Schatten der Vergangenheit
#1
Es waren solche Momente, in denen die Schreiberin sich die Frage stellte, ob sie wohl im falschen Lehen geboren worden war. Sicher, sie war in Ravinsthal immer gut zurecht gekommen - eine gewisse angeborene Biegsamkeit in Charakter, Ansichten, Moral und Besitzverhältnissen war dem durchaus zuträglich gewesen - aber wirklich wohl gefühlt hatte sie sich erst in Silendir. Das freskenverzierte Fachwerk Guldenachs, die manierlichen Plaudereien bei Tee und Gebäck, die noch der letzte Schuhmacher zu beherrschen schien, und natürlich die Säle. Oh, die Säle. Kitschige Blumenkinder in Gold, die von den Wänden lachten, Spiegelwände, von schwerelosem Schmiedewerk umrahmt, glänzend polierte Böden, Fenstergläser die an einen durchscheinenden Regenbogen gemahnten.... sie vermisste es bis heute. Die Paläste Silendirs hatten sich alle Farben von Himmel und Erde zunutze gemacht und einen Rahmen daraus gewoben, der des Kaleidoskops hindurchschwappender silendirer Mode würdig war.

Marie seufzt leise. Löwenstein mochte größer und eindrucksvoller sein, doch nur in der Hinsicht, in welcher ein muskelbepackter Feldarbeiter neben einem Tänzer eindrucksvoll wirkte. Es war Masse. Masse an Stein, an Straßen, an Häusern, an Menschen... Löwenstein hatte alles außer Stil, weder in den Gebäuden, noch an den Bewohnern. Die Leute trugen allen ernstes Wollkleider, die kaum bis übers Knie reichten, bei den Göttern. Röcke aus Bärenfell. Bärenfell. Bärenfell legte man sich vor den Kamin, so der Raum rustikal genug gestaltet war. Wie kam man da bloß auf den Gedanken, sich diesen besseren Teppich um die Hüften zu wickeln? Was Mode anging, war es in Löwenstein, so musste sie nach mittlerweile drei Jahren feststellen, ebenso schlimm wie in Nortgard. Nun...nein. Beinah so schlimm wie in Nortgard. Nirgendwo war es so schlimm wie in Nortgard.

Ein neues Seufzen, als sie das Glas auf diese traurige Erkenntnis hob und einen Schluck daraus nahm, auf den Marktplatz herausstarrend. Hätte sie damals geahnt, wie schlecht es um die Schneiderei von Löwenstein steht, hätte sie wohl ihr gesamtes Vermögen für Kleidung ausgegeben, bevor sie Silendir verlassen hatte.... Die Gedanken stockten und ließen die Blonde leise schnauben. Nein. Nein das hätte sie nicht. Nicht nachdem sie ihn fallen sah. Die Lippen bildeten eine feste, verkniffene Linie. Ein neuer, langer Schluck Wein, als sie die Gedanken mit Mühe zurück lenkte.

Kleider. Hübsche Kleider. Denk an Kleider.

Kleider... Es gab zu wenige davon, wenngleich eines der schönsten Stücke nun glücklicherweise in ihrem Besitz war und - wie konnte es anders sein - aus Silendir. Feines Leinen, scheinbar nur aus fein bestickten Borten und Ausschnitten und Öffnungen bestehend. Es wurde zumeist als Überkleid genutzt, wenngleich der Schnitt es durchaus erlaubte, es auf bloßer Haut zu tragen, ohne einen einzigen verfänglichen Deut zu zeigen - dennoch war der dadurch erzielte Effekt so vielversprechend, dass es sich kaum empfahl, so etwas außerhalb der eigenen vier Wände auszuprobieren. Insgesamt also ein typisch vieldeutiges, elegantes Meisterwerk aus Silendirer Hand, das sie doch nur ein einziges Mal seit der Schenkung getragen hatte. Zu groß die Angst, dass der Stoff an einer rauen Hausecke hängen bleiben oder von einem trunken vorbeitorkelnden Idioten mit Körperflüssigkeiten befleckt werden könnte. Ganz von der Gefahr zu schweigen, die der Zobel barg - Marie erinnerte sich gut daran, wie er mit nonchalanter Miene den feinen Umhang des Ritters als Putzlappen nutzte.
Kurzum: Die Situation war untragbar geworden, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Blondine gehörte nicht unbedingt zu jenen, die sich mit ihrem Besitz hinter Schranktüren und Truhenschlösserln glücklich wähnten. Was sie hatte, wollte sie nutzen (wenige Ausnahmen vorbehalten). Es musste endlich etwas unternommen werden.

Marie leerte ihr Glas und ließ es auf der Fensterbank zurück, sich zum Schrank wendend, um diesen schillernden Schatten der eigenen Vergangenheit vorsichtig herauszuziehen. Es war ja nicht so, als hätte sie heute Besseres zu tun.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Schatten der Vergangenheit - von Marie Philippa Strastenberg - 25.02.2017, 14:54
RE: Schatten der Vergangenheit - von Marie Philippa Strastenberg - 13.03.2017, 12:25



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste