Anouk: Geschichten
#6
Quelltag, 29. Heuert des Jahres 1404
Rabenflug

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Anouk verbrachte die Tage damit auf dem höchsten Punkt des Rabenhügels zu verharren und stumm in den Himmel zu starren, wo die schwarzen Vögel kreisten. Es wäre vermutlich ein seltsamer Anblick gewesen, doch hier oben gab es keine Besucher und keine neugierigen Blicke musterten sie bei der Erfüllung ihrer Aufgabe. Die schwarzhaarige Galatiern saß also ungestört Stunde um Stunde auf ihrem Ausguck, den sie morgens bestieg und bei Sonnenuntergang wieder verließ. Sie brachte stets einen Beutel gefüllt mit Proviant mit sich, sowie ein Jutekissen, auf das sie sich setzen konnte und eine leichte Wolldecke, die sie gegen den kühlen Wind schützen würde. An manchen Tagen zündete sie Kerzen an, die sie um sich herum aufstellte. An anderen Tagen verbrannte sie Räucherwerk. Je mehr Tage ins Land zogen, desto ausgefallener wurden ihre Rituale und energischer ihre Worte, die sie an die Götter richtete - bis sie eines Tages die Geduld verließ und sie ihrem Zorn Luft machte.

Warum schickt ihr mir kein Zeichen? Bin ich etwa unwürdig?, schrie sie laut in den Himmel und ballte ihre Hände zu Fäusten. Der Vorhang im Nebenhaus der großen Halle wurde beiseite geschoben und Giselles Gesicht erschien hinter der Fensterscheibe. Sie schüttelte nach wenigen Augenblicken den Kopf und zog den Vorhang wieder zu.

Gwendolyn hatte ihr aufgetragen, den Flug der Raben drei Tage lang zu beobachten - inzwischen waren daraus sechs Tage geworden. Anouk hatte die Raben von morgens bis abends observiert, ihre Flugbahn studiert und irgendwann sogar begonnen ihnen Namen zu geben, auch wenn sie die einzelnen Vögel gar nicht voneinander unterscheiden konnte. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihren Flug nicht deuten. Also begann sie, die Götter um ein Zeichen zu bitten - doch die erhoffte Antwort blieb aus.

Die Rabenschülerin trat voller Wut gegen die Schale mit den Opfergaben, die in hohem Bogen vom Ausguck flog und dessen Inhalt irgendwo auf den Felsen unterhalb landete. Dieser Affront gegen die Götter wurde mit plötzlich einsetzendem Platzregen quittiert. Anouk griff nach der Wolldecke und warf sie um sich, um sich anschließend mit grimmiger Miene auf den Boden zu kauern und die Knie an den Körper heranzuziehen. Stur wie sie war, blieb sie trotz des Wolkenbruchs auf ihrem Ausguck sitzen. Regentropfen rannen über ihr Gesicht hinab und tropften von ihrer Nasenspitze zu Boden. So plötzlich wie der Regen gekommen war, hörte er auch wieder auf und die Sonne brach durch die dunklen Wolken hindurch. Anouk schloss die Augen und legte den Kopf mit einem Seufzen in den Nacken.

Erinnerungen an ihre Ziehmutter Myrna tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Die Druidin hatte schneeweißes, langes, geflochtenes Haar und warme, braune Augen. Das Leben hatte ihr Gesicht mit unzähligen kleinen Falten gezeichnet. Es war ein Gesicht, das Strenge ausdrücken konnte, aber auch Trost und Wärme spendete - das Gesicht einer liebenden Mutter. Denn obwohl Anouk nicht ihr leibliches Kind war, so ließ Myrna nie einen Zweifel daran, dass sie Anouk liebte, als wäre sie ihr eigenes Fleisch und Blut und auch Anouk nannte sie stets nur "Máthair", was übersetzt "Mutter" bedeutete.

Unter der Obhut der Druidin wurde aus dem Findelkind eine junge Frau. Myrna brachte ihr das Wissen über die Götter näher, lehrte ihr die alten galatischen Bräuche, die Grundlagen der Kräuterkunde und traditionellen Heilkunst. Sie erklärte ihr die Bedeutung der einzelnen Runenzeichen und wie man die Runen warf. Doch wann immer Anouk sie auf das "dritte Auge" ansprach oder die Gabe, die Myrna besaß, erwiderte die alte Frau nur, dass die Zeit noch nicht gekommen wäre, sie in diese Geheimnisse einzuweihen. Die Jahre vergingen und immer wieder erhielt Anouk dieselbe Antwort.

Anouk spürte, dass tief in ihr etwas schlummerte, das irgendwann erwachen würde. Vielleicht war der Versuch, es aufzuwecken und gewaltsam an die Oberfläche zu ziehen, falsch. Vielleicht war die Zeit noch nicht gekommen.

Die Rabenschülerin war so tief in ihren Gedanken versunken, dass sie zunächst nicht bemerkte, wie einer der Raben auf dem hölzernen Geländer des Ausgucks landete. Erst als er ein Krächzen von sich gab, öffnete Anouk die Augen und sah zu ihm herüber. Die beiden Lebewesen starrten sich einen Moment lang an. Dann hackte der Rabe mit dem Schnabel nach etwas, das auf dem Geländer direkt neben ihm lag. Ein kleiner Bausch Wolle? Der schwarze Bote breitete seine Flügel aus und stieß sich vom Geländer ab, die Wolle zurücklassend. Anouk war mit einem Satz auf den Beinen, um dem Raben hinterherzusehen, der in in Richtung Südwesten verschwand. Dann streckte sie ihre zitternden Finger nach der Wolle aus und schloss die Faust darum, den Blick nicht vom Horizont abwendend.

Es vergingen einige Herzschläge, ehe ihre Lippen leise Worte formten:
Ravinsthal wird in Zeiten des Unheils ein starker Verbündeter zur Seite stehen.

Sie schien fast erschrocken über diese Erkenntnis zu sein, so hastig wie sie den Ausguck verließ. Nur die durchnässte Wolldecke und das Jutekissen blieben zurück, als die Rabenschülerin gen Dorf eilte.

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Anouk: Geschichten - von Anouk - 08.02.2017, 13:00
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