Südwalds Wacht
#6
Es ist eine seltsame Sache mit dem Glauben.

Servano hat die Lehre Mithras schon lange umarmt, nicht verwunderlich für das Land, von dem aus die Verheissung des Einen sich schliesslich aufmachte um sich Amhran zu unterwerfen. Nur hier und dort träumen im Halbdunkel Relikte jenes alten Glaubens, überleben in längst entleerten täglichen Ritualen, die entweder mit dem Dienst an Mithras verschmolzen sind, oder jede Verbindung zu ihrem Ursprung verloren haben.

Einigkeit, Ordnung, Führung - so hallen die Grundsätze durch die geheiligten Hallen des Tempels von Löwenstein, ich erinnere mich gut an die jeden Mond aufs Neue anstehende Reise in die grosse Stadt und den Besuch der Kirche, der so zwangsläufig und gewiss damit verbunden war, wie der Wandel der Jahreszeiten. Ich erinnere mich ebenso gut an das Gefühl von Ehrfurcht, wie an das Gefühl von Furcht. Mithras, so lehrten mich meine Eltern, meine Verwandten, alle Leute mit denen man im Alltag in Berührung kam, war eine wachende, strafende Gewalt - mächtig, vielleicht gnädig, auf jeden Fall aber unvorhersehbar.

Das Abbild eines Vaters in Gold und Pracht, ein Bild, das für ein Kind einfach zu verstehen und später einfach wiederzugeben war.

Ein falsches Bild, nichtsdestotrotz.

Es ist eine seltsame Sache mit dem Glauben. Nur hier verbindet sich Unwissenheit so mühelos mit blindem Vertrauen. Es gehört sich nicht zu zweifeln, wenn es im Kern um den Einen geht, es ziehmt sich nicht zu streiten. Die Hüter der Wahrheit sind die Priester und auf dem Land sind sie rar gesäht, Wanderer, die allzeit anderen - grösseren - Aufgaben entgegenstreben als dem irrlaufenden Aberglauben der Landbevölkerung einen korrigierenden Schubs zu geben.
Es ist anders in Löwenstein, denke ich, aber ich wuchs mit sehr wenig tatsächlichem Wissen über die Lehre des Mithras auf. Gewiss: Die Gebete waren bald schon in Fleisch und Blut übergegangen, die zum Alltag gehörenden kleinen Gesten, Anrufungen und auch Flüche.
Aber nichts davon zeugte jeweils Verständnis - statt Mithras hätte da ebenso gut die Sonne selbst im Mittelpunkt all der flehenden Bitte, grimmigen Forderungen und zornigen Verwünschungen stehen können.

Glaube. Vertraue. Gehorche.
Ordnung. Einigkeit. Führung.

Angesichts dieser dürren Kenntnisse war Wissen über die Mondwächter noch spärlicher zu bekommen. Jene, die etwas wusste, hielten lieber den Mund, als damit hausieren zu gehen und sich öffentlich zu jenem alten Glauben zu bekennen, brachte gewisse Schwierigkeiten mit sich: Wie wollte man vernünftig mit jemandem handeln und reden, der so einfach und klare Grundlagen des Zusammenlebens in Frage stellte. Mithras befiehlt, das war eine ebenso klare wie zuverlässige Linie.
Ich lernte in meinen Jahren der Wanderschaft nicht sehr viel dazu, nur dürre Fetzen, die vor dem Alltag jederzeit verblassten.

Aber nun, in dieser Zeit des Innehaltens und Nachdenkens regt sich zum ersten Mal die Neugier. Es ist nicht mehr genug etwas wiederzukäuen, das Andere bereits verdaut haben. Es ist nicht mehr genug eine vage - vermutlich falsche - Vorstellung zu pflegen.

Es ist eine seltsame Sache mit dem Glauben.

Wenn man wirklich danach verlangt, braucht es mehr als ohne Verstand ausgeführte Rituale.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 24.02.2017, 13:58
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 25.02.2017, 14:39
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 26.02.2017, 14:34
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 27.02.2017, 23:26
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 28.02.2017, 17:40
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 01.03.2017, 18:04
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 22.06.2018, 13:25
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 23.06.2018, 22:54
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 24.06.2018, 22:39
RE: Südwalds Wacht - von Ygritte Ackermann - 25.06.2018, 17:51
RE: Südwalds Wacht - von Gerwulf Leuenberg - 27.06.2018, 19:29



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste