Südwalds Wacht
#1
Schliesslich war der Frühling gekommen. Der Einmarsch, der seinen Anfang begonnen hatte, ich als nach Servano zurückgekehrt war, war nun in die letzten Züge eines grandiosen Triumphs eingetreten, nur hier und da schmolzen im Schatten sich zusammenduckender Steine noch schmutzige Erinnerungen aus Eis und Schnee zusammen. Überall regte sich das Leben wieder, aus Ästen, die sich vermeintlich tot, anklagend dem Himmel entgegengestreckt hatte, um die Herrschaft des Winters zu beklagen, spross bereits wieder Grün.

Vertraute Heimat.

Wer im Südwald aufwuchs, der kannte die Silhouette Löwensteins ob aus der Nähe oder grösserer Entfernung, der kannte auch die verschlungenen Wege jenseits der Hauptstrassen und die Begehrlichkeiten, die sie immer auf sich zogen. Reichtum hin oder her: Seit langer Zeit hatte es keiner der Barone mehr fertiggebracht wirklichen Frieden in jene Winkel Südwalds zu bringen, wo die Wege schmaler wurden und die Bäume dichter standen. Und seit dem Abschied der Riedhofens war es nicht besser geworden.

Wer im Südwald aufwuchs, der kannte den langen Schatten Löwensteins und den stetigen Einfluss des Königshofes auf ganz Servano. Zumindest die grossen Wege mussten sicher sein und was auch immer sich anschickte die Geschäfte zu stören, wurde unterbunden. Da hatte es in der Vergangenheit wenig Pardon gegeben. Es fühlte sich seltsam an, dass es nun so anders sein sollte.

Niemandsland.

Die Grenzfeste Richtung Candaria war nie eine Schönheit gewesen - eine Mauer, an der Gebäude wucherten wie ein Geschwüre. Nutzlos während der grössten Teil seiner Geschichte, eine Geste, die sinnlos wirkte, bis dann die Hexerkeuche das Schliessen der Tore veranlasst hatte. Wer hätte auch aus Candaria hinaufkommen sollen, jenem Land, dem der Truchsess selbst entstammte?
Das Blutkonklave hatte alles verändert.

Einsetzender Nieselregen sorgte dafür, dass ich meine Schritte beschleunigte, den aufragenden Mauern entgegen.
Es wurde Zeit die Vergangenheit zurück zu lassen.

Alte Heimat. Neue Heimat.
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#2
Festung Drachenschwanz hatte der Alte sie genannt, damals an jenem Tag, als ich mich anmachte Servano das erste Mal zu verlassen.
Ich erinnere mich daran, dass der Himmel an diesem Tag die Farbe alten Bleis hatte, ein schales Grau, das von Horizont zu Horizont reichte, nur hier und dort von einsamen Wolken aufgelockert. Ein kurzer Ausflug, so hatte man mir versprochen - ein Gutsbesitzer unweit der Drechslerspitze hatte einen für beide Seiten vorteilhaften Vertrag geschlossen.

Die spöttische Bezeichnung milderte meinen Enthusiasmus ein wenig, ich kaute stumm auf eigentümlich verletztem Stolz herum, während die Söldlinge feixten und einander zotige Witze zuwarfen. Keiner von ihnen war in Südwald geboren worden - was verstanden sie schon vom Glanz der trutzigen Mauern?

Viel Glanz gab es dann allerdings nicht zu sehen: Die lange Zeit des Friedens hatte stumpf werden lassen, was vor langer Zeit vielleicht einmal geglänzt hatte und auf ein paar griessgrämige Wachen in den Farben Servanos bekamen wir keinen Menschen zu sehen. Niemand fragte nach dem Woher und wohin. Niemanden interessierte es, was ein kleiner Trupp bewaffneter Männer und Frauen auf der anderen Seite der Grenze suchte.

Es war eine andere Zeit. Vor der Keuche. Vor dem Herzogsring. Vor dem Blutkonklave.

Damals verblasste mein Groll, kaum dass das Tor passiert war und sich das Versprechen Candarias vor mir öffnete, wurde ersetzt mit zuversichtlicher Entschlossenheit. Ich war jung und das Leben voller Versprechungen. Binnen Jahresfrist würde ich mir einen Namen gemacht haben.

Und nun, bald acht Jahre später, stehe ich erneut hier.

Älter, aber nicht weiser.

Und doch ist ein wichtiges Detail anders: Nun bin ich einer jener, die die Reisenden beobachten.
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#3
Wenn der Alte in weinselige Stimmung kam, was mit den Jahren immer häufiger vorkam, dann neigte er dazu die kurz angebundene Ruppigkeit der Tage abzulegen und in langgezogen, trübselige Betrachtungen des Lebens, des Schicksals und seiner Rolle darin zu schwelgen. Die meisten lernten rasch sich dann mit fadenscheinungen Entschuldigungen davonzustehlen, denn die Geschichten neigten ebenso dazu sich zu wiederholen, wie der Prozess von Überlegung, Bewertung und abschliessendem Schluss.

Ich war darin keine Ausnahme - selbst der längste Gedulds fanden riss irgendwann, wenn im Schein eines herabbrennenden Feuers den dritten Abend in Folge die gleiche traurige Eröffnung gewählt wurde. Und doch war eines hängengeblieben: Ein Mann, so pflegte der Alte in dieser Stimmung festzustellen, kam in zwei unterschiedlichen Ausprägungen: Der eine schaute in den Spiegel und sah die Vergangenheit, die bereits unmerklich durch die Finger geschlüpft war.
Der andere sah die glückselige Zukunft und die eigene Rolle dahin.
Beide Männer, so fuhr der Alte dann unbarmherzig fort, waren Idioten und verdienten es mit dem Kopf voran in eine Güllepfütze getaucht zu werden.

Einmal wagte ich es, bereits kurz davor die Flucht anzutreten, nachzufragen, als was für eine Art von Mann der Alte selbst sich eigentlich sah - immer bereit nötigenfalls eilig über die niedrigen Flammen hinweg zu setzen und eilig in Richtung des Waldrandes zu spurten, aber zu meiner Überraschung lachte er nur und reichte den Weinschlauch zu mir herüber. "Das ist fast die richtige Frage, Gerwulf. Also, was ist die Richtige?"

Damals war ich zu verlegen über meine entnervte Dreistigkeit, zu beschämt von der Fehleinschätzung des Alten um mehr als sinnloses Gestotter von mir zu geben. Und auch jetzt, im Schatten dieser Mauer mit einem unterschriebenen und gesiegeltem Befehl in der Tasche, fehlt die Gewissheit.

Was ist die richtige Frage?
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#4
Rückblick - Herbst 1403

"Du bist zu langsam!"

Die helle Triumph in der Stimme des Jünglings stach schlimmer als der frische Schnitt auf der Wange, mehr als das rote Blut, das vom stetigen Nieselregen erst verdünnt und dann fortgewaschen wurde. Genau wie ich trug er ein buntes Sammelsurium verschiedener Rüstungsteile, alle praktisch und geeignet für längere Bewegung ducrh unwegsames Gelände, gezeichnet von überwundenen Strapazen und überstandenen Gefechten. Am Ende liess sich ein Kettenhemd leichter zusammenflicken als der Mann, der unter darunter verstorben war und selbst verkrustete Blutflecken waren mit genug Sand und Öl kein Problem.

Garwin war den Saatkrähen erst vor einem Mond beigetragen, begierig darauf die Welt kennenzulernen und sich den Teil davon zu nehmen, der ihm bislang vorenthalten worden war. Im Kampf zeigte er schnelle, sichere Reflexe, ein gutes Gefühl für sicheren Stand und eine Beweglichkeit, die beides erfolgreich zusammenbrachte. Was ihm fehlte war Erfahrung.

"Einmal ist geschenkt, Kleiner."

Der gestampfte Boden im Inneren des umfriedeten Gehöfts war nie gepflastert worden, eine Aufschüttung von Erde, die der Neigung in Richtung des Flussufers folgte und nun dabei war sich in Morast zu verwandeln. Was auch immer den Architekten des stabilen kleinen Turms geleitet hatte, er war gewiss nicht hiergewesen um sich anzusehen, wie jeder Regenguss aufs Neue vom geraden Dach träufelte und durch den Hof rann.

Warum stand ich hier, bis zu den Knöcheln im Schlamm, herausgefordert von einem kaum den Kinderschuhen entwachsenen Burschen, der mich so sehr an mich selbst erinnerte, dass es schmerzte?
Als der nächste Angriff kam, unterlief ich den weiten Schwung und ging direkt nach vorn, aber der zähe Morast machte mich langsamer und mein Gegenüber vergrösserte rasch die Entfernung, Klinge traf nur hell auf Klinge ohne wenigstens die Wehr zu berühren.

Verdammter kleiner Hosenscheisser.

Ich wusste nicht einmal, wo der Alte den Knaben aufgetrieben hatte und bis jetzt hatte jener nicht darüber gesprochen, war dafür umso eifriger gewesen von zu verdienendem Gold, von zu schlagenden Gefechten und zu beglückenden Frauen zu schwärmen. Ein Aufschneider und Taugenichts, wie er im Buche stand. Wahrscheinlich fühlte ich mich deswegen so sehr an mich selbst erinnert.

Von weniger Narben gezeichnet. Schneller, getrieben von der ungeduldigen Agilität der Jugend.

Und ich würde nicht mehr besser werden, ganz im Gegenteil: Was ich auch an Erfahrung und Besonnenheit gewann, das verblasste vor dem Verlust an Schnellkraft, Gewandtheit und Entschlossenheit gleichermassen. Es dauerte jetzt schon ein wenig länger sich von den Kämpfen zu erholen, von den Märschen und den Ritten.

Der Alte war der Beweis dafür, dass man auch mit längst ergrautem Haar noch ein furchterregender Kämpfer sein konnte, aber all die respektgebietenden Fähigkeiten täuschten dennoch nicht darüber hinweg, dass sie nur ein Abglanz früherer Fähigkeiten waren. Was für ein Recke musste er vor einem viertel Jahrhundert gewesen sein?

Wieder griff Garwin an, prüfte meine Entschlossenheit mit einer Serie rascher Hiebe und schüttelte sich dann wie ein nasser Hund. Was als Nieselregen begonnen hatte, wandelte sich allmählich in eine rechte Sturzflut. Noch wenige Minuten und was ein Hof gewesen war, würde eine grosse, braune Pfütze sein.

Es wurde Zeit das Geplänkel zu beenden.
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#5
Mauern, soweit das Auge reicht. Gepflasterte Strassen, über die jeden Tag ungezählte Füsse wandern.
Nach all den Strapazen der zurückliegenden Jahre ist Löwenstein noch immer eine gewaltige Präsenz - direkt wie der Faustschlag eines Betrunkenen und von ähnlicher Subtilität. An allen Ecken findet man Echos der Einflüsse all der Menschen, die aus den verschiedenen Lehen hierher kamen um ihr Glück zu finden und ein Teil ihres eigenen Erbes mitbrachten.

Das kolossale Herz der Stadt ist aber mitnichten die Löwenwacht, die im Hintergrund ruht wie ein tatsächlich schlafender Löwe - dieser Tage noch mehr als früher - und auch nicht die Vogtei, wo die eifrigen Beamten sich durch einen Sumpf an Gesetzen und Regeln wühlen, der glücklich im vergangenen Jahrtausend wuchs.
Sich in einem solchen Übermaß an ausufernder Ordnung zu ergehen ist das Privileg der Zilivisation, die noch das kleinste Detail abzudecken versucht. Wo es nicht mehr um das eigene Leben geht, sondern nur noch am Stand und Besitz, hält die Spitzfindigkeit Einzug und wo Dreistigkeit auf den Versuch von Gerechtigkeit trifft, schwindet der gesunde Menschenverstand. Es ist das Feuer des Krieges, das diese Pflanze schliesslich wieder zurechtstutzt, sie von Trieben bereinigt und längst verdorrte Äste verbrennt.

Die Abschaffung des Stadtrates war ein solcher Kahlschlag, der erste harte Schnitt nach der Plage der Hexerkeuche, und dass der Aufschrei der Empörung so klein ausfiel, war ein Zeichen dafür, wie sehr die Auseinandersetzungen das Bürgertum bereits geschwächt hatten. Die Alteingesessenen hatten geblutet, bis sie unter all den frischen Einwanderern nur noch ein kleines ungehörtes Stimmchen waren.

So ist der Lauf der Dinge.
Nichts bleibt. Alles wandelt sich. Und dies, so glaube ich, ist das wahre Versprechen Mithras':

Dass die Menschen ihr Gesicht zur Sonne heben, heraus aus dem Schatten und den Banden schwelgender Erinnerungen. Ins Licht der Veränderung, die zur grössten Ordnung hinführt. Alles wächst. Alles gedeiht.
Aber es braucht die Hand des Schäfers, um die Herde zusammenzuhalten. Es braucht die scharfen Zähne des Hütehundes gegen die streunenden Wölfe.

Und dann und wann ist ein Feuer nötig.
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#6
Es ist eine seltsame Sache mit dem Glauben.

Servano hat die Lehre Mithras schon lange umarmt, nicht verwunderlich für das Land, von dem aus die Verheissung des Einen sich schliesslich aufmachte um sich Amhran zu unterwerfen. Nur hier und dort träumen im Halbdunkel Relikte jenes alten Glaubens, überleben in längst entleerten täglichen Ritualen, die entweder mit dem Dienst an Mithras verschmolzen sind, oder jede Verbindung zu ihrem Ursprung verloren haben.

Einigkeit, Ordnung, Führung - so hallen die Grundsätze durch die geheiligten Hallen des Tempels von Löwenstein, ich erinnere mich gut an die jeden Mond aufs Neue anstehende Reise in die grosse Stadt und den Besuch der Kirche, der so zwangsläufig und gewiss damit verbunden war, wie der Wandel der Jahreszeiten. Ich erinnere mich ebenso gut an das Gefühl von Ehrfurcht, wie an das Gefühl von Furcht. Mithras, so lehrten mich meine Eltern, meine Verwandten, alle Leute mit denen man im Alltag in Berührung kam, war eine wachende, strafende Gewalt - mächtig, vielleicht gnädig, auf jeden Fall aber unvorhersehbar.

Das Abbild eines Vaters in Gold und Pracht, ein Bild, das für ein Kind einfach zu verstehen und später einfach wiederzugeben war.

Ein falsches Bild, nichtsdestotrotz.

Es ist eine seltsame Sache mit dem Glauben. Nur hier verbindet sich Unwissenheit so mühelos mit blindem Vertrauen. Es gehört sich nicht zu zweifeln, wenn es im Kern um den Einen geht, es ziehmt sich nicht zu streiten. Die Hüter der Wahrheit sind die Priester und auf dem Land sind sie rar gesäht, Wanderer, die allzeit anderen - grösseren - Aufgaben entgegenstreben als dem irrlaufenden Aberglauben der Landbevölkerung einen korrigierenden Schubs zu geben.
Es ist anders in Löwenstein, denke ich, aber ich wuchs mit sehr wenig tatsächlichem Wissen über die Lehre des Mithras auf. Gewiss: Die Gebete waren bald schon in Fleisch und Blut übergegangen, die zum Alltag gehörenden kleinen Gesten, Anrufungen und auch Flüche.
Aber nichts davon zeugte jeweils Verständnis - statt Mithras hätte da ebenso gut die Sonne selbst im Mittelpunkt all der flehenden Bitte, grimmigen Forderungen und zornigen Verwünschungen stehen können.

Glaube. Vertraue. Gehorche.
Ordnung. Einigkeit. Führung.

Angesichts dieser dürren Kenntnisse war Wissen über die Mondwächter noch spärlicher zu bekommen. Jene, die etwas wusste, hielten lieber den Mund, als damit hausieren zu gehen und sich öffentlich zu jenem alten Glauben zu bekennen, brachte gewisse Schwierigkeiten mit sich: Wie wollte man vernünftig mit jemandem handeln und reden, der so einfach und klare Grundlagen des Zusammenlebens in Frage stellte. Mithras befiehlt, das war eine ebenso klare wie zuverlässige Linie.
Ich lernte in meinen Jahren der Wanderschaft nicht sehr viel dazu, nur dürre Fetzen, die vor dem Alltag jederzeit verblassten.

Aber nun, in dieser Zeit des Innehaltens und Nachdenkens regt sich zum ersten Mal die Neugier. Es ist nicht mehr genug etwas wiederzukäuen, das Andere bereits verdaut haben. Es ist nicht mehr genug eine vage - vermutlich falsche - Vorstellung zu pflegen.

Es ist eine seltsame Sache mit dem Glauben.

Wenn man wirklich danach verlangt, braucht es mehr als ohne Verstand ausgeführte Rituale.
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#7
Tiefe Dunkelheit herrscht über den Strassen Löwensteins, als er in das noch unvertraute Heim zurückkehrt, hinter den Schutz jener Mauern, aber die er sich noch nicht gut genug gewöhnt hat, um nicht bei jedem Aufwachen eine kurze Phase der Desorientierung zu durchleben.

"Ich bin zurück." tönt er, eine schale Geste der Höflichkeit gegenüber der ungebetenen Mitbewohnerin. 

Etwas ist anders.

Die gerade noch durchdringende Müdigkeit schmilzt zu scharfer Wachsamkeit, während der Herzschlag sich beschleunigt und die Finger nach dem Griff der Waffe suchen. Alte Lektionen, zu tief verankert, als dass er darüber nachdenken müsste: Wenn dir etwas eigenartig vorkommt: Zuerst Deckung suchen. Dann genauer nachsehen.

Nichts.

Das Haus liegt still. Der Tisch ist aufgeräumt.
An anderen Tagen wäre das genug, um die Nerven zu beruhigen, aber es ist noch keinen ganzen Tag her, seitdem er seinen wundgeschlagenen Seelenstern aufgelesen hat.

"Ygritte?"

Mit der Hand an der Waffe wird die Treppe erklommen und dort, kaum, dass der Kopf hoch genug ist, um den Flur zu sehen, schlägt die Erkenntnis ein wie ein Blitzschlag.

'Sie ist ausgezogen.'

Nicht, dass sich viel geändert hatte in der ohnehin noch kargen Heimstatt - aber die fehlenden Sachen der kleinen Frau stechen heraus wie ein plötzlicher Schmerz im Auge und ein eigenwilliges Unbehagen dämpft die Erleichterung des Mannes. 

'Gleich morgen werde ich Rahel davon erzählen. Sie braucht sich keine Sorgen zu machen. Alles ist, wie es sein soll. Alles ist, wie es sein soll.'

Er steht am Fenster, sieht hinaus auf das dunkle Haus auf der anderen Strassenseite und wartet darauf, dass der Klumpen im Magen sich auflöst, aber das Unbehagen will nicht verschwinden und über die Stunden wächst es heran wie ein hässliches Geschwür.
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#8
Die Jahre waren nicht gut zu dem kleinen aus Silber geformten Anhänger gewesen: Sie alle, so schien es, hatten ihre Spuren hinterlassen, Jahresringe, die sich in Form von Kratzern und kleinen Dellen ausgedrückt hatten, in einem Anlaufen des Metalls, die niemals mehr ganz beseitigt worden war. Andere Stellen glänzen übermässig hell, kennzeichneten, wo Bänder lagen oder Stoff Jahr auf Jahr über die Oberfläche gerieben hatte. 
An welche Art von Vogel der Erschaffer gedacht hatte, liess sich schwer sagen: Die ganze in Silber gefasste Gestalt erinnerte an eine bizarre Kreuzung aus einem Kormoran und einen Falken mit den schmalen, angewinkelten Flügeln des Letzteren in Verbindung mit dem gestreckten Hals und dem langen Schnabel des Fischjägers.

Einst hatte es einen winzigen Stein dort gegeben, wo das Auge des Vogels saß - heute fand sich dort nur eine dunkle Höhle angelaufenen Silbers. Was auch immer einst vorgesehen gewesen war, war schon so lange vergessen, wie der Erschaffer des Schmuckstücks.

Aber es besaß Kraft.

Durch irgendeinen Wink des Schicksals hatte die einfache, mitgenommene Form es fertiggebracht über sich hinaus zu wachsen, den Beobachter einzufangen: Es war etwas an diesem einfachen Schmuckstück, das sich dem Wirken des Verstandes entzog, denn dieser war nicht in der Lage einen rationalen Grund für besonderes Interesse zu finden - und doch war das gute Stück von Hand zu Hand gewandert, besser behütet als manch wertvollerer Schmuck, gerettet über die Zeit und das erbarmungslose Wirken des Schicksals.

Und auch bei dem Wachmann verfehlte es seinen Zauber nicht, zog ein Interesse an, das sich noch nie darum gekümmert hatte, was jemand besonderes an den Fingern oder um den Hals trug.

'Das ist das Richtige für Rahel..'



Ein einfaches Werkzeug erinnert sich beständig seiner Aufgabe. Ein kompliziertes Werkzeug muß beständig neu eingestellt werden.



An diesem Abend war die Last der Mauern unerträglich geworden: Die lichtlose Umarmung der dicken Wände war schon an guten Tagen nur schwer zu ertragen und heute war ihre alle Geräusche schluckende stumme Gegenwart mehr gewesen, als Gerwulf zu bewältigen in der Lage war. Der Abmarsch in die Stadt hinein war eine Flucht vor sich selbst, vor den zwischen die Schläfen gepressten Wünschen und dem bitteren Geschmack von Enttäuschung und Demütigung. 
Er hatte es nicht über sich gebracht die Uniform anzulegen, jene Uniform, von der er keinen Zweifel hatte, dass sie ihn zu einem besseren Menschen machte und das trug seinen Teil zum Unbehagen bei: Er war es nicht mehr gewohnt sich ohne Waffe und Wehr, ohne den lila Rock durch Löwenstein zu bewegen und das sonst so vertraute Pflaster fühlte sich fremd unter den Füßen an.

Die niemals ganz schlafende Stadt lag auch jetzt nicht verlassen da und unter anderen Umständen hätte ein einsamer Spaziergänger vielleicht schon allzu bald ein Rudel menschlicher Hyänen an den Fersen gehabt, aber entweder erkannten die interessierten Jäger das Gesicht des Mannes und entschieden, dass die Bequemlichkeit heute den möglichen Ärger überwog, oder sie zogen ähnliche Schlüsse aus der offenen Haltung. Hier gab es immer einfachere Opfer, dafür hatte der Krieg mit seiner Schwemme von Flüchtlingen gesorgt - ein Krieg, der auf gewisse Weise nun auch im inneren der Stadtmauern weiterlebte: Die Neuankömmlinge hatten etablierte Strukturen durchbrochen und ganze Geschäfte ruiniert, aus purer Not heraus wetteiferten die Ärmsten der Armen gegeneinander. 
Wer bereit war nur ein paar Schritt weiter zu gehen und den vermeintlich schützenden Kreis der roten Laternen zu verlassen, der konnte kostbares Silber sparen.

"Nur 2 Schilling."

"Wonach du auch suchst, hier hast du es gefunden."

"Hast du genug Mumm für mich?"

Die Angebote und Herausforderungen blieben zurück - sie waren so vertraut wie Wegweiser. Sein Ziel lag andernorts, in tieferen Schatten und näher an der Verzweiflung, wo die Scham kein Gesicht mehr kannte und niemand mehr nach links oder rechts schaute.

Als er schliesslich fand, was er suchte, war der Schmerz beinahe unerträglich geworden, ein beständiges Pulsieren im Herzen, das ihn zu Kurzatmigkeit zwang und das verstohlene Flüstern der Frau machte es nicht besser. 

'Sei still. Sei still.' "Sei still!"

Es war nicht genug die Hand über Mund und Nase zu legen, nicht genug die freie Hand um die Kehle zu pressen und zuzudrücken, denn noch immer wollte sie nicht still sein. Ihre Arme schnellten in die Höhe und griffen an sein Handgelenk - zu schwach um den Griff zu brechen und auch das Treten der Füße blieb vergeblich, wie eine enttäuschte, aber letztlich nutzlose Protestnote. Irgendwann ging die verbliebene Kraft aus und die Gegenwehr erlahmte, herabfallende Hände strecken die Finger, als das Bewusstsein schwand, nahm den entsetzten Funken aus den von Tränen verquollenen Augen.

"Warum .. konntest du nicht still sein?"

Für einen Moment regte sich die Scham, verband sich mit einem winzigen Funken von Entsetzen über das Geschehene und wurde in gleicher Weise davongefegt von grimmiger Entschlossenheit.
Er war noch nicht fertig. Das Versprochene war noch nicht eingelöst worden.

Die Finger fanden etwas unter dem reissenden Stoff: Ein Schmuckstück an einem langen, fadenscheinigen Lederband, die kleine Figur eines Vogels, die nach nichts aussah, auch wenn das Gewicht ihm verriet, dass dies Silber sein musste. Kein Juwelier der Stadt hätte mehr als einen Schilling dafür hergegeben, aber dennoch fühlte Gerwulf sich eigenartig berührt. 

'Das ist das Richtige für Rahel..'

Weitermachen.
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#9
Spoiler Triggerwarnung: Beschreibung eines Selbstmordversuchs


Schmiede dein Werkzeug gut! Mit Sorgfalt und Umsicht mag es gefertigt werden, sonst versagt es im entschiedenen Augenblick.




Was gestern noch brütende Wärme war, angereichert mit dem Versprechen auf weitere heisse Tage, ist in der Nacht abgekühlt wie eine vor der Zeit über den Bruchpunkt belastete Liebe.
Schwere Wolken hängen unheilverkündend über Löwenstein und lassen diesigen Nieselregen fallen, der sich dann und wann zu anhaltendem Regen auswächst und dann Bürger wie Freie gleichermaßen von den Strassen treibt.
Einer von Ersteren - zumindest laut der auf den heutigen Tag ausgestellten Urkunde - sitzt im Obergeschoss seines noch immer mehr als karg eingerichteten Hauses auf einem der von Ygritte besorgten und zurückgelassenen Stühle in Gesellschaft eines weiteren Stuhls, einer Flasche Schnaps und einem Strick. 

Die erste hat einen gleichberechtigten Sitzplatz auf dem anderen nach oben verlagerten Stuhl gefunden und dort bereits verdunstende Kreise klarer Flüssigkeit hinterlassen.
Der zweite ist mit einem Ende am Dachbalken festgeknüpft und die Schlinge baumelt ebenso einladend wie erwartungsvoll.

Es gibt freundlichere Einladungen, aber nicht in diesem Haus und auch wenn der getrübte Blick des Mannes immer wieder, wie in stummer Erwartung zum Fenster wandert und durch den Regenschleier hinüberblickt auf jenen Balkon auf der anderen Strassenseite, offenbart sich doch kein inspirierender Funken, keine erhellende Einsicht im beschrittenen Jammertal.

Zurecht - daran besteht für den Mann kein Zweifel.
Er hat schon früher getötet, aber das war etwas Anderes: Bezahlte Arbeit, der Einsatz gegen andere Bewaffnete, die das Risiko kannten und genau wie er darauf gewettet hatten unsterblich zu sein. 
Einer von ihnen war der Urheber der langen Narbe, die sich, vom Schlüsselbein beginnend, über die ganze Flanke bis zur Hüfte zieht, das Ergebnis einer Verwundung, die ihn schliesslich dazu brachte die Waffen zu strecken und die Söldlinge zu verlassen. 

Und nun sitzt er hier in der Gesellschaft von Flasche und Strick, unentschlossen, welchem er jetzt den Vorrang geben soll und er wählt - zuverlässig, wie immer in den letzten Stunden, die bereits bedenklich geleerte Flasche. Es ist absehbar, wann sie keine Alternative mehr darstellen wird und spätestens dann wird das Schicksal sehen wollen. Alle Karten sind gegeben. Nun bleibt die einzige Frage, wie er sie spielt.

Auch wenn die Erinnerung an die ganze Szenerie ein wenig verschwommen ist und er nicht mehr zusammenbringt, was .. anschliessend .. mit der Leiche der armen Frau passierte, weiss er gut genug, wie er das Leben aus ihr herausgedrückte und selbst jetzt, zwei Tage entfernt, erschaudert er von der schwachen Erinnerungen dieses machtvollen Gefühl: Der ungebändigte Zorn. Das ungerichtete Verlangen, die ganze gereizte Attitüde eines Hahns, der vor einem Kampf beginnt wild nach Körnern zu picken.
Vor dieser Einsicht indes gibt es kein Entrinnen: Er hat aus den niedersten Gründen, die man sich vorstellen kann, getötet. Er braucht keinen Blick in die Bullen von Reich, Lehen und Stadt um zu wissen, was das Gesetz von ihm hält, denn er selbst trägt den lila Rock Tag für Tag. Steht auf der anderen Seite. 

Ein Beschützer. Ein Wächter. Ein Versager.

Die Flasche ist leer und er weiss, es ist Zeit. 

Das Schlimmste, so gesteht er sich ein, während er den Knoten des Stricks sorgsam kontrolliert, ist noch etwas anderes, ein kleines, an sich unwichtiges Detail am Rande. 

Nein. Nicht der Anhänger.

Es ist die Gelöstheit. Der erste ruhige Schlaf seit langer Zeit, auch wenn er es nicht über sich gebracht hat irgendetwas zu essen in der Zwischenzeit. Das Gefühl wieder vollkommen Herr seiner Selbst zu sein, gesegnet mit einem kühlen Verstand und einem ausgerichteten moralischen Kompass, der unbeirrt nur in eine einzige Richtung zeigt.

Es ist Zeit. 

Ein letzter Blick durch das Fenster, während er den Strick festzieht. Keine Möglichkeit die eigenen Hände zu binden, aber er weiss gut genug, dass das nicht nötig ist. Wenn der Stuhl einmal fällt, wird der Kampf erbärmlich sein und entwürdigend, sich in die Länge ziehen, bis das Unvermeidliche eingetreten ist.
Er beneidet die arme Person nicht, die als nächstes dieses, nun gleich verwaiste Haus betreten wird.

'Vermutlich Ygritte.'

Innehalten. Der bohrende Gedanke, dass er noch immer zurück kann. Dass sich eine Lösung finden wird. Niemand muss erfahren, was passiert ist. Niemand.

Der Stuhl fällt und so tut es auch der Mann.


Flammen.


Gelegentlich hat das Schicksal tatsächlich ein Händchen für Ironie und so ist es in der Tat die gebeutelte ehemalige Mitbewohnerin, die den Wachmann einige Zeit später findet. Und das wiederum zerschlägt alle abendlichen Pläne sich in einer der billigeren Tavernen durch die Sammlung von Bränden zu trinken. 
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#10
25. Brachet 1405 - Löwenstein

Ich hatte zu viel gelesen.

Meine Hand strich durch sein Haar und mein Blick wanderte vom Dachbalken, wo immer noch der Rest der Schlaufe hing, weiter zu seinem Hals. Ich kam mir vor als würde ich mich unglaublich langsam bewegen, als würde jeder Eindruck mindestens eine Stunde brauchte um in meinem Kopf anzukommen. Ich wusste nicht was mich mehr aus dem Konzept brachte, die Tatsache das er sich umbringen wollte oder das es durch irgendein Feuer, wofür es nirgends Hinweise gab, keine Erklärung gab.

Ich hatte zu viel gelesen.

Ich beobachtete ihn wie er schlief und immer mal wieder das Gesicht verzog, wohl durch den Schmerz dem ich ihn nicht nehmen konnte. Erneut strich ich durch sein Haar und nahm an das es irgendwas bringen würde. Ich konnte keinen Heiler holen, es würden Fragen aufkommen und weder ich noch er konnten sie beantworten. Zumindest bildete ich mir das ein. 

Ich hatte eindeutig zu viel gelesen.

Dieser Klumpen, der anscheinend über Nacht gewachsen war und sich von meinem Bauch zu meinem Hals ausgebreitet hatte und mir dieses unruhige Gefühl gab, dieses Gefühl von Angst und dem Drang zu laufen, wurde auch nicht kleiner als die ersten Sonnenstrahlen durch die Scheiben zogen und dem ganzen Raum einen weniger bedrückende Atmosphäre gaben. Bitter das selbst ein Seil an einem Dachbalken im Sonnenlicht ganz schön aussah. Ich sah zurück auf meine Hand, löste sie endlich von seinem Schopf und dann saß ich einfach weiter da und wartete auf ein Wunder. 

Ich wünschte ich hätte nicht viel gelesen.
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