Stärke durch Einigkeit
#1
Als er die Augen aufschlug, war es stockdunkel. Er hatte von Margund geträumt, von ihren zarten Händen, davon, wie sie ihrer gemeinsamen Tochter Adele die Haare flocht. Sie hatte unaufhörlich zu ihm gesprochen, streng und fordernd ... aber nun, da er in die Düsternis des kleinen Zimmers starrte, konnte er sich bei bestem Willen nicht an ihre Worte erinnern. Hatte sie ihn gewarnt, oder war es eine Idee gewesen?
Fast blind tastete er nach dem Becher mit Wasser und wünschte dabei, sie würde noch leben. Jeden Morgen seit vielen Jahren nun durchlebte er das selbe Dilemma: schliefe er nun noch eine Stunde, dann würde er mürrisch erwachen und mürrisch den Tag erleben; stünde er hingegen nun auf, so würde er zwar die meiste Zeit dem Tag ruhig gegenüberstehen, doch der Abend würde wieder von den vielen, kleine Schläfchen unterbrochen sein, derentwegen er sich oft unwohl fühlte. Seinen Gedanken nachhängend erhellte sich nach und nach sein Geist, und im gleichen Maße schien auch das Zimmer sich mit Licht zu füllen. Mühselig sog er die Luft tief in seine Brust und richtete sich mit einem Ruck in dem harten, kleinen Bett auf. Während sein Atem für einige Minuten rasselnd das Zimmer mit Geräuschen füllte, starrte er auf seine Hände. Seit gestern Abend, so schien ihm, war ein weiterer Fleck dazu gekommen. Altersflecken. Er mochte diesen Namen nicht wirklich. Daran hatte er natürlich sehr viel früher keinen Gedanken verschwendet.

Als er endlich fertig bekleidet war, trat er an das Fenster. Neblig, wie so oft am frühen Morgen. Dennoch waren schon einige Leute unterwegs. Ob er sich jemals an die Stadt gewöhnen würde können? Es war niemals leise, niemals. Irgendwo ein Schrei, ein gemurmeltes Gespräch in der Nähe, Getrappel auf den Straßen. Und dann erst der Geruch. Der war zwar schon vor der Seuche da, aber seither hatte er an Intensität gewonnen, schien geradezu bedrohlich in der Nase zu beißen. Sein Blick verschob sich, und seine lange, dünne und verbogene Nase sprang ihm aus dem Glas entgegen. Es war draußen sogar noch dunkel genug, dass er seine eigenen graublauen, ein wenig wässrigen Augen in ihren tiefen Höhlen im Spiegelbild des Fensters erspähen konnte; ganz zu schweigen von den ergrauten, buschigen Augenbrauen, den eingefallenen Wangen und dem schmalen, roten Mund, der in Mitten eines schneeweißen Knebelbartes saß. Fasziniert und zugleich ein wenig enttäuscht musterte er die Falten, die sich immer tiefer in sein Gesicht gruben, aber schon einen Wimpernschlag später zuckte eine Schulter des Spiegelbildes und er wandte sich ab. Während er vom Fenster weg und auf die Tür zutrat, hörte er ein Husten auf der Straße, weswegen er kurz an der Waschschüssel innehielt, um sich die Hände zu waschen. Dann aber öffnete er die Tür des kargen Zimmers und schritt zum Frühstückstisch der Familie.
[Bild: 2a2tmecn.gif]
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Stärke durch Einigkeit - von Wilbrant Ewald Jehann - 01.05.2013, 13:47
RE: Stärke durch Einigkeit - von Ernst Jehann - 01.05.2013, 16:08
RE: Stärke durch Einigkeit - von Annabell - 12.06.2013, 13:45
RE: Stärke durch Einigkeit - von Magdalena - 24.08.2013, 20:28



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