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Wochenmitte, 8. Hornung des Jahres 1404
Rückkehr von den Inseln

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Es war kurz nach Mitternacht, als die junge Frau mit den wilden, schwarzen Haaren und den ungleichen Augen das Hauptquartier der Klinge in den Rabenfeldern betrat. Der Boden unter ihren Füßen knarzte bei jedem Schritt, den sie tat. Sie ließ sich Zeit, hatte keine Eile. Auf den Möbeln konnte man eine dünne Staubschicht erkennen. Nur das Glimmen der Glut in der Feuerstelle war stummer Zeuge dessen, dass sie vor wenigen Stunden noch mit Cois hier gesessen und geredet hatte. Es erweckte ansonsten nicht den Anschein, als würde dieses Haus noch oft genutzt werden - es fehlte ihm an Zeichen von Leben. Anouk schürte das Feuer wieder an und rieb sich die kalten Finger.

Sie war wieder zurückgekehrt. Anouk verbrachte zwei Tage in Ravinsthal bis sie die anderen am dritten Tag gefunden hatte. Zuerst traf sie Cois an den Stufen des Rabenkreises. Sie freute sich so sehr nach all der Zeit endlich wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen. Doch Cois Freude fiel eher verhalten aus: Er war Druide geworden und sein Gebahren hatte an jeglicher Emotion verloren. Er strahlte damit eine gewisse Erhabenheit und Unnahbarkeit, aber auch Gleichgültigkeit aus. Wenn er Freude über ihr Wiedersehen empfand, dann verbarg er diese doch sehr gut. Doch was Cois an Freude fehlte, das machte Cahira wieder mit ihrer Überschwänglichkeit wett. Sie umarmte die junge Frau und drückte sie an sich, dass es Anouk vor Rührung die Tränen in die Augen trieb. Die Freude über das Wiedersehen der beiden Frauen war so groß, dass Anouk für einen Moment vergaß, welche Botschaft Cois ihr kurz zuvor überbracht hatte.

Kordian war nicht hier. Es musste einige Monate nach ihrer Abreise passiert sein, als er ohne ein Wort zu sagen verschwand und seitdem nicht wieder aufgetaucht war. Wohin war er gegangen?

Anouk war anderthalb Jahre fort gewesen. Was als eine Reise von wenigen Monaten geplant war, endete mit einer Verkettung ungünstiger Zwischenfälle, die sie länger auf Ialo'terom festhielten als sie wollte. Sie hatte den Tod ihrer Mutter betrauert, wurde um Hilfe gebeten als es hieß, eine Krankheit sei in den umliegenden Dörfern ausgebrochen, erkrankte selbst schwer und das inmitten eines hereinbrechenden Sippenkrieges. Es dauerte Monate, bis sie wieder genesen war und sich von den Strapazen erholt hatte. Der frühe Wintereinbruch verzögerte ihre Abreise, denn kein Schiff wagte sich bei dem rauen Wetter an die Insel heran. Die Klippen Ialo'teroms waren im Sommer gefährlich und im Winter tödlich. Anouk überredete einen erfahrenen, galatischen Seemann seine Reise zur Dug Eth'belsa früher anzutreten und sie mitzunehmen. Dort wartete sie weitere Wochen bis sie ein Schiff nehmen konnte, welches sie direkt nach Amhran zur Anlegestelle von Rabenstein brachte.

Die Nachricht von Kordians Abwesenheit hatte sie härter getroffen, als sie nach außen hin zeigte. Jetzt, wo alles still um sie herum und sie allein mit ihren Gedanken war, brach sie auf dem Boden zusammen und weinte hemmungslos.

Kordian - ihr Mann, ihr Geliebter, ihr Gefährte - die einzige Person, bei der sie sich sicher und geborgen fühlte. Sie hatte so lange darauf gewartet ihn endlich wiederzusehen. Es hatte sie alle Kraft gekostet geduldig zu sein, doch jetzt waren ihre Kräfte erschöpft. Anouk kroch die steinerne Treppe ins erste Geschoss hoch und schleppte ihren Körper in eines der Stockbetten. Dort vergrub sie ihr Gesicht in dem Kissen und weinte, bis die Erschöpfung sie in den Schlaf zwang.

Am nächsten Morgen war sie wieder in der Lage vernünftige Gedanken zu fassen. Er war fort und das schon eine lange Zeit. Seine Freunde hatten sicherlich bereits nach ihm gesucht. Sie hatte keinen Anhaltspunkt, nicht mal eine vage Vermutung wo er sein könnte. Es gab einfach zu viele Möglichkeiten. Es musste jedenfalls einen Grund geben, warum er fort war, denn er würde seine Freunde nicht einfach so zurücklassen. Auch sie war weg gewesen. Ob ihre Nachrichten ihn erreicht hatten? Es war zu bezweifeln. Es dauerte nicht lange, ehe sie zu dem Ergebnis kam, dass ihr nichts übrig blieb als auf ihn zu warten.
Er würde zurückkommen - ganz bestimmt. Cahira hatte ihr versichert, dass ein zäher Kerl sei und schon zurechtkommen werde. Anouk war dankbar für ihre Worte. Sie hatte sonst niemanden, weder Familie noch Freunde. Und wenn Kordian ihr, Kyron und Cois vertraute, dann konnte sie das auch. Sie fühlte sich wohl in Cahiras Gegenwart. Dieses Gefühl war neu für sie. Es war anders als das, was sie für Kordian empfand und doch schien es ihr ähnlich zu sein.

Anouk hatte sich verändert. Die letzten anderthalb Jahre hatte sie an Reife dazugewonnen, war erwachsener geworden. Sie hatte auch an Gewicht zugelegt und wirkte nun nicht mehr so dürr und zerbrechlich wie zuvor. Und sie hatte sich neue Ziele gesetzt. Sie würde nicht tatenlos herumsitzen und Kordians Abwesenheit betrauern. Er sollte eine starke und stolze Gefährtin an seiner Seite wissen - eine, die ihm gerecht wird. Wenn seine Abwesenheit eine Prüfung der Götter sein sollte, würde sie diese bestehen.

Sie hatte diesen Plan schon viel früher gefasst und war entschlossen, ihn bis zum Ende zu verfolgen.
Tag der Sonne, 12. Hornung des Jahres 1404
Wiedersehen

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Es war bereits dunkel in den Gassen Rabensteins, als Anouk auf Cahira und anschließend auch Kyron traf. Was zunächst als zufällige Begegnung auf dem Platz vor dem Bankhaus erschien, entpuppte sich schnell als schicksalhafte Fügung.

Gerehan beschützt, erklangen die Worte in tiefer, bekannter Stimme.

Cahira erstarrte und ließ vor Schreck ihr Büchlein in den Matsch fallen. Anouk sah den Mann überrascht und mit großen Augen an, unfähig sich zu rühren. Kyron hingegen hielt sich abseits, den Grüßenden bewusst ignorierend.

Kordian?, fragte Anouk und machte zögerlich zwei Schritte nach vorn, nachdem sich ihre Starre gelöst hatte. Sie stand nun direkt vor ihm und sah zu ihm hinauf.

Hey Bärentöterin, war seine nonchalante, unfeierliche Begrüßung. Anouks Mundwinkel machten sich auf den Weg ihr Gesicht zu erklimmen, bis aus dem vor Überraschung offen stehendem Mund ein vor Freude strahlendes Lächeln wurde.

Gerüchte über meinen Tod sind wie so oft stark übertrieben, sagte er und ließ sein Reisegepäck von den Schultern gleiten. Es landete scheppernd im Dreck. Dann breitete er seine Arme aus. Die Bärentöterin drückte sich an fest an seine Brust. Tränen der Freude quollen ihr aus den ungleichen Augen und kullerten ihr über die Wangen. Er legte seinen Arm um ihren Körper und neigte den Kopf zu ihrem herab.

Also sind wir doch beide wohlauf ..., flüsterte er ihr zu.

Ich habe dich vermisst, erwiderte sie mit gedämpfter Stimme.

Das wundert mich nicht. Das war ja der Grund warum ich überhaupt aufgebrochen bin.

Du hast mich gesucht?

Wir müssen uns wohl verpasst haben. Was denkst du, was ich sonst machen würde - nach Monaten des Wartens? Anouk drückte sich noch fester an den Heimkehrer, ganz so als wolle sie ihn gar nicht mehr wieder loslassen.

Ich rieche wahrscheinlich wie ein toter Igel auf der Reichsstrasse im Hochsommer. Die Bärentöterin gluckste vor Freude leise auf.

Deine Sprüche habe ich auch vermisst ...

Bis auf meinen raubeinigen Charme sind die auch das Beste an mir, sagte er mit einem Grinsen auf den Lippen und erwiderte die Umarmung vorsichtig. Anouk versuchte sich mit einer Hand die Tränen wegzuwischen, als Kordian ihr unerwartet einen Kuss auf die Stirn drückte.

Ich sollte mir die verdiente Standpauke mal abholen, raunte er mit einem Nicken gen der anderen, die sich inzwischen etwas zurückgezogen hatten.

Mit diesen Worten begann ein langer, geselliger Abend mit Höhen und Tiefen, an dessen Ende Anouk erschöpft, aber glücklich mit dem Kopf auf der Brust ihres Gefährten lag und den Göttern dafür dankte, dass sie die beiden wieder zusammengebracht hatte - nach all der Zeit. Es war die erste Nacht nach anderthalb Jahren, in der sie wieder friedlich und sorglos schlafen konnte - denn Kordian war wieder an ihrer Seite.
Mondtag, 20. Hornung des Jahres 1404
Der Weg zum Rabenkreis - Die Nacht am Schrein

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Anouk hatte die Ratsmittlerin und Vatin Gwendolyn getroffen und war ihrem vorläufigen Ziel, dem Beitritt des Rabenkreises, somit ein Stück näher gekommen. Doch sie sollte zunächst drei Aufgaben lösen. Das war die Bedingung für ihre vorläufige Aufnahme als Schülerin.

Die erste Aufgabe lautete, die Druiden des Rabenkreises besser kennenzulernen, was in Anbetracht der Tatsache, dass sie unter jenen ihren Meister oder ihre Meisterin finden sollte, sehr vernünftig war.

Die zweite Aufgabe lautete, eine Nacht an einem Schrein zu verbringen und den Göttern zu lauschen. Anouk beschloss, dass es einer der abgelegenen Schreine werden sollte - ein Schrein, wo sie den Göttern der Wildnis besonders nah sein könnte. Epona, Artio und Branwen; jene Götter hatten Anouk stets begleitet.

Die dritte Aufgabe lautete, sich einen Schwur zu überlegen, den sie gegenüber dem Rabenkreis leisten würde. Diese Aufgabe würde sie ganz zum Schluss zum erledigen, denn bevor sie überhaupt schwören konnte, musste sie mehr über den Kodex erfahren; so hatte es auch Morkander vorgeschlagen.

Anouk fasste den Entschluss sich am Abend des Mondtages - es war bereits kurz vor Mitternacht - auf den Weg zum Schrein zu machen, um ihre erste Aufgabe zu erledigen. Der Schrein lag im Wald oberhalb des Rabenfeldes, ganz oben an der Küste und war nicht einfach zu erreichen. Thalwölfe waren im diese Zeit in den Wäldern unterwegs und in der Dunkelheit konnte man sich leicht verirren. Aber die Bärentöterin kannte dieses Waldstück bereits und zog mit einer Fackel in der Hand los. Die Wölfe scheuten das Feuer und wenn sie Glück hatte, würde sie gegen Mitternacht am Schrein sein.

Das Glück war ihr gewogen und nach einem anstrengenden Fußmarsch erreichte sie ohne Zwischenfälle die höchste Erhebung an der schroffen Küste. Dort angekommen machte sie sich sogleich an die Arbeit, um zunächst ein einfaches Lagerfeuer zu entfachen. Der Schnee war zwar bereits abgetaut, aber dennoch war es immer noch kalt; besonders hier, wo Taranis seinen kühlen Wind vom offenen Meer hin zur Küste bließ. Das Feuer würde etwa eine Stunde brennen, ehe sie erneut losziehen musste, um weiteres Holz zu sammeln.

Anouk kauerte sich an die Felswand, die den Schrein bildete und das Lagerfeuer in einem Halbkreis umschloss. Runenzeichen waren in den Stein geritzt; alte Symbole der Götter. Manche Zeichen konnte man kaum noch erkennen, so verwittert waren sie, dem Zahn der Zeit gnadenlos ausgesetzt. Sie schätzte, dass dieser Schrein mindestens 1500 Jahre alt sein musste; vielleicht sogar älter.

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Sie war es gewohnt Tag und Nacht in der Wildnis zu verbringen, auch wenn sie die Vorzüge eines Hauses inzwischen durchaus zu schätzen wusste. Es gab Nächte, da konnte sie in den Zelten aus Steinen, wie sie die Juren nannten, keine Ruhe finden - sie ertrug die Stille nicht. Es waren solche Nächte, in denen die Bärentöterin sich von der Schulter ihres Gefährten löste, um leise und heimlich davonzuschleichen; sich nach der Umarmung des Waldes sehnend. Der Wald schlief nicht und nie war man dort allein. Das beste Bett war immer noch aus Moos gemacht; die beste Decke aus Fellen. Sie war in der Lage sich mit wenig Aufwand einen Unterschlupf zu bauen, der sie vor Wind und Regen schützte und es ihr ermöglichte zu jeder Zeit an jedem Ort zu übernachten.

Anouk hatte jedoch nie eine Nacht an einem Ort wie diesem hier verbracht. Dieser Ort war eine heilige Stätte und in ihr lag der Zauber vergangener Zeiten; die Kraft der Götter, die man über Jahrhunderte hinweg an dieser Stelle herbeigerufen hatte. Der Boden war getränkt von dem Blut unzähliger Tieropfer - ja, vielleicht sogar Menschenopfer. Ein Schauer ließ ihren Leib erzittern, als sie daran dachte - nicht vor Ekel, sondern Ehrfurcht. Sie könnte das Knistern in der Luft spüren; die angestaute Energie, die vor ihren Augen flimmerte. Sie konnte den dumpfen, pochenden Herzschlag hören, der tief unter ihr die Erde zum beben brachte und diesen Ort belebte. Doch immer, wenn sie versuchte diese Eindrücke zu fassen, sie mit ihrem Verstand zu begreifen; verschwanden sie wie Schatten, die man nur aus dem Augenwinkel sehen konnte.

Je mehr sie sich anstrengte, desto müder wurde sie; bis sie sich in einem Zustand befand, in dem sie weder wach war, noch schlief. Das Feuer war längst erloschen, doch sie war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Anouk fühlte sich wie eine leere Hülle; ein leeres Gefäß, das gefüllt werden musste. Die Kraft des Schreines erfüllte sie und rauschte unablässig durch sie hindurch, nur um sie leer und unbefriedigt zurückzulassen. Und doch, sie hatte eine Erkenntnis gewonnen, die ganz langsam in alle Ecken und Winkel ihres Verstandes kroch und sie allmählich wieder zu Bewusstsein kommen ließ, als Sulis' erste Strahlen ihr Gesicht erhellten. Die Erkenntnis, dass sie nichts wusste. Diese Erkenntnis pflanzte ihr zugleich den Wunsch in ihr Herz, dieses leere Gefäß zu füllen; es zu einem Werkzeug der Götter zu machen.

Alles, was sie dazu brauchte, war jemand, der ihr den Weg dahin zeigen würde.
Mondtag, 27. Hornung des Jahres 1404
Der Weg zum Rabenkreis - Der schwarze Eber

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Anouk brach am frühen Abend des Mondtages auf, um Morkanders Aufgabe zu erfüllen. Einen schwarzen Eber sollte sie jagen, das gefährlichste aller Waldtiere. Die schwarze Haut sollte sie abziehen und so mit Duft- und Farbstoffen behandeln, dass es ein prachtvolles Geschenk für die Götter sein würde. Ihr Weg führte sie über den Gebirgspass, der Ravinsthal vom Flüsterwald trennte. Sie trug ihre abgetragene Riemenrüstung - die leichteste Variante einer Lederrüstung, die die Schneider Amhrans zu bieten hatten - und auf dem Rücken ihren Langbogen aus Lindenholz, den Ley Animar einst in liebevoller Handarbeit mit galatischen Ornamenten versah. So ausgerüstet überquerte die Jägerin den Gebirgspass, bis sie die Ausläufer des Flüsterwalds erreichte, wo sie aus dem Sattel stieg und ihr Pferd zurückließ.

Sie war bereits Tage zuvor in diesem Waldstück gewesen und hatte vergebens nach dem schwarzen Eber Ausschau gehalten. Wildschweine waren scheue, nachtaktive Tiere. Es dämmerte schon und bald würden Sulis Strahlen nicht mehr die Erde erreichen. Die Jägerin wollte das restliche Tageslicht noch ausnutzen, bevor sie sich in der Dunkelheit der Nacht bewegte, was die Jagd ungleich schwieriger gestaltete.

Die Jägerin war geübt in dem, was sie tat und hatte sich damit längst den Namen "Bärentöterin" verdient. Dieses Mal jedoch war ihre Anspannung deutlich spürbar; in jeder Faser ihres Körpers. Sie wusste, das dies keine gewöhnliche Jagd sein würde, sondern eine Prüfung der Götter. Anouk bewegte sich leise durch das Unterholz, bedächtig einen Schritt vor den anderen setzend. Den Langbogen trug sie dabei in ihren Händen, bereit ihn jederzeit zu spannen.

Es dauerte nicht lange, ehe sie im Augenwinkel eine Bewegung ausmachen konnte. Da stand er in all seiner Pracht, der schwarze Eber, der Kriegergeist Gwynns. Es war ein stattliches Tier von enormer Größe; so eindrucksvoll, dass Anouk nichts anderes als Respekt für dieses Tier empfinden konnte.

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Doch sie hatte nicht die Zeit, um sich an der Schönheit des Tieres zu ergötzen. Sie war wegen seiner schwarzen Haut hier. Die Jägerin brachte sich in Position, zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn an die Sehne. Der erste Schuss musste treffen, denn für einen zweiten Schuss würde sie keine Zeit mehr haben. Der sogenannte Blattschuss sollte das Tier hinter dem Schulterblatt in den Brustkorb treffen, um dort Herz, Lunge oder größere Blutgefäße zu perforieren. Durch den sofortigen Abfall des Blutdrucks oder das Kollabieren der Lunge würde das Tier noch 10, vielleicht 20 Sekunden überleben, ehe es zusammenbricht. Diese wenigen Sekunden nutzte das Tier für Flucht oder Angriff.

Anouk atmete tief ein und wieder aus; versuchte sich selbst zur Ruhe zu bringen. Der schwarze Eber wühlte friedlich mit seiner Schnauze in der feuchten Erde. Die Jägerin hatte freies Schussfeld. Sie spannte die Sehne mit zittrigen Fingern.

Der Eber hob den Kopf an und blickte in ihre Richtung. Für einen Bruchteil von Sekunden sah sie in seine schwarz-glänzenden Augen; sah die Wildheit und Kampfeslust Gwynns darin aufglimmen. Dann flog der Pfeil mit einem Surren durch die Luft und fand sein Ziel.

Der schwarze Eber stieß einen markerschütternden Schrei aus und preschte dann geradewegs auf sie zu. Angriff. Die Jägerin spannte ihre Muskeln an und sprang mit einem Satz aus der Laufbahn; keine Sekunde zu spät. Bei der Landung fanden ihre Füße jedoch nicht den erhofften Halt und sie stürzte, musste sich abrollen und wieder aufrichten. Der schwarze Eber jedoch lief weiter, schwankte desorientiert und machte sich bereit einen erneuten Angriff zu starten, indem er wendete und wieder auf Anouk zurannte. Die Jägerin hatte ihren Bogen fallen lassen und zog den Hirschfänger vom Gürtel. Sie war bereit ein weiteres Mal auszuweichen oder - was weitaus gefährlicher war - in den Nahkampf mit der Bestie zu gehen, wenn es sein musste.

Doch der schwarze Eber brach zusammen, ehe er die Jägerin erreichte. Der Hirschfänger glitt ihr aus den zittrigen Fingern und sie ließ sich vor dem toten Tier auf die Knie fallen. Ein leises Stoßgebet entwich ihren Lippen und sie dankte den Göttern, die sie dieses Mal unversehrt ließen. Nachdem sie durchgeatmet hatte, machte sie sich daran das Tier sorgfältig auszuweiden. Mit geschickten Handgriffen trennte sie die Haut vom Fleisch; dann das Fleisch von den Knochen; dann Knochen und Sehnen voneinander und zuletzt schnitt sie die Innereien heraus. Die schwarze Haut wurde sorgfältig zusammengerollt; die blutigen Finger wischte Anouk an ihrer Kleidung ab.

Als sie spät am Abend zurück in Ravinsthal war, machte sie sich sogleich daran die Haut zu präparieren. Anouk hatte beschlossen, für die Färbung Nerzöl zu verwenden, das aus dem Fett von Nerzen und Madern gewonnen wurde. Das Nerzöl dunkelte die schwarze Haut noch ein wenig mehr ab und verlieh ihr einen samtigen Glanz. Für den Duft sollte Lavendel sorgen, mit dem sie die Haut nach dem Einfetten behutsam einrieb.

Anouk betrachtete das fertige Werk und war zufrieden. Die schwarze Haut des Ebers war zu einem Geschenk geworden, das die Götter mit Freude annehmen würden.

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Tag des Donners, 02. Hornung des Jahres 1404
Der Weg zum Rabenkreis - Der Pakt mit Vishaya

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Anouk war nervös, als sie am Abend des Donners den Rabenhügel betrat. Sie hatte am Abend zuvor Vishaya getroffen und ihren Mut zusammengenommen sie zu fragen, ob sie Anouk als Schülerin annehmen würde. Die durchdringenden Augen der Jurin hatten sie streng gemustert und schließlich eingewilligt. Anouk war überrascht, hatte sie doch damit gerechnet, dass sie sich einer weiteren Prüfung hätte unterziehen müssen, um sich zu beweisen. Doch Vishaya hatte ihr Urteil bereits gefällt. Sie war bereit, schon am nächsten Abend den Pakt mit Anouk einzugehen.

Es war eine tiefschwarze Nacht und die dunklen Wolken gaben kaum die Sicht auf den sichelförmigen Mond frei. Nur dann und wann brach die Wolkenschicht auf und ließ Galates silbriges Licht den Ritualkreis berühren. Nur wenige Augenblick nach Anouks Ankunft erschien auch Vishaya in der schwarzgefiederten Robe des Rabenkreises.

Dort, auf den runenverzierten Steinen des Ritualkreises, legte Anouk ihren Schwur ab. Als sie die Worte an die Götter richtete, brach der Himmel auf und gab den Sichelmond gänzlich frei; ganz so als hätte der Hüter der Geheimnisse sich ihr zugewandt, um ihr den Schwur abzunehmen und ihn für alle Zeiten zu verwahren.

Ich schwöre, ...
dass ich meine Kraft dem Wohle der Mondwächter widme
Schaden von den Gläubigen abwende
den Glauben an die 21 mehre
den Kodex des Rabenkreises wahre und verteidige
meine Pflichten gegenüber meiner Meisterin gewissenhaft erfülle
mich dem Willen der Götter beuge und mein Leben wissentlich in ihre Hände gebe, ...
auf dass sie mich zu einem Werkzeug ihrer Göttlichkeit machen mögen.

Ich schwöre meine unabdingbare Treue - gegenüber den Göttern, dem Rabenkreis und meiner Meisterin.


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Und so schwor Anouk vor den Augen der Götter und vor ihrer Stimme
dem Pantheon zu folgen, gleich welche Aufgabe, gleich welcher Weg ihr aufgezeigt wird
die Herrlichkeit und das Wirken des alten Weges zu erkennen und zu verfolgen
um den Glauben zu stärken, zu mehren und zu verteidigen
bis ans Ende ihrer Tage.

Und so wie die Götter mit allem verwoben sind, das war und ist
so sind auch unsere Schicksale nun verbunden
denn du bist jetzt ein Teil von mir
so wie ich nun ein Teil von dir bin.


Mit diesen Worten nahm Vishaya den gebogenen Ritualdolch in die Hand und schnitt erst eine Strähne von sich selbst, dann von Anouk ab, um diese geschickt und ohne große Eile in ineinander zu verflechten. Der Blick der Jurin hatte sich verändert; in ihren Augen loderte das Feuer hell und fanatisch, so dass Anouks Herz einen Satz machte, als sie Vishayas Blick einfing.

Und mit Blut bezeuge ich diesen Schwur und werde von ihr nur das erwarten
was ich auch selbst zu tun bereit wäre
nur das fordern, was im Sinne der Götter sei.


Die Jurin zog den Ritualdolch ohne Zögern über ihre eigene Handfläche. Ihr eigenes Blut sollte den geflochtenen Zopf durchwirken und den Schwur bezeugen. Als der Schwur geleistet und der Pakt besiegelt war, machte sich eine angenehme Ruhe und Schwere in Anouks Brust breit. Sie schlüpfte in die ihr dargebotene schwarze Robe und strich das Rabengefieder in einer ehrfürchtigen Geste glatt.

Mit dem heutigen Tag bist du Schülerin des Rabenkreises.
Quelltag, 29. Heuert des Jahres 1404
Rabenflug

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Anouk verbrachte die Tage damit auf dem höchsten Punkt des Rabenhügels zu verharren und stumm in den Himmel zu starren, wo die schwarzen Vögel kreisten. Es wäre vermutlich ein seltsamer Anblick gewesen, doch hier oben gab es keine Besucher und keine neugierigen Blicke musterten sie bei der Erfüllung ihrer Aufgabe. Die schwarzhaarige Galatiern saß also ungestört Stunde um Stunde auf ihrem Ausguck, den sie morgens bestieg und bei Sonnenuntergang wieder verließ. Sie brachte stets einen Beutel gefüllt mit Proviant mit sich, sowie ein Jutekissen, auf das sie sich setzen konnte und eine leichte Wolldecke, die sie gegen den kühlen Wind schützen würde. An manchen Tagen zündete sie Kerzen an, die sie um sich herum aufstellte. An anderen Tagen verbrannte sie Räucherwerk. Je mehr Tage ins Land zogen, desto ausgefallener wurden ihre Rituale und energischer ihre Worte, die sie an die Götter richtete - bis sie eines Tages die Geduld verließ und sie ihrem Zorn Luft machte.

Warum schickt ihr mir kein Zeichen? Bin ich etwa unwürdig?, schrie sie laut in den Himmel und ballte ihre Hände zu Fäusten. Der Vorhang im Nebenhaus der großen Halle wurde beiseite geschoben und Giselles Gesicht erschien hinter der Fensterscheibe. Sie schüttelte nach wenigen Augenblicken den Kopf und zog den Vorhang wieder zu.

Gwendolyn hatte ihr aufgetragen, den Flug der Raben drei Tage lang zu beobachten - inzwischen waren daraus sechs Tage geworden. Anouk hatte die Raben von morgens bis abends observiert, ihre Flugbahn studiert und irgendwann sogar begonnen ihnen Namen zu geben, auch wenn sie die einzelnen Vögel gar nicht voneinander unterscheiden konnte. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihren Flug nicht deuten. Also begann sie, die Götter um ein Zeichen zu bitten - doch die erhoffte Antwort blieb aus.

Die Rabenschülerin trat voller Wut gegen die Schale mit den Opfergaben, die in hohem Bogen vom Ausguck flog und dessen Inhalt irgendwo auf den Felsen unterhalb landete. Dieser Affront gegen die Götter wurde mit plötzlich einsetzendem Platzregen quittiert. Anouk griff nach der Wolldecke und warf sie um sich, um sich anschließend mit grimmiger Miene auf den Boden zu kauern und die Knie an den Körper heranzuziehen. Stur wie sie war, blieb sie trotz des Wolkenbruchs auf ihrem Ausguck sitzen. Regentropfen rannen über ihr Gesicht hinab und tropften von ihrer Nasenspitze zu Boden. So plötzlich wie der Regen gekommen war, hörte er auch wieder auf und die Sonne brach durch die dunklen Wolken hindurch. Anouk schloss die Augen und legte den Kopf mit einem Seufzen in den Nacken.

Erinnerungen an ihre Ziehmutter Myrna tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Die Druidin hatte schneeweißes, langes, geflochtenes Haar und warme, braune Augen. Das Leben hatte ihr Gesicht mit unzähligen kleinen Falten gezeichnet. Es war ein Gesicht, das Strenge ausdrücken konnte, aber auch Trost und Wärme spendete - das Gesicht einer liebenden Mutter. Denn obwohl Anouk nicht ihr leibliches Kind war, so ließ Myrna nie einen Zweifel daran, dass sie Anouk liebte, als wäre sie ihr eigenes Fleisch und Blut und auch Anouk nannte sie stets nur "Máthair", was übersetzt "Mutter" bedeutete.

Unter der Obhut der Druidin wurde aus dem Findelkind eine junge Frau. Myrna brachte ihr das Wissen über die Götter näher, lehrte ihr die alten galatischen Bräuche, die Grundlagen der Kräuterkunde und traditionellen Heilkunst. Sie erklärte ihr die Bedeutung der einzelnen Runenzeichen und wie man die Runen warf. Doch wann immer Anouk sie auf das "dritte Auge" ansprach oder die Gabe, die Myrna besaß, erwiderte die alte Frau nur, dass die Zeit noch nicht gekommen wäre, sie in diese Geheimnisse einzuweihen. Die Jahre vergingen und immer wieder erhielt Anouk dieselbe Antwort.

Anouk spürte, dass tief in ihr etwas schlummerte, das irgendwann erwachen würde. Vielleicht war der Versuch, es aufzuwecken und gewaltsam an die Oberfläche zu ziehen, falsch. Vielleicht war die Zeit noch nicht gekommen.

Die Rabenschülerin war so tief in ihren Gedanken versunken, dass sie zunächst nicht bemerkte, wie einer der Raben auf dem hölzernen Geländer des Ausgucks landete. Erst als er ein Krächzen von sich gab, öffnete Anouk die Augen und sah zu ihm herüber. Die beiden Lebewesen starrten sich einen Moment lang an. Dann hackte der Rabe mit dem Schnabel nach etwas, das auf dem Geländer direkt neben ihm lag. Ein kleiner Bausch Wolle? Der schwarze Bote breitete seine Flügel aus und stieß sich vom Geländer ab, die Wolle zurücklassend. Anouk war mit einem Satz auf den Beinen, um dem Raben hinterherzusehen, der in in Richtung Südwesten verschwand. Dann streckte sie ihre zitternden Finger nach der Wolle aus und schloss die Faust darum, den Blick nicht vom Horizont abwendend.

Es vergingen einige Herzschläge, ehe ihre Lippen leise Worte formten:
Ravinsthal wird in Zeiten des Unheils ein starker Verbündeter zur Seite stehen.

Sie schien fast erschrocken über diese Erkenntnis zu sein, so hastig wie sie den Ausguck verließ. Nur die durchnässte Wolldecke und das Jutekissen blieben zurück, als die Rabenschülerin gen Dorf eilte.

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Tag der Sonne, 17. Scheiding des Jahres 1404
Ein Räblein wird flügge

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Es war soweit. Anouks Hartnäckigkeit und Geduld hatten sich ausgezahlt. Sie war stur gewesen und verfolgte ihren Weg - den Weg, den die Götter ihr gewiesen hatten - ungeachtet der Widrigkeiten, die er mit sich brachte. Die Rabenschülerin war beileibe nicht immer einfach gewesen, denn auch ein scheues Tier konnte Zähne zeigen - oder Augen aushacken. Doch es verlor niemand sein Augenlicht und ihr neuerlich entdecktes Temperament, das sicherlich ihrem Schicksalsgott Taranis zu verdanken war, schien besänftigt noch bevor der Sturm losbrach.

Als Anouk dem Rabenkreis beitrat, hatte ihre Angst sie fest im Griff. Der Weg war ungewiss und die Aufgaben, die sie erwarteten, waren eine große Herausforderung für sie. Es war nicht zuletzt die Strenge ihrer Meisterin und die Tatsache, dass sie auf sich allein gestellt war, die sie rasch zur Eigenständigkeit zwangen. Mit jedem Schritt, den sie tat, fühlte sie den Mut in ihrem Herzen anschwillen, bis für die Angst keinen Platz mehr war. Diese Veränderung blieb auch den Druiden nicht verborgen.

So sollte sie sich der letzten Aufgabe stellen und sich vor den Druiden beweisen, die ihr Urteil über sie fällen würden. Es waren die Worte ihrer eigenen Meisterin, die sie straften und doch empfand Anouk Dankbarkeit für diese letzte Lehre, die ihr zuteil wurde, ehe man sie unter Galates' wachendem Blick zur Druidin erhob.

Wie es in der Juretai Brauch war, sollte es ihre erste Aufgabe als Druidin sein aus dem Blut eines Tieres zu lesen. Anouk zögerte nicht - nicht dieses Mal - und stieß den Ritualdolch beherzt in den gefesselten Raubvogel. Es war die Jägerin, die die Klinge geschickt durch das Tier führte und es längs aufschnitt. Das Herz schlug schnell und heftig in ihrer Brust, als sie sich an die Götter wandte und sie um ein Zeichen bat. Mit ihrer Ernennung zur Druidin wurde ihr Titel als Vatin anerkannt und es lastete ein nicht zu unterschätzender Erwartungsdruck auf ihren Schultern. Das dritte Auge, wie man das hellseherische Talent der Vaten nannte, hatte sie schon früh bei sich entdecken können und doch erschien es ihr eine Laune der Götter zu sein, ob sie ihr einen Blick in auf das gewährten, was anderen verborgen war. Es war keine leichte Aufgabe, die Zeichen zu erkennen und noch schwieriger, sie richtig zu deuten.

Ihre Fingerspitzen zogen bekannte Muster durch die Blutlache und es geschah ... nichts. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, während die Stille immer erdrückender und die Dunkelheit um sie herum immer bedrohlicher wurde. Trotz der kühlen Nachtluft wurde ihr warm unter der Rabenrobe und sie spürte, wie ihr Herz das Blut durch ihre Adern pumpte und ihr eine gesunde Röte in die Wangen und in die Ohren trieb. Es begann mit einem leichten Kribbeln in ihrem Gesicht und endete mit einem lauten Fiepen und einem Gefühl von Taubheit in den Ohren. Sie konnte sich nicht daran erinnern, was dazwischen geschah, aber sie wusste, was geschehen wird. Die Frage ihrer Meisterin riss sie zurück in die Realität, auch wenn es einen Moment dauerte, bis sie wieder völlig da war.

Der Abschluss ihrer Weihe hinterließ einen fahlen Nachgeschmack. Die Erleichterung, die Anouk verspürte, war im Angesicht ihrer Vorhersage rasch wieder verschwunden. Das einzige, was ihr blieb, war der Stolz, dass sie es geschafft hatte. Aber sie wusste auch, dass ihr Weg noch lange kein Ende finden würde. Es gab noch so viel, was die junge Druidin zu lernen hatte. Der Titel war kein Geschenk, er war eine Bürde. Eine Bürde, die sie bereit war zu tragen - bis Morrigu sie eines Tages holte.

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