden hatte und kämpfte mühsam die Versuchung nieder den Strauß wieder aufzuheben und weit weg zu schleudern. Endlich schaffte sie es, sich abzuwenden. Das ist viel zu kitschig. Unvorstellbar. Sie wird mich für verrückt halten. Verrückt und verzerrt. Verflucht, warum bin ich so durcheinander?
Ich werde mich einfach für die Blumen entschuldigen, wenn ich sie wieder sehe. ‚Ich war noch betrunken’, ‚Tja, ich mag einfach Margeriten’ und ‚Ich dachte, ich sollte irgendetwas hinterlassen’. Wunderbar. Ja.. Ja. Sicherlich.


Ihre ersten Schritte waren schließlich unstet und etwas schwankend, doch bald fand sie einen Rhythmus, der sie schwerfällig zurück durch den bevorstehenden Morgen nach Löwenstein bringen sollte. In ihrem Rücken verfärbte sich der Horizont abermals, als eilige Regenwolken aufzogen, die das Morgenlicht verbargen. Ekatalin nahm dies nicht wahr, aber wenn sie in die Richtung geblickt hätte, wäre sie erfreut gewesen. Ein klarer Himmel hätte sie zu sehr an das einsame Amphitheater in ihrem Gespenstergebirge erinnert.



Schatten (Regen) in seinem Gesicht.



Eisiges Wasser griff hart und abrupt nach ihrem Leib, trieb ihr ächzend die Luft aus den Lungen und ließ sie die bloße Idee verfluchen, ihrem Impuls gefolgt zu sein.

Sie hatte nur eine kleine Pause einlegen wollen, auf einer idyllischen, einsamen Lichtung mitten im Wald. Begrenzt von Bäumen und einen kleinen, trägen Fluss, der den Buchenwald durchschnitt und hier einen rauen Strand aufgeworfen hatte wirkte dieser Ort nicht von dieser tristen Welt. Sie hatte sich ins Gras gelegt, die Arme unter dem Kopf und den Insekten gelauscht – und war prompt eingeschlafen. Es war ein angenehmer Schlaf, voller Wärme und Frieden, auch wenn sie sich nach ihrem Erwachen an keinen Traum erinnern konnte. Tatsächlich hatte sie die Sonne geweckt, die mit voller Kraft auf sie herab geschienen hatte. Der entstandene Schweiß fühlte sich in der Verbindung mit der Hitze und der pollengeladenen Luft unangenehm genug an, dass sie der Fluss mit dem Angebot eines Bades geradezu anflehte.

Ihre fruchtlose Suche nach Marean hatte sie nach fast zwei Wochen derartig angeödet, dass sie mehr oder minder aus der Stadt geflohen war um sich etwas Abwechslung zu gönnen. Seit ihrer Flucht aus Ravinsthal war sie nicht mehr wirklich dazu gekommen den Frieden und die Einsamkeit eines richtigen Waldes zu genießen. Es war eigenartig – keine hundert Schritt von der Strasse ab, zwischen Unterholz und trockenem Moos, unter tiefgrünen Blättern und gelegentlich hindurch stechenden Sonnenstrahlen war all das Streben ihres sonstigen Lebens wie verschluckt und vergessen. Ohne konkrete Gedanken hatte sie sich wie ein Blatt in einem Fluss treiben lassen, an Bäumen vorbei und über alte Steine hinweg. Wie ein treibendes Blatt wurde sie schließlich an das Ufer des Waldes – die Lichtung – gespült.

Nackte Füße hatten sie bereits ahnen lassen, wie kalt das Wasser im Vergleich zu der Sommerhitze war – doch der klare Fluss übte eine zu große Verlockung aus. Für lange Momente stand sie in der nassen Mischung aus Erde und Sand an der Grenze zwischen Wald und Lichtung und Wasser und hielt sich an einem schief gewachsenen, dünnen Baumstamm fest. Das Zögern füllte sich mit tiefen Sinneseindrücken – die kühle, feuchte Luft auf der einen, der heiße Sommerhauch auf der anderen Seite, das leise Plätschern kleiner Wellen, die sich an Steinen brachen, dem gegenüber das Zirpen der Insekten schrill und das Zwitschern von Vögeln fern und leise erschien. Sonnenstrahlen brachen sich blendend im Wasser und dunkle Schatten lagen unter den Bäumen – der Geruch von nassem Laub und reifer Wiese erfüllte die Luft, und Graßhalme und ein kaum spürbarer Lufthauch berührten ihre nackte, verschwitze Haut.
Die Diebin biss schließlich die Zähne zusammen, strich sich die Haare aus dem Gesicht und trat voran. Sie stand auf einem glatt geschliffenen Felsen, der beinahe die Wasseroberfläche durchbrach. Vor ihr hatte der Fluss ein Becken geschaffen und auch wenn der Grund in seiner Klarheit fast zum Greifen nahe erschien, wusste sie doch um die Illusion. Ein tiefes Luftholen, und Ekatalin sprang in den Fluss.

Nachdem der erste Schock vergangen war und sie sich halbwegs an die umklammernde Temperatur gewöhnt hatte, erwachten erste Zweifel an der Sinnigkeit ihres Verhaltens. Sie war nicht die beste Schwimmerin und zum einen kannte sie den Fluss nicht, zum anderen wäre niemand in der Nähe, der sie hätte retten können. Wie erwartet war der Grund nicht mit den Füßen zu erreichen und sie sah ihren Leib grotesk verzerrt unter der Wasseroberfläche strampeln. Auf einmal schienen die Steine und vermoderten Holzstücke am Grund unerreichbar fern.
Ein dunkler Fleck inmitten einer kleinen Sandfläche erweckte ihre Aufmerksamkeit und vertrieb die Sorgen. Was ist denn das? Unangemessene Neugierde ließ sie gegen den Strom schwimmen um an Ort und Stelle zu bleiben. Sie glaubte einen Stein zu erkennen, doch sie war sich nicht sicher. Wieder griff ein Impuls nach ihr und mit einem tiefen Atemzug tauchte sie ab.
Da sie noch viel weniger Erfahrung im Tauchen als im Schwimmen hatte, schrie eine kleine Stimme in ihrem Kopf ungläubig auf – doch die Veränderung der Welt in diesem nassen Medium erfüllte sie mit genug Verwunderung, dass diese Stimme sogleich wieder ertrank.
Der Blick unter Wasser entzerrte ihre Glieder und der Grund rückte in angemessene Tiefe – nicht mehr unerreichbar, aber noch immer recht fern. Gänsehaut überzog ihre Arme, die offenen Haare ließen sich nur widerspenstig durch das Wasser ziehen und die Augen blickten durch ungewohnte Kälte.
Vielleicht sahen ihre Schwimmbewegungen tollpatschig aus, aber sie fühlte sich frei und stark und gewandt. Die Geräuschwelt beschränkte sich auf ein dumpfes Rauschen, auf ihren Herzschlag und der gelegentlichen, blubbernden Luftblase, die ihrer Nase entkam. Sie näherte sich langsam dem Grund und der Wunsch auszuatmen wurde stärker und stärker. Unbekannter Druck hämmerte auf ihre Ohren, doch nach zwei weiteren Schwimmzügen war der schwarze Fleck zum Greifen nahe. Sand wirbelte zwischen fahlen Fingern auf, und sie berührte geschliffenen Stein. Eine Welle von Wehmut und Freude, Melancholie und Sehnen überschwemmte ihr Herz und sie riss den Kiesel an ihre Brust. Sie verharrte mit geschlossenen Augen für mehrere pochende Herzschläge.
Das Verlangen nach Luft wurde jedoch schnell zu einem schmerzlichen Befehl und sie stieß sich hastig vom Boden ab. Noch im Aufsteigen hob sie den Stein vor ihre Augen und versuchte ihn zu betrachten. Luft entfloh ihrer Lunge und zumindest der schmerzhafte Druck auf ihren Ohren verblasste.
Zwischen den Blasen und den schimmernden Farben sah sie einen schwarzen Kieselstein in ihren Händen, glatt geschliffen, grundsätzlich Eiförmig und zugleich etwas lang gezogen und geplättet. Dünne Adern braunroten Minerals durchzogen die Schwärze gleichmäßig, wie windbewegte Haare in der Nacht. Was bist denn du für ein hübscher Stein?
Sie spürte sich glücklich lächeln.
Ekatalin blickte nach oben und sah die Wasseroberfläche auf sich zukommen. Sommersonnenstrahlen brachen sich und glitzerten verlockend.



Löwenstein, mehrere Stunden später.

‚Warum starrst du so, kleines Echo? Lass’ mich in Frieden – ich habe genug von euch Gespenstern.’

Schwere Regentropfen schlugen hart und unerfreulich auf ihr Gesicht. Der Geruch von nassem, modrigem Holz erfüllte die Luft. Schmerz stach wie nebensächlich in ihre Seite, als würde sie zur Hälfte in einem Lagerfeuer liegen. Nur mit Schwierigkeiten konnte sie die Lider öffnen und was sie erblickte war alles andere als erbaulich. Über ihr war nur ein verregneter Nachthimmel zu erblicken – stern- und mondlos, finster und abweisend. Sie war umringt von gestapelten Holzbalken und Mauerwerk, das sich auf drei Seiten aufbäumte. Überhängende Dächer schränkten den Blick in den Himmel ein. Regen fiel rauschend herab und durchnässte Umgebung und ihre Kleidung. Erinnerungsfetzen rissen leise an ihrem verwirrten Bewusstsein, doch nichts wirklich konkretes traute sich dann tatsächlich vorzusprechen.
Sie versuchte sich aufzurichten, doch der dumpfe Schmerz in ihrer Seite schrie unerwartet schrill und gellend laut auf und mit einem kraftlosen Wimmern gab sie sogleich wieder auf.
Aufwallende Panik ließ sie hektisch atmen und sich zu wehren – aber Schmerz und Kraftlosigkeit hielten sie an Ort und Stelle. Erst nach langen, langen Augenblicken legte sich ihr vergebliches Kämpfen. Der erneute Versuch sich zu erinnern förderte einige Bruchstücke hervor, die sich zu einem wenig erquicklichen Bildabschnitt zusammensetzten.

Sie sah sich auf einem Dach – eines derjenigen über ihr – hinter einem Schornstein kauern. Sie war schrecklich verängstigt und als der Regen einsetze gesellte sich noch die Erkenntnis dazu, in einer rutschigen Falle zu sitzen. Die Schieferschindeln waren selbst zu trockenen Zeiten glatt und verräterisch und im Grunde nichts, womit sich die Diebin gern auseinandersetzte, doch in diesem Fall. Was.. hat mich da hinaufgejagt? Das würde ich niemals ohne Grund…
Ein Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf. Haarlos, dick, breites Lächeln, kalte Augen.
Rotander. Rotander. Warum?
Der Rest des Abends kehrte auf einmal klar und brutal zurück.

Sie war nach ihrem Waldausflug wieder nach Löwenstein zurückgekehrt, hatte gegen Abend noch etwas Essen erworben und wollte es sich dann auf einem einsamen Pier gemütlich machen, bis sie feststellte, das der einsame Pier nicht so wirklich einsam war. Nach all der Suche hätte sie nicht mehr damit gerechnet, Marean noch einmal zu sehen, aber da war er – als wäre er nie weg gewesen saß er auf einer Treppe und schnitzte mit seinen langen Fingern an irgendeiner Holzfigur herum. Natürlich hatte sie sich gefreut ihn zu sehen, doch schon nach wenigen Worten fiel ihr wieder ein, dass sie keineswegs eine einwandfreie Freundschaft pflegten. Dennoch konnte sie sich normal unterhalten, und die lange Zeit seines Verschwindens schmolz dahin. Im Grunde war es ein schöner Abend.
Bis Rotander kam.
Wie aus dem Nichts, wie er schon zuvor immer erschienen war, trat er unverhofft um eine Ecke, und die Welt schien sich um ihn zu sammeln und sich zu verbeugen. Ekatalin wurde auf der Stelle von kaltem Brechreiz, heißer Angst und leerer Hoffnungslosigkeit verschlungen. Selbst jetzt ließ der Gedanke an den dicken Mann ihre Glieder erzittern und ihre verletzte Seite aufjaulen. Wie aus einem Traum stammte die Szene, die sich in ihrer Erinnerung abspielte – sie selbst wie ein Sack aus bibbernden Knochen in einer Ecke, unfähig sich zu äußern oder zu regen, während Marean aus irgendeinem Grund unbeeindruckt versuchte zu verstehen und schließlich Rotander zu vertreiben. Oh Marean, du tollkühner Narr. Oh Nein, oh nein..
Ungebeten erlebte sie noch einmal die Auseinandersetzung. Sie hatte noch nie einen derartigen Kampf gesehen. Marean schlug sich besser als sie es sich erträumt hatte, doch es dauerte dennoch keine zwei Atemzüge, bevor der unwahrscheinlich schnelle und brutale Rotander auf ihm saß und seine mächtigen Fäuste in das Gesicht seines Opfers schleuderte. Und das mit einem Ausdruck in den dicken Zügen, der das Herz der Diebin zu stoppen versuchte. Keine Wut, kein Spott, keine Überlegenheit, einfach nur leicht interessierte Freude, als würde er etwas Nettes tun, zu dem er nicht allzu oft die Gelegenheit hatte.
Sie sah Mareans Augen ein zweites Mal brechen und spürte sich ein zweites Mal wieder überraschend von der lähmenden Furcht befreit – nun, zumindest von der Lähmung.

Sie rannte. Heiße, stumme Tränen fielen wie Vorboten des kalten Regens auf das trockene Pflaster. Sie glaubte eilige Schritte hinter sich zu hören und ohne zu zögern sprang sie eine Außentreppe eines Hauses hinauf, schwang sich zur Dachkante hin und zog sich mit verzweifelter Kraft in fragwürdige Sicherheit.
Leiser floh sie weiter und irgendwann bot ihr ein Schornstein einen fragwürdigen Schutz. Dann setzte der Regen ein. Sie machte einen unglücklichen Schritt. Sie rutschte aus und wurde erst von einem Stapel morscher Holzbalken zwei Stockwerke unter ihr aufgefangen.

Aus irgendeinem Grund machte sie sich vor allem Sorgen, den Stein, den sie zuvor im Wasser des Waldflusses gefunden hatte, irgendwie durch den Fall zerbrochen zu haben. Sie trug ihn in ihrer Gürteltasche, doch da jede Bewegung ihr den Atem nahm, konnte sie nur Hoffen. Ein einsamer, rationaler Teil versuchte den Schaden zu ermessen, den sie durch den Fall davongetragen hatte. Diverse vorsichtige Bewegungsversuche beschränkten den meisten Schmerz auf ihren rechten Arm und ihren Brustkorb auf dieser Seite, während die anderen Glieder zwar schwerfällig und wie in Teer gebettet schienen, aber halbwegs reagierten.
Arm ist wahrscheinlich gebrochen. Rippen vielleicht auch. Bestimmt sehe ich aus wie eine Leiche. Ob der Stein in Ordnung ist? Verdammt, der sollte ein Geschenk werden. Das wäre sicher schön geworden. Wieso taucht dieser Fettsack gerade heute auf?
Ob Marean wohl in Ordnung ist? Denke eigentlich nicht, dass man so etwas unbeschadet überstehen kann. Oh Marean. Du dreifach verfluchter Narr..
Was tue ich jetzt nur? Warum bin ich nur so schwach und hilflos?


Die leise innere Stimme verstummte, als sie Tränen spürte, die sich mit dem hämmernden Regen vermischten. Die Nacht war noch nicht alt. Sie wünschte sich, jemand ganz bestimmtes würde sie hier finden.




Chisano und Itramin



Weder Papier noch Geschriebenes, Bücher und Gedichte hatten bisher eine große Rolle in ihrem Leben gespielt, so dass die wenigen Zeilen auf dem einzelnen Blatt wie unbekannte, komplizierte und wundersame Mechanismen in der gesunden Hand der Diebin lagen. Der Morgen war bereits vergangen, die Sonne schien zwischen den vereinzelten Wolken hindurch und das Geschrei der Möwen tränkte den Hafen in bekannten und erwarteten Lauten. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie einen ruhigen Ort gefunden hatte, und noch ein wenig länger, bis sie jedes Wort richtig entschlüsselt hatte. Ich werde sicherlich nicht zugeben, dass ich das nicht sofort lesen konnte. Blöde, schöne Schnörkel. Wenigstens ist nichts verwischt. Blöde, schöne Tränen.
Die Nacht zuvor hatte vieles gebracht, nicht nur dieses Gedicht. Die begreifende Erleichterung hatte sie schließlich heute morgen überrollt.
Ekatalin ließ die Beine über dem Wasser baumeln, lehnte an einem leeren Fass am Pier und blickte abwechselnd in die von Wellen zerbrochene Sonne im Meer und in die hundertfach gelesenen Silben. Ihr gebrochener linker Unterarm strahlte leichten, dumpfen Schmerz aus, was die Vollkommenheit des Momentes in keiner Weise beeinträchtigte. Die Schönheit des warmen Sommertags hatte sie überrascht, wie die milde Realität beim Augenaufschlag nach einem bösen Traum.

Seit ihrem Zusammentreffen mit Rotander, dem Tod Mareans, ihrer Flucht, ihrem Fall und ihrem Aufprall waren vier Wochen vergangen. Die Zeit hatte sich zu einem quälenden Dahinkriechen verlangsamt, erfüllt von Verfolgungsängsten, Schmerzen und der Sehnsucht nach tröstender Umarmung. Das Gesicht des dicken Mannes, seine fliegende Kraft und brutalen Fäuste hatten bis jetzt ihre Gedanken immer wieder und ungebeten erobert, soweit, dass sie sich kaum noch auf einfaches Überleben konzentrierten konnte. Die Tage verbrachte sie in einem verlassenen Schuppen, versteckt und unruhig, und nur die abendlichen und nächtlichen Schatten hatten es ihr erlaubt, für eine Weile vorsichtig in den dunklen Gassen der Hauptstadt herumzuschleichen. Dass sie seitdem nicht mehr auf Rotander getroffen war, zählte sie als bemerkenswerten Sieg. Ich bin im Augenblick mehr Geist als Mensch. Eigentlich ein Wunder, dass Rielaye mich gefunden hat. Und wie feige von mir vor ihr fliehen zu wollen. Hatte ich da Angst vor ihr? Und ich wurde schon wieder einfach so gefunden. Langsam wird es unheimlich. Naja, nicht dass ich mich diesmal beschweren würde, aber irgendwie..
Unweigerlich wehten jedoch weitere Erinnerungen an den Verlauf der Nacht heran und erstickten die Unsicherheit mit einem Duft nach Stroh und Süße. Wie ein kleines Stück Holz trieben die Gedanken über das Meer.

Wellen schwappten beschäftigungslos an den steinernen Pier unter ihr, einzelne Krabben suchten im Schatten unter ihr nach Nahrung und ab und an zuckten Schwärme kleiner Fische durch das beinahe klare Wasser. Für sie war der Anblick dem Aufschlagen eines neuen, hoffnungsvollen Kapitels im Buch einer düsteren Geschichte gleich. Ihr Leib drängte mit Verwunderung und Verlangen nach einer Berührung, nach Berührungen, doch die Diebin wagte es nicht, sich in der warmen Sonne zu bewegen und die wohle Erinnerung zu vertreiben.
Sie musste sich schon eine Weile lang nicht mehr bewegt haben, denn unvermittelt landete eine Möwe unter Flügelschlag und plötzlichem Wind keine zwei Armlängen neben ihr. Das Tier schritt auf ein zusammengerolltes Tau zu und hackte mit dem gelben Schnabel unbestimmt zwischen die Seile. Als sie dort nicht zu Fressen fand, verharrte die Möwe in kurzer Muße. Für einen Moment erwiderte der Vogel Ekatalins Blick, dann nahm es gemächlich Anlauf, bevor es mit schlagenden Flügeln über die Kante sprang und davon flog. In den Pupillen der Möwe brannte die Reflektion der Sonne wie rotes Feuer vor der Schwärze der gestrigen Nacht.
Die Diebin erinnerte sich an den Kiesel, den sie Rielaye geschenkt hatte. Ungewissheit loderte auf und lies sie für einen Moment das Blatt Papier unter ihren geschienten Arm klemmen, um die ehemalige Behausung des Steins an ihrem Gürtel zu befühlen. Die suchenden Finger fanden lediglich komplizierte Leere vor.
Seitdem sie den Kieselstein irgendwo im Wald aus dem Fluss geborgen hatte, war er zu einer Art Versprechen geworden, dass sie seit dem Tag von Mareans Tod am Leben gehalten hatte. ‘Wenn ich sie wiedersehe, will ich diesen Stein Rielaye schenken.’
Der Griff an ihre Gürteltasche war beinahe so etwas wie ein Gebet geworden, wenn sie sich von den blutigen Geschehnissen überfallen fand. Dass sie den Stein am selben Tag des Unglücks mit Rotander gefunden hatte, war ihr von Beginn an wie ein Omen erschien.
Aber auch wenn er nun der richtigen Person gehörte, vermisste sie seine dunkle, glatte Oberfläche, in der sich Leid und Sehnsucht zu spiegeln schien. Sie hatte oft versucht die über die Oberfläche wehenden, feinen, rostfarbenen Adern zu zählen, aber sie hatte jedes mal verwundert und verwirrt aufgegeben. Mit etwas Wehmut dachte sie daran, dass sie Rielaye nicht gezeigt hatte, wie der Stein zum Leben zu erwachen schien, wenn man ihn unter Wasser hielt.

Ein plötzlicher Impuls vertrieb das Verlustgefühl. Sie rollte das Blatt Papier wieder zusammen und verknotete die Kordel, ganz so wie sie das Geschenk vorgefunden hatte. Mit einem breiten Lächeln steckte die festgehaltenen Gefühle in die verlassene Tasche an ihrem Gürtel. Die Geste, der Griff an ihre Seite, fühlte sich nun nicht mehr nach vager Hoffnung, sondern nach etwas Gefundenem, Vertrautem an.

Die Wärme des Tages wurde irgendwann zu Hitze und ein wenig unwillig und träge rückte Ekatalin dem Schatten nach, der langsam von ihr davon sickerte. Nicht weit von diesem Ort hatte sie das einzige Gespräch mit einer anderen Person während diesem folternden Monat geführt. Schlechtes Gewissen flackerte auf, als sie sich an den Kuss Kennans erinnerte, den sie zwar strikt verweigert hatte, der aber doch stattgefunden hatte. Die ganze Situation hatte sie derartig verwirrt, dass sie das ganze Thema regelrecht weggesperrt und verdrängt hatte. Er hatte wohl schon seit einer geraumen Weile auf so eine Gelegenheit gewartet, und sie war ehrlich gesagt ziemlich überrascht, dass er tatsächlich so viel Mut gefunden hatte. Sie konnte das schlechte Gewissen auch jetzt noch nicht wirklich einordnen. Mit vager Unruhe versuchte sie die Reichweite von Emotionen zu erfassen. Habe ich ihn verletzt? Sicherlich. Aber weswegen eigentlich? War es meine Furcht oder waren es meine Gefühle? Bah, dahin geht meine gute Laune. Verdammter Kennan. Dabei bietet er mir so ungeheuerliches an.
Tatsächlich hatte ihr der braunhaarige Mann einen Weg gewiesen, der sie völlig überrascht hatte. Statt einem Dasein voller Furcht und Flucht gab es für einen harschen Wegzoll die Aussicht auf genug Kraft, um ein Bestehen gegen Rotander nicht mehr wie einen schlechten Witz aussehen zu lassen. Aber könnte ich den Preis dafür zahlen? Einen Menschen mit voller Intention und ohne gerechte Absicht zu töten? Warum lieben diese Mächte Blut so sehr? Das war auch schon bei Ophelia so. Makaber.

Könnte ich es wirklich tun? In sterbende Augen zu blicken, die mich nach einem ‘Warum?’ fragen, voller Schmerz und Unverstehen? Das Blut auf meinen Händen ertragen? Lediglich für etwas Sicherheit? Nur um jemanden anderen beschützen zu können?

Kein Zweifel, Sicherlich.
Tut mir leid, Unbekannte, Unbekannter.


Im Schatten vor der jetzt gleißenden Sonne tauchte das Bild des Kiesels ungefragt in ihren Gedanken auf. Auf einmal verstand sie, weshalb so viel Trauer, Schmerz, Erfüllung und Verlangen zwischen den blutigen Strähnen in der steingewordenen Dunkelheit lauerten.
Wie eine schüchterne Blume öffnete sich Erkenntnis und lautlose, überraschte Tränen begleiteten die Geschichte von Chisano und Itramin, einer Geschichte von der Liebe zwischen Nacht und Herbst.


Herbstrotbrauner Sorgenfang (Kalte Finger auf weicher Brust)


‘Geht es dir gut?’ ‘Habt ihr meinen Sohn gesehen?!’ ‘Haltet ihn fest, so kann ich die Wunde nicht nähen!’ ‘Oh Mithras, beschütze uns!’ ‘Was ist geschehen?’ ‘Zu den Waffen, alle kampffähigen Männer und Frauen zu mir!’
Der Lärm von unruhigen Flüchtigen, alt, jung, reich und arm wurde durch Weinen, Schmerzenswimmern und dem Geschrei erschrockener Säuglinge gefärbt und erfüllte die sonst sicherlich ruhige und ehrwürdige Kirche mit unverholenem Schrecken. Die Diebin suchte sich einen halbwegs abgeschiedenen Platz, aber überall hatten sich die verschreckten Menschen verteilt, als gelte es kleine, unsichtbare Parzellen innerhalb der Kirche für sich und die Lieben zu verteidigen.
Sie fand nach einer Weile auf einer Bank Platz, neben ihr eine ältere Frau, die zwar schweigsam war, aber ununterbrochen vor und zurück wippte und dabei eine lautlose Litanei wiederholte. Sie starrte mit geweiteten Augen zum Altar, der von den Dienern dieses Gottes umringt war. Die anderen Menschen um sie herum verschwammen zu gesichtslosen Wesen, die mit ihrem eigenen Leid und ihrer eigenen Angst genug zu tun hatten.
Ekatalin war in düstere Verwirrung getaucht. Sie war ohne allzu große Sorgen in der Taverne am Marktplatz eingekehrt, wo sie sogleich von einer Wache mit gezückter Streitaxt eindringlich aufgefordert worden war, die Kirche aufzusuchen.
Sie wagte nicht zu diskutieren, auch wenn sie dem Mann am liebsten einen Stuhl ins Gesicht geworfen hätte. Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte sie erkannt, dass mehr als nur die gewohnte Großmäuligkeit und Angeberei der Wachen für ihre Verlagerung verantwortlich war. Als sie bald darauf durch die Portale des Gotteshauses trat und von den nach Angst stinkenden Lauten der Menschen umspült wurde, ahnte sie, dass auch der Wachmann Furcht gehabt haben musste.

Die ersten Stunden in der Kirche waren bedrückend. Das urplötzliche Eintauchen in die jammernde Flüchtlingsmasse hatte ihre ruhevolle Steinkuppel zertrümmert, hinter deren Bruchstücken die bekannten, halb vergessenen Berge ihrer Furcht lauerten. Noch bevor sie auch nur auf die Idee kam, nachzufragen was geschehen sei, hatte sie schon angefangen in der Menschenmenge nach Rotander Ausschau zu halten. Doch der Anblick dicker Menschen war sehr selten und die, die sie erblickte, hatten nichts mit dem Mörder gemein.
Aus der momentanen Erleichterung wurde jedoch schnell wieder Unruhe und sie begann ungeduldig nach Informationen zu lauschen.
Sie hörte Gesprächsfetzen über einen Kampf, Bruchstücke über Hexerei und Wahnsinn, doch fand keinen Faden, mit dem sie daraus einen Sinn hätte weben können. Sie stand auf, um der stummen, wippenden Frau neben sich zu entkommen, doch der nächste freie Platz war nahe an den notdürftigen Lazaretten und der Geruch nach Blut und Angst und Urin war hier noch schlimmer. Sie ging weiter, nahm sich einen der von den Gottesdienern ausgeteilten Eintöpfen und schaffte es kaum, drei Löffel zu essen. Sie kehrte mit noch schlechterer Laune wieder an ihren vormaligen Platz zurück und fand ihn von einem Mann besetzt vor, der sich die Hände vor sein bleiches Gesicht geschlafen hatte und wie die noch immer wippende Frau neben ihm schwer geschockt erschien.
Ekatalin fühlte sich verloren. Das Leid um sie herum hatte sie längst angesteckt und nur mit Mühe hielt sie sinnlose Tränen zurück. Mit einiger Überwindung sprach sie den sitzenden Mann letztendlich an, mehr um ihn zum aufstehen zu bewegen als zu erfahren, was geschehen sei. Unerwarteter Weise konnte sie ihn aus seiner Erstarrung befreien und unterhielt sie sich dann tatsächlich für eine Weile mit ihm. Der Mann erzählte vom Erscheinen eines mächtigen und schrecklichen Magiers, der durch Löwenstein wandelte, Angst und wandelnde Gerippekrieger beschwor und sich ihm widersetzende Recken auf mystische Weise zum Platzen brachte.
Die Geschichte erschien märchenhaft genug, dass sie ihm zuerst nicht glauben wollte, aber die bedrückende Atmosphäre in der Kirche und ihre eigenen Erinnerungen an Rotander und ihren eigenen Gespenstern vertrieben den Zweifel rasch, um sie mit bitterer Gewissheit zu ersetzen. Sie erinnerte sich an eine kalte Stimme, die in ihrem Kopf um ihren Selbstmord gebeten hatte - sie hatte sich nicht viel dabei gedacht, den das war nicht wirklich etwas außergewöhnliches für sie, aber anscheinend hatten alle Menschen hier diese Stimme vernommen, was deren Verfassung durchaus erklärte.
Sie sprach noch eine Weile mit dem armen Mann, der mit dem schrecklichen Zauberer Auge in Auge gestanden hatte und versuchte ihn unbeholfen zu beruhigen, bevor die untergründigen und wachsenden Sorgen um Rielaye die Aufmerksamkeit von ihrem Gesprächspartner wegtreiben liesen. Sie begann erneut herumzulaufen und suchte zwischen den eingepferchten Menschen nach schwarzen Haaren, ununterbrochen, doch sie sah nur Fremde und Unbekannte und dazwischen ihr verwelkendes Zeitgefühl. Nichts als sorgengerahmte Gesichter, die keinen Blickkontakt aufrechterhalten wollten und nichts als Leid und Gestank und Sorge und schwindendem Tageslicht, das ihre Augen bald vor größere Schwierigkeiten stellte. Es wurden zwar Kerzen entzündet, aber der unstete Schein reichte nicht weit genug um alle ängstlichen Augen zu erreichen. Gedanken an die Schwarzhaarige trieben sie immer weiter. Sie täuschte sich mit der Vorstellung Stark an ihrer Seite sein zu können, sie zu beschützen und beschützt zu werden und warme Finger in ihrer Hand zu spüren über ihre Müdigkeit und Erschöpfung hinweg. Sie hoffte inständig, dass Rielaye nicht in der Stadt gewesen war, als der bösartige Hexer erschienen war. Der Gedanke, die Kirche zu verlassen und draußen zu suchen erschien in diesen Momenten absurd.
Es fiel Ekatalin schwer ihre Suche aufzugeben, doch mittlerweile war sie eine der wenigen, die noch immer stolpernd umherirrten, während der Rest in Erwartung der Nachtruhe bereits etwas zur Ruhe gekommen war. Noch immer waren Stimmen und schmerzerfülltes Stöhnen zu hören, aber der Lärm unterdrückter Panik war verweht. Taube, sich enthüllende Erschöpfung trieb sie zu einem der gerichteten, qualvoll engen Nachtlager und sie hatte sich kaum zugedeckt, als sie mit verworrenen Gedanken an schwarze Haare in einen unruhigen Schlaf fiel.

Das schrille Kreischen eines Säuglings riss sie aus der Ruhe. Das Geschrei wurde von der Mutter rasch erstickt, aber die Diebin hatte bereits die Augen geöffnet. Sie war halb von der dünnen Matte gerutscht, lag mit der Schulter auf den harten, kalten Steinfliesen und noch bevor sie sich überhaupt bewegte, wusste sie, dass sie sich völlig verspannt hatte. Die Schläfrigkeit war wie von einem faulen Wind weggeblasen. Vorsichtig und trotzdem zu schnell erhob sie sich, blinzelte mit verzerrten Zügen in das Zwielicht und sah über die meist noch schlafenden Schutzsuchenden hinweg.
Durch die hohen, bunten Kirchenfenster sickerte mattes Morgenlicht und der gestern noch so ferne Gedanke an die Welt außerhalb der Kirche prangte wie ein gleißendes Banner in ihren Gedanken. Sie schlang ihr Laken um ihre Schultern, trat vorsichtig über schlafende Leiber und klaubte sich etwas der bereitgestellten, spärlichen Nahrungsmittel zusammen.
Jeder Bissen Trockenfleisch zog wie eine Spur Flammen ihren Nacken herab. Das trockene Weißbrot erinnerte sie an ihren Durst, doch die Erinnerung an das abgestandene Wasser und Bier überzeugten sie, schnellst möglichst die Kirche zu verlassen.
Schroffe, feuchte Morgenkälte umschlang sie begierig wie ein Sumpf ein neues Opfer. Die Wachen, zusammengesunken und erschöpft, starrten sie wortlos und müde an, als sie die Treppen hinunterging, verfolgten ihre einsamen Schritte über den Marktplatz und erst als sie in einer der Gassen verschwand, fühlte sie sich endlich entkommen.

Vager Nebel hing zwischen den Häusern und befeuchtete Stein und Holz und Ziegel. Ekatalin fror, doch wenn sie schneller gehen wollte um sich aufzuwärmen, wurde jeder Schritt unerträglich. Sie versuchte sich selbst den Nacken zu massieren, doch ohne spürbaren Erfolg.
Die Straßen waren wie ausgestorben. Sie war die Einsamkeit der Stunden vor dem Morgen gewohnt, aber um diese Uhrzeit sollten bereits dutzende Menschen aus den Häusern sein. Befremdliches Schweigen lag über der Stadt, und nur gelegentliche, raue Vogelrufe und ihren eigenen, hallenden Schritten drangen durch den Nebel. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Flucht aus der Kirche beschlossen hatte, war völlig dahin. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wusste nicht, wo sie Rielaye finden konnte.
Sie ging zum alten Hafen, dorthin wo die Gesuchte ein Zimmer hatte, fand sie nicht, sie ging zu diversen Treffpunkten, Tavernen und Verstecken, fand sie nicht, sie suchte sogar den einsamen Wachturm über dem Hafen auf und fand sie nicht.
Der Nebel wollte nicht weichen. Noch immer hatte sie niemanden gesehen. Die Türen und Fenster sahen aus, als hätten sich die Menschen dahinter verbarrikadiert und lauschten ängstlich dem Verklingen ihrer Schritte. Der Nebel wurde dichter, je näher sie dem Meer kam. Die Vogelrufe waren verstummt. Ihre Schritte und Atemgeräusche wurden dumpfer in ihren Ohren. Und ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, begannen Schemen und Schatten in ihren Augenwinkeln zu tanzen, täuschten ihr Bewegung vor, die sie nicht richtig fassen konnte und Getuschel und Gewisper sickerte in ihre Ohren, fern und hell und nah und dumpf und unverständlich. Sie blickte sich abrupt um, stöhnte auf, als ihr Nacken wie von einem Peitschenschlag getroffen wurde, aber wie sie eigentlich bereits geahnt hatte, war niemand zu sehen. Die Eindrücke blieben bestehen und sie erwartete auch nicht dass sie verschwanden, zumindest nicht für eine geraume Weile.

Diese Einbildungen hatten begonnen als ihr gebrochener Arm beinahe geheilt gewesen war. Sie war voller Glück gewesen, hatte die Wärme und die Erfüllung einer frischen, erwiderten Liebe genossen und all die Dunkelheit schien ihrem Leben entwichen. Die ersten Eindrücke waren schleichend gekommen, und nachdem sie diese nicht mehr leugnen konnte, war sie zuerst verängstigt auf der Suche nach einem Schuldigen gewesen, irgendeinem Quacksalber oder Straßenmagier, der ihr einen Streich spielte. Erfolglos. Sie verbarg diese Gespinste vor den wenigen Menschen mit denen sie sprach und selbst gegenüber Rielaye hatte sie nur Andeutungen gemacht.
Nach einigen Tagen hatte sie begonnen, sich an die Trugbilder zu gewöhnen und tatsächlich nahm die Intensität und Häufigkeit der Schübe nach und nach wieder ab. Sie hatte unterdessen irgendeine Verbindung mit Rotander Gallmann befürchtet, denn die Empfindungen die von den tanzenden Schatten und dem dicken Mann ausgelöst wurden, schmeckten eigentümlich ähnlich. In bitterem Sarkasmus hatte sie dann jedoch daran gedacht, dass sie dafür Rotander eigentlich viel zu selten begegnete. Eine andere Idee war eine verlängerte Berührung der beiden Gespenster Chisano und Itramin, doch Ekatalin wagte es nicht wirklich in so eine Richtung zu denken. Die Geschichte, die sie nur mit Rielaye geteilt hatte, war in ihren Augen zu schön, zu unwirklich, ja, zu heilig, um irgendetwas unheimliches damit in Verbindung zu bringen.
Trotz ihrer Bemühungen brachen dennoch einige Fetzen gelegentlich durch ihren hastig erhobenen Schutzschleier. Vor allem die Sorge der Schwarzhaarigen, das Schicksal der beiden Gespenster könnte sich auf sie auswirken - so bizarr der Gedanke auch erschien - hing mit schrecklicher Beharrlichkeit in ihren Hinterkopf fest.

Die klamme Berührung eines Windhauchs riss sie aus den Überlegungen und die bekannten Flüsterstimmen verstummten für einen Moment. Außerhalb ihres Blickfeldes zuckten und wanden sich die Konturen weiterhin, nun aber hektischer, als wollten sie ihrem undefiniertem Gefängnis entfliehen. Schritte erklangen hinter Ekatalin, ein ganzes Stück entfernt und doch das erste Geräusch der Wirklichkeit, dass sie seit einer Weile wahrgenommen hatte. Sie wandte sie sich um, wieder zu schnell, verzog das Gesicht in Schmerzen und sah statt dem befürchteten Rotander eine alte Frau ein Stück die Strasse hinab aus einer Gasse kommen. Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke und Ekatalin spürte ihr Herz stocken. Die Alte war zu weit weg um etwas in ihren Zügen auszumachen, aber der Anblick schlohweißer, langer Locken, riss schwer an der Diebin. Frei und wild umschlangen die Haare den Kopf mit dem steinalten Blick.
Eindrücke drängten sich ihr auf, schmerzvoll, rücksichtslos. Nur für einen Herzschlag voller Schmerzen glaubte sie sich in einem nebligen Wald wiederzufinden, so feucht und klamm wie die Gassen Löwensteins und doch völlig anders. Eine Ruine eines alten Turmes ragte vor ihr aus dem Boden, wie ein zerbrochener Knochen aus einem aufgewühlten, flachen Grab, und Wasserrauschen und schüchternes Vogelgezwitscher unterstrichen das Blitzen einer blendenden Lichtreflektion vom Fuß des Gemäuers.
Die Vision verlosch wie eine Kerze im Sturm. Von der alten Frau war nichts mehr zu sehen und Ekatalin glaubte lediglich noch verklingende Schritte zu hören. Sie bemerkte, wie sie sich selbst umklammerte, zusammengesunken auf den feuchten Pflaster. Der Nebel war lichter geworden und immer wieder spürte sie einen Hauch von Wind auf ihren bebenden Lippen. Ihr war bitterkalt.
Die Stimmen begannen wieder zu wispern und zu flüstern, nicht verständlicher als zuvor, und nur ein wenig aufgeregter. Schwerfällig stand sie auf und schleppte sich zur nächsten Wand, um sich dort anzulehnen. Sie wusste nicht, ob sie nun weinen sollte, oder überhaupt könnte. Ich verliere den Verstand, oder? Warum? Was habe ich getan? Ist das deine Rache, Rotander? Ich wage es, mich vor dir zu verstecken? Ich wage es, etwas anderes als Angst zu empfinden? Verdammter Dreckskerl. Verdammt, Verdammt, Verdammt.

Es dauerte lange, bis die Diebin wieder aufbrechen konnte. Die aufgeblühte Verzweiflung war nur schwer zu schlucken, und am Ende war es wieder die Sorge um Rielaye, die sie weiter drängte. Die Zeit verwehte wie der Nebel zwischen den Gassen und ohne die Gesuchte zu finden war bald der Mittag vorbeigegangen und mit ihm auch ihre Kräfte.
Im Grunde war es ein schöner Tag im Herbst - nur einige Wolken verdeckten das durchdringende Blau des Himmels und die Sonne spendete einen Anschein von Wärme. Mal wurde sie von roten, mal von gelben Blättern begleitet, doch nichts davon schaffte es ihr frostiges Gemüt zu erwärmen. Mittlerweile traf sie auch vereinzelt andere Menschen an, doch deren gesenkte Blicke und eilige Schritte machen jede Hoffnung auf einen bösen Traum zunichte. Angst hatte Besitz von der Stadt ergriffen, womöglich größere und weitreichendere, als angemessen gewesen wäre. Die Diebin ging und ging weiter, sie suchte und fand die Gesuchte nicht.

Als sie wieder auf dem Marktplatz stand, war der Abend bereits nahe gerückt. Ihre Aufmerksamkeit litt bereits seit einer Weile und die ursprünglich irrwitzige Hoffnung, Rielaye in der Kirche vorzufinden hatte im Vergehen der Minuten und Stunden immer mehr an Überzeugungskraft gewonnen. Sie wusste wie wenig die Schwarzhaarige von dem Hause Mithras’ hielt, aber die Umstände waren Besondere und sicherlich hatte das auch die Gesuchte eingesehen.
Ein kleiner Tumult fand vor der Kirche statt, und sie ging gedankenlos einige Schritte darauf zu, bevor sie etwas erblickte, dass sie erst Glauben machte, wieder einer Irrsinnsvision anheim gefallen zu sein. Eine sehr offensichtlich sehr tote Gestalt, die sich trotz fehlender Haut, Muskeln und Sehnen widerwärtig zackig und abrupt bewegte, kämpfte mit einem lebendigen Verteidiger, dessen Gesicht zwar hinter einem Helm versteckt war, aber durch jeder seiner betrog, dass er im gleichen Maße mit der Panik, wie mit dem belebten Gerippe rang. Andere kleine Scharmützel wurden direkt daneben geschlagen, doch Ekatalin konnte die Augen nicht von dem grausigen Kampf nehmen. Als die Klinge des Skeletts am Schild des Verteidigers vorbeischrammte und ihn irgendwo an der Brust traf, wich der Nebel aus ihren Gedanken. Sie schluckte einen aufquellenden Schrei herunter, zwang sich umzuwenden und versuchte sich schnellstmöglich in Sicherheit zu bringen. Sie fand nur die niedrige Mauer des Brunnens auf dem Marktplatzes vor. Die Diebin hechtete dahinter, landete unsanft auf ihrem noch nicht lange geheilten Arm und kauerte sich zusammen, mit laut schlagendem Herzen, mit abgehackten Atem und mit der panischen Hoffnung nicht bemerkt worden zu sein. Schreie, Rufe und Schmerz und Wut erfüllten die Luft, bis eine Stimme direkt in ihren Kopf hinein brandete und wie grimmiger Winterwind in ihre Gedanken schnitt. Sie drückte ihre Hände auf die Ohren, aber konnte die für sie unverständlichen Silben nicht bannen. Schläge folgten den frostigen Silben und Hiebe von Metall auf Metall, Metall auf Knochen und Metall auf Fleisch vibrierten beißend durch die Abenddämmerung und ihren Leib.
Nach einer Ewigkeit und einem Herzschlag kehrte eine relative Stille ein. Mit einem ängstlichen Schluchzen, dass sie wütend und verzweifelt herunterzuschlucken versuchte, spähte sie nach weiteren langen Momenten vorsichtig über die Brunnenmauer. Der Tumult hatte sich etwas gelegt, es waren weniger menschliche Gestalten waren zu sehen, und einige lagen still am Boden, aber keiner der noch Stehenden bewegte sich auf unnatürliche Art.
Der fremde Hexer schien nicht mehr hier zu sein - zumindest erschien die Lage dafür zu entspannt. Unverletzte zerrten die am Gefallenen und Verwundeten weg vom Marktplatz, halb die Treppen zur Kirche hinauf, wo sie jedoch plötzlich stehen blieben,wild gestikulierten und irgendwelche verzweifelten Worte riefen.
Schwerfällig stieß sie zu den Streitern an den Treppen und sah, weshalb die Retter stehen geblieben waren. Wo zuvor die Portale der Kirche schwer und abweisend gestanden hatten, lag nun eine weitaus schwerere und abweisendere helle und verblichene Masse, die sich wie bleicher Teer an die Mauern und Tore geklebt hatte und den Zutritt versperrte. Die am nächsten Stehenden überwanden bereits ihren Ekel und untersuchten die Barriere - aber schnell war aus ihren heiseren Rufen zu vernehmen, dass das Hindernis zum einen aus verwachsene Knochen zu bestehen schienen und sich zum anderen sich weder bewegen noch zu zerstören lies.

Die nächsten Momente verloren im Nachhinein rasch ihre Substanz und hinterließen nur vage Eindrücke und neblige Rekonstruktionen.
Eine Gestalt schälte sich hinter den ausgesperrten Verteidigern aus dem Zwielicht und wieder sprach sie Worte, die wahnsinnig und eisigkalt direkt in die Gedanken sprang. Sie sprach von erlittenem Leid und Gefangenschaft, welches sie nun ihren vormaligen Wächtern zuteilen würde.
Statt wieder mit den Leichenkriegern anzugreifen hob der Hexer mit seiner unheimlichen Macht die Verzweifelten vom Boden.
Erinnerungen an die Flucht vor Rotander, an ihren Fall vom Häuserdach, an den schrecklichen Moment der Schwerelosigkeit fluteten Ekatalin, und fast erwartete sie, weit in den Nachthimmel hinein geschleudert zu werden um irgendwo in der Ferne aufzuschlagen und wie ein Teller zu zerspringen.

Sie schlug tatsächlich auf, fest genug um ihr die Luft aus der Lunge zu treiben. Die Wahrnehmung kehrte einen Moment später zurück und Schmerz folgte wie ein treuer, begeisterter Hund und kuschelte sich an ihre Hüfte und an ihren Arm.
Aber sie war nicht zerbrochen. Angst und verwirrte Panik ebbten etwas ab, aber sie stand noch immer bis zur Hüfte in deren trüben Wassern.
Aus dem Nichts erschien eine Hand vor ihren noch flimmernden Augen. Irgendjemand wollte ihr aufhelfen. Stumpfes Licht wurde von Metall reflektiert, das den an der Hand hängenden Arm einhüllte. Mühsam schaffte sie es die Hand zu ergreifen und sich hochziehen zu lassen. Einer der Verteidiger, der Rüstung nach, stand vor ihr. Sie schaffte es gerade so den Impuls sich an seinen Hals zu werfen und loszuweinen zu verbergen, aber ein Schluchzen entwich ihr trotz der hastigen Bemühungen.
Der kleine, schwache, noch immer um Kontrolle kämpfende Teil ihres Geistes verlor immer mehr an Kraft. Der Krieger versuchte sein bestes, sie zu beruhigen, und entgegen all der zynischen Erwartungen ihres kleinen, schwachen Restes an Vernunft gelang ihm das auch, wenigstens für den Moment.
Sie war irgendwie auf das Dach der Kirche befördert worden, zusammen mit den anderen Ausgesperrten, und bald dämmerte es der Diebin, dass sie, wie der fremde Magier es sich gewünscht hatte, eingesperrt und gefangen war. Sie sagte darüber nichts, tauschte stattdessen noch weitere, jetzt etwas schwerfälligere Worte mit dem Gerüsteten namens Richard aus, bevor sie mit tauben Gedanken in die scheinbare Sicherheit der Kirche herabstieg. All der Schmuck und der Reichtum an dem sie vorbei humpelte war wie billiges Glas und gefälschtes Gold vor ihren Augen und bei jeder Treppenstufe heulte ihre vom Sturz angeschlagene Hüfte auf. Sie sah auf den Treppen und in den oberen Stockwerken des Gotteshauses nur wenige Menschen, aber der Lärm, dem sie an diesem Morgen entflohen war, lag wie stinkender Nebel unter jeder Decke.
Als sie den Magen der Kirche betrat, war es, als würde sie unter einem Vorhang hindurch aus der Dunkelheit in ein harsches Licht eintreten, das keinerlei Freundlichkeit heuchelte. Die Stimmen waren laut, heißer, wütend, heute übertönten Schmerzenschreie das Gekreische der Säuglinge und über allem lag der Geruch von Angst in seinen verschiedensten Abstufungen. Ekatalin stand für eine Weile einfach nur da, besah sich das Chaos und hämmerte auf ihren Empfindungen herum, in der irrwitzigen Hoffnung diese so weit abzustumpfen, dass sie irgendwie diese Floßfahrt durch den Abyss überstehen könnte.
Sie fand irgendwo Platz, und konnte bald nicht mehr sagen, ob sie sich mit jemanden unterhielt oder nur still und leise Tränen herunterschluckte. Zeit bröckelte dahin und die gefangenen Menschen steckten sich gegenseitig mit Wut und Furcht an. Rielaye war nirgends zu sehen. Die Sonne war schon längst untergegangen, als sich die aufgebrachten Stimmen unwillig legten. Einige der Eingesperrten hatten sich einfach an die nächstbeste Säule gelehnt, da die bereitgestellten Feldbetten schon alle belegt waren. Wären Erschöpfung und Schmerz nicht gewesen, hätte sich Ekatalin niemals dazu überreden lassen noch einmal unter diesem Dach zu schlafen - doch der lange Tag verlangte dringlich nach einem Ende.
Sie fand eine kleine, noch leere Ecke nah einem verwachsenen Seitenausgang, und stolperte hinein. Die Bewegung und die einhergehenden Schmerzen vertrieben die dumpfe, missmutige Schläfrigkeit für einige Momente und lies sie halbwegs klar auf den erlebten Tag blicken. Die Wand stütze sie für einen Moment, dann glitt sie an der an der rauen Oberfläche hinab und versuchte es sich auf dem harten Boden halbwegs gemütlich zu machen. Ihre Hüfte schmerzte hell und laut, als sie die Beine an sich zog. Und der verzogene Nacken ächzte dumpf und dunkel, als sie die Decke, die sie sich am Morgen zum Umhang erkoren hatte, um sich schlang.
Ihr Blick war von einer nahen Säule recht eingeschränkt, aber was sie von den übrigen Insassen der Kirche sah, reichte ihr schon. Elend, dachte sie schwerfällig, und doch machen wir irgendwie weiter. Frage mich, warum dieser bescheuerte Magier uns nicht alle einfach getötet hat. Dann wäre wenigstens dieser Irrsinn zu Ende. Rotander hätte nicht so einen Unsinn veranstaltet, sondern mit einem Pfeifen auf den Lippen jedem einzelnen hier nacheinander gepflegt den Schädel eingeschlagen. Ha. Haha.
Andere Bilder des Tages flackerten hoch, verloschen wieder und in einer Mischung aus wabernden Schatten, leidendem Wimmern und Erschöpfung sankt die Diebin in einen erst leichten, dann schnell in einen tiefen Schlaf.
Kälte kroch aus dem Stein durch ihre Kleidung in ihren Leib.


* * * *


Sie fand sich auf einer rauen, kühlen Steinbank aus hellem Gestein sitzen. Ekatalin war dürftig in ein loses, weißes Kleid gehüllt, das im starken Wind schmerzhaft an ihrem bereits ausgekühlten, dürren Leib flatterte.
Fassungslos ließ sie den Blick über das schweifen, was ihr der bekannte Alptraum bot - es hatte sich nichts verändert; noch immer herrschte ewiger Winter mit stürmender, stiller Klauenhand über den traurigen Ort. Niemand war auf der Bühne zu sehen, niemand auf den Bänken. Die letzte Wärme und das letzte Gefühl sickerten in den blendenden Stein und wurden von der beißenden Luft gierig getrunken. Die Träumende wollte Lachen, denn sie konnte nicht umhin, eine gewisse Eleganz darin zu sehen, ihren schrecklichen Tag mit einer tödlichen Vision abzuschliessen. Sterbe ich auch in der Wirklichkeit, wenn ich hier erfriere? Selbst düstere Gedanken schienen nicht unter der sengend-kalten Helligkeit bestehen zu können. Werde ich dann auch als eines dieser hier harrenden Gespenster Unsterblichkeit finden?
Wie um diese Frage zu beantworten, verging die Stille.
‘Es geht los - es geht los - es beginnt.’ wisperten aufgeregte Stimmen in ihrer Nähe. Es waren die selben Stimmen, die sie so oft in den Schatten außerhalb ihrer Augenwinkel hatte tuscheln hören. Jetzt verstand sie die Worte, wollte sich umdrehen um die Besitzer zu erblicken, aber ihr Leib hatte bereits keine Kraft mehr dazu. Sie saß zwar aufrecht da, aber wusste nicht, ob ihre Muskeln entweder zu festem Eis gefroren waren, oder ob sie von drängenden Geistermassen aufrecht gehalten wurde. Ihr Blick war auf die Bühne gefesselt,auf der sich nun wehende Schatten direkt unter der gleißenden, blendenden Bergsonne gegenseitig verschlangen. Es war nicht zu erkennen, was dort vorging, aber etwas in ihr ahnte, dass dort soetwas wie eine Person einen fremdartigen Tanz aufführte. Angespanntes Schweigen hatte sich über das Theater gesenkt und Ekatalin ahnte, dass eine fremdartige Aufführung ungesehen an ihr vorbeifloss. Unbehagen mischte sich in die beißende Kälte und bald glaubte sie anklagend angestarrt zu werden.
Auf einmal wurde die Stille erneut durchbrochen und kalter Wind herrschte sie mit wehenden Silben an.


‘Und was weißt du schon von Leid, was weißt du schon von Einsamkeit? Was bist du anderes als ein verzerrtes Echo, als eine schroffe Karikatur, als ein Kind in viel zu großen Kleidern? Willst du an meine Seite, an meine Stelle treten? Willst du das schmecken, was ich schmeckte, was ich roch, was ich sah, was ich fühlte, was ich blutete? Du willst meine Tränen weinen?
Nein. Verschwinde. Verschwinde!
Lass’ mich allein mein Unheil hüten!’

Die letzten Worte waren harsch und abweisend, wie unerwartete, kalte Ohrfeigen. Ein rauschendes, fernes Tosen klang auf; der Beifall tausender Gespenster und Zuschauer. Eine Hand legte sich sanft auf die Schulter der träumenden Diebin. Stille ertränkte wie Regen den brennenden Applaus. Obgleich sie den Kopf nicht bewegen konnte um hinzusehen, wusste sie, dass sie von eleganten, warmen und traurigen Fingern berührt worden war.
‘Vergiss nicht...’, glaubte sie zu hören, doch die Stimme war zu fern und leise. Der Frost verflog und wo er noch eben gedroht hatte ihr Herz anzuhalten, wurde er vom Duft nach Herbst und Angst und echten Menschen ersetzt.


* * * *


Die Nacht war noch nicht vergangen, aber auch wenn die sparsamen Kerzen wenig taten, um die Dunkelheit zu vertreiben, erkannte sie das Innere der Kirche wieder. Sie wusste sogleich, dass sie von niemanden hier an der Schulter berührt wurde. Jeder Atemzug tat in einem Phantomschmerz weh, der sie glauben ließ Atemwolken zu sehen und das Knistern von erstarrender Feuchtigkeit zu hören.
Im Gegensatz zu ihrem ersten Erwachen aus diesem Alptraum am Morgen vor einer gefühlten Ewigkeit wollten die blendenden Bilder aber noch nicht weichen, schlimmer noch, sie fühlte sich wie von den Händen der ungesehenen Gespenstern zurückgezerrt. Für lange Minuten konnte sie nicht richtig zwischen der Wirklichkeit und dem desolaten Amphitheater unterscheiden und beide Szenen lagen schrecklich regungslos über- und ineinander. Auf ihrer Schulter ruhten weiterhin die ungesehenen Finger die sie aufgeweckt hatten.
Erst als plötzliches Stöhnen aufklang, das von einem nicht sehr mithrasgefälligen Fluchen verfolgt wurde, trennten sich die beiden Vistas wieder. Aber auch wenn sie sich jetzt auf die Geräusche der mehr oder weniger ruhenden Kirche konzentrieren konnte, blieb es ein Kampf in der Wirklichkeit zu verweilen.
Die Zeit verstrich, und mit ihr zahllose flüchtige Gedanken und Empfindungen. Die Diebin sah unbeteiligt zu, wie nach Stunden das Morgenlicht endlich durch die Fenster lugte, erblickte das Erwachen der Menschen, hörte die unterdrückte Freude, als die Nachricht von Freiheit durch die Wartenden fegte und schlang den Umhang fester um sich, als ein Hauch frischer Morgenluft zu ihrem Platz wehte.
Die Zeit verstrich, und auch wenn sie sich Fingerbreit um Fingerbreit Sicherheit in der Wirklichkeit erkämpfte, glaubte sie, wichtige Dinge wie Zeitempfinden, Hoffnung und Erinnerung an Wärme auf der hellen Steinbank inmitten der Geister vergessen zu haben.
Die Zeit verstrich, und sie wollte fliehen.

Sie beobachtete sich selbst, wie sie irgendwann aufstand, wie sie die Kirche verließ, mechanisch nach schwarzen Haaren ausschau hielt und zugleich ihre langsame Flucht aus Löwenstein antrat. Distanziert betrachtete sie ihre Angst, ihre Verzweiflung, ihre Sorgen, und selbst als sie irgendwann am Goldenen Raben eintraf, Stunden später, befand sie sich noch immer im gleichen Strudel aus Hoffnungslosigkeit und Kälte.
Es hatten sich einige andere Flüchtlinge hier einquartiert, aber nicht diejenige, die sie suchte.
Erneut kam die Nacht, erneut kam der Tag, und Ekatalin hatte keinerlei Schlaf gefunden. Kantig und ungeschickt, wie eines der grausigen Skelette, wankte sie wieder zurück nach Löwenstein, enttäuscht und leer. Ihre Flucht war sinnlos, wenn sie Rielaye nicht sicher wusste. Noch immer lagen die warmen,fremden Finger auf ihren Schultern. Noch immer glaubte sie, Schmerz beim Atmen zu verspüren. Noch immer kämpfte der Anblick eines unsichtbaren Theaterspiels in größter Höhe darum, von ihr als Wirklichkeit anerkannt zu werden.
Ihre Gelenke schmerzten, als sie wieder die Kirche betrat. Der schlimmste Anblick war gewichen, als hätten sich die Schutzsuchenden halbwegs mit der Situation abgefunden. Teilnahmslos sah sie zu, wie ein Toter die Treppenstufen hinabgetragen wurde, bevor sie routiniert und ohne Erwartungen ihre Suche begann. Sie fand die Gesuchte nicht und wollte sich schon teilnahmslos hinsetzen, als sie von einer bekannten Stimme erfreut angesprochen wurde.
In ihrem Zustand dauerte es einen längeren Moment, bevor sie Simon Greif wiedererkannte, der es irgendwie geschafft hatte, während all diesem Wahnsinn seine beinahe unangemessene Freundlichkeit zu bewahren.
Die Diebin tauschte Worte aus, die sie sogleich wieder vergaß und wahrscheinlich hätte sie die komplette Begegnung gleich wieder vergessen, wenn Simon nicht völlig sorglos auf eine mechanische Frage Ekatalins geantwortet hätte. Die Worte waren einfach und doch so komplex, dass sie in einen Zustand aus Verwirrung und Fassungslosigkeit gestürzt wurde. Sie spürte, wie die warmen Finger zufrieden und traurig von ihrer Schulter wichen. Ihre verlorenen Empfindungen kehrten zurück, als die hartnäckigen Reste ihres Alptraums wie ein Stück auf einmal schüchterner Raureif unter einem warmen Atem hinweg schmolzen.

‘Doch ich sah’ sie’, sprach Simon, ‘Sie wollte zur Herberge, wo sie wohnt. Vor drei Stundenläufen etwa.’
Noch einmal setzte das Zeitempfinden der Diebin aus, und erst als sie sich auf einer der Schlafmatten wiederfand, zugedeckt mit einer neuen Decke, wurde ihr bewusst, dass alles halbwegs in Ordnung war. Rielaye ging es gut. Alles war wieder halbwegs in Ordnung.

Ekatalin träumte von den Flammen des Freudenfeuers beim letzten Fest der Mondwächter, als sie zusammen tanzten und die hohen Feuerzungen wilde Schatten auf sie warfen.
Sie träumte von den versengten Resten des Brennholzes am nächsten Morgen, die im Licht der frühen Spätsommersonne wie ein bemerkenswertes Kunstwerk funkelten.



Der Geruch von Wasser (Tinte und fahles Pergament)


Hier war sie also wieder. Sie fühlte die kalten Mauern der Kirche im Rücken, trotz der Bäume, die den hohen Schatten fernhielten. Sie hatte diesen kleinen Park schon mehrere Male im Vorbeigehen gesehen, aber erst gestern hatte sie sich das erste Mal hinein gewagt. Der Ort wäre idyllisch gewesen, hätte nicht die Erinnerung an die schrecklichen Nächte im Hause Mithras direkt daneben gelauert. Ein kleiner, stiller Brunnen, alte, moosbewachsene Pflastersteine, wuchernde, kahle Bäume und eilige, kalte Windstöße umrahmten romantisch und melancholisch den tristen Ort. Die Diebin hatte sich auf einer Bank niedergelassen, den Umhang fest um sich geschlungen und schwelgte in der desolaten Herbststimmung. Der Lärm des nahen Marktplatzes war hier zwar kaum noch zu hören, verhinderte aber die komplette Stille, die diesen Ort sicherlich ungemütlich gemacht hätte.
Ekatalin seufzte schwermütig. Unwillig blickte sie neben sich, zu einem Bündel billigen, leeren Pergaments, doch sie schauderte und sah wieder weg. Nein, noch nicht, noch ein wenig warten, noch ein wenig an etwas anderes denken.
Mühsam versuchte sie die Essenz des Ortes in sich aufzunehmen und wie schon am vorherigen Tag schmeckte sie sogleich den tiefen Zwiespalt, der in dieser Atmosphäre herrschte. Zum einen strich der Anblick sanft und schüchtern und düster über einige tief verborgene Saiten ihrer Seele, wie ein verwunschenes, altes Gemälde eine vergessene Ruine verzaubert. Doch zum anderen gab es hier hunderte kleine Winkel und Schlupflöcher, die einen furchtbaren Nährboden für die sich windenden, nie ruhenden Schatten lieferten und mit ihnen ging der Frieden und es blieb nur Verunsicherung.
Die Aktivität der Schemen dauerte nun schon seit Tagen an, nahm immer wieder ab und wieder zu, wie Wellen am Strand, brechend und wieder fliehend, aber doch viel unregelmäßiger. Sie spürte keinen Rhythmus, erkannte kein Muster dahinter. Die Hoffnung, dass es wie das letzte Mal einfach wieder verging, war längst dahingesiecht. Eine fadenscheinige Gewöhnung hatte eingesetzt, auch wenn sie sich immer wieder dabei erwischte, hastig über die Schulter zu blicken um einen der Schemen zu erhaschen. Die ungreifbaren Bewegungen waren ohnehin nicht das schlimmste an ihren Einbildungen - diese fragwürdige Ehre gebührte den gewisperten, unverständlichen Silben, die sie wie eifrige Blätter umtanzten. Die geflüsterten Worte verfolgten sie bis in ihren unruhigen Schlaf. Immerhin tönten die fernen Rufe der Betrogenen und der Betrüger, der Kunden und der Händler stetig genug herüber, dass sie nur selten das unheimliche Gemurmel hören musste.

Auch gestern hatte sie auf derselben Bank bereits mehrere Stunden in dieser Stimmung gebadet und über ihr momentanes Dasein nachgedacht. Sie war nicht nur zu keinem vorzeigbaren Ergebnis gekommen, sondern musste sich sogar eingestehen, dass sie sich vor allem selbst bemitleidet hatte.
Und heute? War es heute anders? ‘Ja!’, sagte eine unbestimmte Überzeugung in ihr, und wieder wurde ihr Blick von der Rolle Pergament gelockt. Und wie zuvor sah sie gleich darauf wieder weg.
Sie musste sich anstrengend, sich auf das Jetzt zu konzentrieren. Was war heute anders, abgesehen von einer vagen Idee neue Ansatzpunkte zu sammeln? Die Diebin lauschte. Nicht nur auf den Wind, die fernen Rufe, dem nahen Flüstern, sondern auch nach innen. Zuerst war da ihre laufende Nase, Botin einer möglichen Erkältung. Dann das flaue Gefühl in ihrem Magen, der bisher nur von einem kleinen, harten Stück Brot und den Erinnerungen an die letzte Nacht gekostet hatte. Ihr fröstelte ein wenig, aber der Umhang wärmte sie, wenn sie ihn enger um sich zog. Vage Erinnerungen von Schmerz lagen wie ein Schleier über ihrer Hüfte und ihrem rechten Arm. Verunsicherung, Furcht, ja, unterdrückte Panik über den schleichenden Irrsinn lauerten im Hintergrund, aber all das war nichts neues, nichts, was eine positive Grundstimmung gerechtfertigt hätte. Bah, Bin ich schon so zynisch und bitter geworden, dass ich eine positive Grundstimmung rechtfertigen muss?
Der Gedanke wurde von einem Windstoß umweht, der Blätter und den Geruch vom Meer mit sich brachte. Sie klaubte ein feuchtes, zerrissenes Blatt aus ihren Haaren. Nein, das würde sie so nicht weiterbringen. Es fehlte jegliche Struktur und geplante Vorgehensweise, wenn sie auch nur irgendwie tiefer in das trübe Wasser ihrer Gedanken und Sorgen tauchen wollte.

Sie hatte von Rielaye gehört, dass diese versuchte ihre Träume in Bildern festzuhalten - vielleicht würde sie etwas Ähnliches versuchen. Sie blickte noch einmal neben sich. Diesmal nahm sie das Pergament zur Hand, rollte es auf und starrte auf die wenig einladende Leere. Ihre Hände waren kühl, doch noch immer fror sie nicht richtig. Unwillig erinnerte sie sich an ihre lange vergangenen Schreibübungen, genauso wie sie sich unwilliger an all die Zeiten danach erinnerte, zu denen sie nicht einmal mehr Gelegenheit hatte, ans Schreiben zu denken.
Bestimmt wird das ohnehin unlesbar. Wahrscheinlich besser so. Sie nahm den eben erworbenen Kohlestift zur Hand, setzte an und versuchte mit dem Schreiben zu beginnen. Sie wollte ihren Wahnsinn niederschreiben und regelrecht in eine Form bannen, die sie hassen oder wenigstens verstehen konnte.
Nach mehreren langen Atemzügen saß sie jedoch noch immer regungslos da und die leere Seite vor ihr schien sie leise zu verspotten. Oh je, oh je, oh je, wie fängt man so etwas an? Die Gedanken sprangen von einer ungenügenden Idee zur nächsten, bevor sie innerlich aufgab und sich mit einem schwermütigen Seufzen zurücklehnte.
Na toll, das hat mir ja viel gebracht. Und dafür hab’ ich fast zehn Heller bezahlt, nur für etwas Haut und Kohle.
Die Diebin horchte entmutigt dem Wind und den fernen Rufen und sah den sich jagenden Wolken zu, deren Umrisse ineinander flossen, miteinander spielten und vergingen und ab und an sogar einen kurzen Anblick des tiefblauen Himmels hinter ihnen gestatteten.
Ohne Eile besah sie sich noch einmal die innere Liste, die sie auf dem Weg hierher bereits zusammengestellt hatte und malte sich aus, wie diese aufgereihten Worte auf dem Pergament aussehen würden.
Was weiß ich denn?
Ich weiß, dass ich seit der ersten Nacht in der Kirche wieder diese Schemen sehe und die Flüsterstimmen höre.
Ich weiß, dass ich seitdem keine Ruhe mehr davor habe, dass ich einmal mehr den Alptraum vom Theater in den Bergen hatte und noch eine völlig andere Trugvorstellung hatte.
Ich weiß außerdem, dass ich diese Einbildungen schon einmal hatte, die dann aber vergangen sind.
Rielaye ist als einzige stets gestochen klar, wie es andere Menschen, wie eigentlich alles andere sein sollte. Sie ist das einzige, die wie sonst ist. Warum?
Ich weiß, dass ich von einigen unangenehmen, mir unerklärlichen Dingen, nun, berührt wurde. Rotander, die Geschichte mit diesem Totenbeschwörer in der Stadt hier, in gewisser Weise auch Kennan, der ja sagte, er sei Hexer. Schwer zu glauben, aber nun ja. Wenn ich ehrlich bin, die Geschichte mit dem Kiesel ist auch alles andere als harmlos. Haha, ich sollte niemals zur Beichte gehen.

Minuten vergingen, und sie drehte die mentalen Stichpunkte immer wieder umeinander, bevor sie resignierte und der einzigen wirklichen Frage nachging.
Na gut, warum du, Rielaye? Gefühle? Weil ich dir den Kiesel geschenkt habe? Weil ich dir die Geschichte von Chisano und Itramin erzählt habe? Weil ich dir von Rotander erzählt habe?
Rotander..
Die Gedanken richteten sich für einen Moment auf den dicken, schrecklichen Mann. Nein, Nein, auch wenn er der erste war, Nein. Ich wage nicht einmal an ihn zu denken.
Der Wind wurde etwas stärker und sie musste das Pergament auf ihrem Schoß festhalten.
Die Gedanken kreisten um den Kieselstein, um Chisano und Itramin, um die schwarzhaarige Rielaye, die in ihren Augen so sehr dem Nachtgespenst der Geschichte glich.

Was habe ich gestern Abend zur ihr gesagt?
‘Und ich sah dich, nur von fern, nur im Nebel, nur im Zwielicht, doch ich wusste sogleich, dass es nichts geben würde, das mich von meinen Gefühle abwenden würde.’
Das waren nicht meine Worte gewesen. Das waren die eines tragischen Mannes, vergangen, fernab von allem was ich kenne. Ein Fragment habe ich es genannt, in jenem Augenblick; ich glaubte es wäre einer dieser unverständlichen Silbenfetzen die mich umschwirren. Kann das Wahr sein?
Nein. Nein. Was schreit mehr ‘Irrsinnig!’ als die Vorstellung Stimmen zu hören? Nein, es muss die komische Laune gestern gewesen sein, die mich noch mehr den Halt an die Wirklichkeit verlieren lies. Da ist so viel geschehen! Simon, der Spaziergang in der Dunkelheit, die Schreie aus dem Kerker, all die gestauten Ideen und Überlegungen - da kann ich doch schon einmal in einem schönen Moment fremde Zitate erfinden. Zudem, selbst wenn, was soll ich mit den Worten von Gespenstern anfangen? Nichts, sie sind tot, vergangen und vergessen.

Ein dumpfer Schmerz in ihren Händen zog die Aufmerksamkeit auf sich. Verwundert betrachtete sie ihre verkrampften, zu Fäusten geballten Finger, die zitternd auf ihren Bauch gepresst waren. Sie hatte sich auf ihrer Bank zusammengekauert, ohne es zu bemerken. Der Schmerz griff nach anderen verkrampften Gliedern, doch mit harscher Mühe schaffte es die Diebin einige beruhigende Atemzüge zu nehmen und nach und nach die Spannung aus den Muskeln zu vertreiben. Nur langsam wich das schwere, unerwartete Gewicht von ihrem jagenden Herzen.
Nunja, kehrten die Gedanken trocken zurück, kann ich wirklich sagen, ich sei gesund im Kopf, wenn mir so etwas wie das jetzt passiert? Wenn ich erkenne, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte, kann ich dann wirklich wahnsinnig sein? Doch nur wenn ich anfange zu glauben, was ich zu erleben glaube? Ugh. Ich fange schon wieder damit an. Muss etwas schreiben um nicht ständig im Kreis zu laufen.
Mit einem Schnaufen rief sie sich zu einer inneren Leere an und versuchte noch einmal einen Anfang auf dem leeren Pergament zu finden. Tatsächlich schaffte es Ekatalin Zeichen zu malen, ungewohnt und ungelenk, aber doch etwas, was einem Anfang angemessen erschien.


“Und ich sah dich, nur von fern, nur im Nebel, nur im Zwielicht, doch ich wusste sogleich, dass es nichts geben würde, das mich von meinen Gefühlen abwenden könnte.”

Stille. Der Wind ruhte schon eine Weile, aber für einen langen Moment waren auch die fernen Schreie der Händler verstummt. Die Diebin fröstelte. Sie zog eine Linie unter den Worten. Sie erinnerte sich an die Korrespondenz im Schnee, die Chisano und Itramin führten, die einander nur durch hinterlassene Zeichen erahnen konnten.

“Hallo?”, schrieb Ekatalin.
“Hallo.”, schrieb Ekatalin, und spürte Tränen in den Augen quellen, denn es war nicht ihr Wille, der die Finger bewegte.
Die Diebin wartete und wartete, aber ihre Hand regte sich nicht mehr. Zögerlich, mit geweiteten Augen, mit der Überzeugung jeden Augenblick manisch loszulachen, schrieb sie selbst wieder etwas.
“Verliere ich den Verstand?”
“Ein kleiner Preis für die Hoffnung Vieler.”, schrieben ihre Finger sogleich. Der Stift bewegte sich bei dieser Antwort langsamer und sanfter. War das eine gute Antwort? Sie hatte keine Zeit zu überlegen, denn weitere Zeichen folgten, rascher, bestimmter.
“Vergessene Erinnerungen wünschen sich, noch einmal erlebt zu werden. Du hast meine Geschichte gehört und geteilt, nun wollen Andere ähnliches.”

Die Diebin wusste genau, wessen Stimme sie aufschrieb. Das Herbstgespenst Itramin sprach mit ihr, so wie sie mit Chisano in ihrer Erzählung gesprochen hatte. Gleichzeitig wusste sie, dass es nur ein Teil ihres verwirrten Geistes war, der sich mit der tragisch Verliebten identifizierte. Wie Grausam, erkennen zu müssen, dass selbst der schönste Teil meines Irrsinns nur ein weiteres Trugbild ist. Grausamkeit.. Und was bleibt mir nun?
“Was bleibt mir nun zu tun, Itramin?”, schrieb sie und die jetzt bitteren Tränen begleiteten ihre Schrift.
“Folge ihren Erinnerungen und teile diese, wenn du nicht von all den Wünschen zerbrochen werden willst. Wie lautet dein Name?”
“Ekatalin.”
“Leb’ wohl, Ekatalin.”

* * * *

Ein träge schwebendes Blatt legte sich auf die tränenverlaufenen Worte und die Diebin erwachte aus einem leeren, ausgeweinten und fahlen Zustand.
Sie sah sich um und nichts hatte sich verändert. Die Umrisse und Schatten von all den Dingen um sie herum schwammen und wanden sich, der gelegentliche Wind wirbelte unverständliche Flüsterstimmen auf und brachte ferne Rufe und einen Seegeruch mit sich.
Schwerfällig erhob sie sich, legte das verdorbene Pergament zur Seite und ging ziellose Schritte. Sie bemerkte wie sehr sie ausgekühlt war. Zitternd ging sie einige Schritte auf den alten, gewundenen Wegen durch den Park und versuchte geschlagen über ihren Wahnsinn nachzudenken. Die Hemmschwelle, all das erlebte als Wahr hinzunehmen fiel mit jedem Schritt zunehmend und sie ertappte sich dabei, nach diesen Erinnerungen, denen sie folgen sollte, Ausschau zu halten. Immer wieder sah sie ihre Hand “Leb wohl, Ekatalin” schreiben und immer wieder brachen sich all ihre Gedankengänge an diesem unwirklichen Abschied. Es dauerte lange Momente um erneut mit den Überlegungen zu beginnen.
Der Satz des letzten Abends, den sie zuvor auch auf das Pergament geschrieben hatte, hing ominös und nicht sehr hilfreich vor ihrem inneren Auge. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen konnte. Die Idee herauszufinden, wer dieses Zitat gesprochen hatte schien entweder aussichtslos oder so trivial, dass es sich dabei wohl kaum um eine vergessene Erinnerung handeln konnte. Der Inhalt brachte sie auch nicht weiter, Hass, Liebe, Verachtung, Verehrung - selbst wenn sie von den Worten berührt worden war, wusste sie dennoch nichts über den Verfasser und seine Gefühlen.
Sie holte weiter aus, wagte es, den Alptraum des Amphitheaters genauer zu betrachten, bevor ihre unweigerliche Flucht davor die lidschlagslange Vision als Ausweg wählte, die sie im Nebel nach der ersten Nacht in der Kirche erlitten hatte. Sie erinnerte sich kurz an die alte Frau, die sie zuvor einen Moment lang gesehen hatte.
Die vergangenen Tage hatten nichts an der Schärfe dieser Bilder gemildert und sie hatten auch nichts an ihrer Unverständlichkeit verändert. Aber es erschien wahrscheinlicher, etwas über eine Turmruine im Wald herauszufinden als über ein zufälliges, vergessenes Zitat. Sie versuchte so viele Informationen aus dem Trugbild zu filtern, wie es ihr möglich war.

Der Wald war alt, licht, es war Sommer oder später Frühling gewesen, Unterholz war spärlich, der Boden von dunkelbraunen Blättern und gelegentlichen Büschen bedeckt. Es war warm, Vögel zwitscherten, ohne fremd zu klingen und sie sah kein Lebewesen.
Der Turm war hoch und hohl gewesen, beinahe so hoch wie der Kirchturm hinter ihr. Er schien lange verlassen zu sein, die Trümmer eines vergangenen Einsturzes hatten sich zu einem Haufen an seinem Fuß angesammelt. Das Gestein war moosbewachsen und dunkelgrau, auch wenn das vielleicht Flechten gewesen waren. Die Sonne spiegelte sich irgendwo zwischen den Trümmern und blendete sie. Wasser rauschte. Wasser rauschte. Kleine Rinnsale befeuchteten das gesamte Mauerwerk der Ruine. Sie konnte sich nicht recht erklären, wie das Wasser von da oben herabfließen konnte.
Wasser rauschte.
Ekatalin war am alten Brunnen angelangt, und stilles, kaltes, algendurchzogenes Wasser stand im alten Becken. Sie beugte sich, und noch bevor sie die milde, trügerische Kälte an ihren kühlen Fingern spürte, wusste sie, dass ihr Wahnsinn noch viel tiefer drang, als sie befürchtet hatte.

Eine neue Geschichte brandete in ihre Seele, von einem Gespenst kalten Wassers, das namenlos hinter einem Spiegel lebte und einen Weg in die Welt fand.



Schneefall und das Ende der Flucht


Die Türe zu einem festen Wohnsitz zu öffnen war ein komplett anderes Gefühl, als den Bretterverschlag vor einem notdürftigen Unterschlupf auf irgendeinem Dach oder am Ende einer dunklen Gasse zur Seite zu stemmen. Die Scharniere quietschen nur leise, das Holz splitterte kaum und eine umarmende Wärme strömte sogleich wie ein herzliches Willkommen über die Schwelle. Die dunklen Räume schwiegen, doch als die Türe wieder ins Schloss fiel, verwandelten sich die wenigen Zimmer in ein stilles Königreich, dass seine Herrscherin vermisst hatte.
Ekatalin lehnte sich an die geschlossene Tür und starrte in das Zwielicht. Selbst durch ihre dicke Kleidung hindurch spürte sie die Kühle der Tür, der Trennwand zwischen ihrem Königreich und der Welt da draußen.

Sie war spazieren gegangen, trotz der Dunkelheit, trotz des Schneefalls und es war ein gutes Gefühl gewesen. Aus den geplanten wenigen Minuten an der frischen Luft wurden erst eine, dann zwei Stunden, und es kümmerte sie nicht im geringsten drei mal an der Bank vorbeizulaufen. Sie war in verschiedene Straßen hinab getaucht um deren eigene, besondere Atmosphäre zu trinken. Der träge Wintereinbruch hatte die hektische Stadt ein wenig beruhigt, den Gestank etwas vertrieben und die aufgestaute Wut der Bewohner sanfter werden lassen.
Die Nacht Löwensteins war ebenfalls still, und oft hatte sie nur ihre eigenen Schritte gehört, ein steter, leiser Takt von Stiefelsohlen auf nassen Pflaster, gelegentlich mit dem Brechen von dünnen Eis kleiner Pfützen ausgeschmückt. Nur selten hatte sie sie einen anderen Passanten gesehen, und selbst die Ratten waren größtenteils von der Straße verschwunden.
Es war tatsächlich so still gewesen, dass ihr jede erhoffte Illusion von Einsamkeit vorenthalten worden war. Die unsteten Schatten ihrer Wahrnehmung hatten sich spottend hinter viel zu kleinen Schneeflocken versteckt, gewisperte, unverständliche Worte waren um den Laternenschein getanzt und hatten all die lauten und ungelenken Gedanken der Diebin mit trägem Witz kommentiert.
Es gab einige Dinge, mit denen sie ungeschickt versucht hatte, den Irrsinn von sich fernzuhalten: Avon, Kennan, Herr Sasz, Sorgen um die Keuche, Sorgen um die Rattenplage, Sorgen über die Gerüchte eines gewaltigen Gifthandels und hundert Kleinigkeiten über all die Dinge die sie so im Laufe der Zeit gehört hatte.
Nur über ihre eigenen Probleme hatte sie nicht nachgedacht. Die Schneeflocken waren zu zart und unschuldig gewesen, um sie mit derartigem Teer zu beschmutzen.

Hier im warmen Haus jedoch schmolzen die Flocken zu klammer Feuchte. Hier gab es kein Draußen, keine wütende, schmutzige Welt, keine kranken und hässlichen Menschen. Hier im warmen Haus wurde die Wirklichkeit auf das Wesentliche reduziert. Rielaye war seit einer geraumen Weile verschwunden, der Wahnsinn war Ekatalins beständiger Begleiter geworden, und nur hier in diesem Haus gab es soetwas wie Sicherheit.
Auch wenn die Diebin nun schon seit einen Monat hier lebte, verspürte sie noch immer etwas Unglauben, ein echtes Heim zu bewohnen. Völlig unerwartet hatte Rielaye ihr das Haus am Eingang zum neuen Hafen präsentiert, sie eingeladen zusammen mit ihr zu leben, und spontan und erfreut hatte die Diebin zugestimmt. Die Sorgen, auffindbar und in gewisser Weise sichtbar zu werden, waren schnell verflogen. Kaum jemand interessierte sich für sie, nicht einmal die direkten Nachbarn. Sie hatte ein winziges Reich geschenkt bekommen, und auch wenn die andere Königin gerade abwesend war, bot es doch Schutz und Trost.
Die Sorge um das Verschwinden ihrer schwarzhaarigen Mitbewohnerin war durchaus präsent, aber bei weitem nicht mehr so durchdringend und dramatisch wie beim Mal zuvor. Sie hatte bereits den Totenbeschwörer und die Keuche überstanden, und so drehten sich die Sorgen vor allem darum, ob Rielaye genug warme Kleidung für die harschen Winternächte hatte.
Ekatalin trat in den düsteren Vorraum, befreite sich von Umhang, Handschuhen und Überwurf, schlüpfte aus den Stiefeln und folgte einem Impuls nach in das große Zimmer. Schreibtisch, Kissen, Bücherregale, Teppiche, Kerzen, Wärme - alltägliche Dinge, die sie vor allem aus den Häusern kannte, die sie früher ausgeraubt hatte. Mit leisen Schritten trat sie an ein Fenster, blickte zur flackernden Laterne auf der anderen Straßenseite und erwischte sich bei einem melancholischem Lächeln.
Allein zu sein war ihr nie fremd gewesen, und nach einigen Jahren hatte sie sich sogar eingebildet die Einsamkeit vorzuziehen. Doch spätestens nachdem sie Rielaye kennengelernt hatte, war dieser Gedanke zerbrochen. Und später hatten die Stimmen in ihrem Kopf jede Möglichkeit auf wahre Einsamkeit verschlungen.
‘Siehst du das, Ssuruhn?’, sprach sie in die Stille des Hauses und deutete auf den dunklen Himmel. ‘Das ist zwar kein Sturm, aber bestimmt erinnert es dich an Zuhause. Schwere, düstere Wolken...’
Niemand antwortete. Ekatalin war die einzige existierende Person im Haus, und es war ihr bewusst. Das Lächeln verzog sich, wurde breiter, greller.
‘Und du, Darjanka? Grigori? Glaubt ihr das Gespenst hinter dem Spiegel würde sich freuen, die gefrorenen Pfützen zu sehen?’
‘Itramin..?’
Geisterhände legten sich auf die Schultern Ekatalins als sie sich bemühte ein aufquellendes Lachen zu unterdrücken. Ein Teil war hysterisch darüber belustigt, mit den eingebildeten Gestalten sprechen zu wollen, ein anderer warnte sie, dass solch ein Lachen in dieser Situation kaum weniger Irrsinnig wirken würde, ein nächster, dass sie so und so niemand sehen konnte, und noch ein anderer freute sich über die tröstende Berührung der Gespenster ihrer Geschichten.
‘Und es macht nicht einmal Sinn mit euch allen zu sprechen! Ich hab’ selbst gesehen, was mit euch geschah, und wenn ihr irgendwo seid, dann gewiss nicht hier bei mir. Mein Herz weint um euch, aber ihr seid nicht hier.’
Der Drang zu lachen verging langsam und mit einiger Mühe wandte sie sich vom Fenster ab. Unwille lenkte die Schritte ziellos durch den Raum, ließ sie die Bücherrücken in ihren Regalen berühren, die Kissen in der Sitzecke zurechtlegen und führte sie schließlich an den Ort, der sie schon den ganzen Tag lang lockte. Es kostete Überwindung, sich auf den Schreibtischstuhl zu setzen, und noch viel mehr die Kerze mit ungeschickten Händen zu entzünden, doch als sie endlich saß und flackerndes Licht einen mittlerweile ansehnlichen Stapel beschriebenen Pergaments erhellte, glaubte sie eine unbestimmte Erleichterung zu empfinden.
Zwei reale und mehrere Gespensteraugenpaare verfolgten ihre Hand, als sie vorsichtig den Federkiel aufhob und die Spitze testete. Sie suchte sich ein unbeschriebenes Blatt, legte es vor sich, und hielt inne. Ein plötzlicher Gedanke zog an ihrer Aufmerksamkeit vorbei. Kurz darauf lehnte sie sich in die Lehne zurück, starrte an die Decke und gab ein leises, überraschtes Lachen von sich.

Es war nur eine kleine Sache, aber dennoch veränderte die Tatsache, dass sie sich nicht mehr verfolgt fühlte einiges.
Sie blickte nach links und rechts, dort wo ihre unsichtbaren Begleiter standen und den Blick überrascht erwiderten. Es waren eingebildete Truggestalten, aber Ekatalin war zum ersten Mal froh darüber, dass es ihre bittere und verfluchte Gabe Gefunden zu werden war, die ihr die Geschichten der Gespenster zugetragen hatte.