Anouk: Geschichten
#4
Mondtag, 27. Hornung des Jahres 1404
Der Weg zum Rabenkreis - Der schwarze Eber

[Bild: Trennlinie-01.png]

Anouk brach am frühen Abend des Mondtages auf, um Morkanders Aufgabe zu erfüllen. Einen schwarzen Eber sollte sie jagen, das gefährlichste aller Waldtiere. Die schwarze Haut sollte sie abziehen und so mit Duft- und Farbstoffen behandeln, dass es ein prachtvolles Geschenk für die Götter sein würde. Ihr Weg führte sie über den Gebirgspass, der Ravinsthal vom Flüsterwald trennte. Sie trug ihre abgetragene Riemenrüstung - die leichteste Variante einer Lederrüstung, die die Schneider Amhrans zu bieten hatten - und auf dem Rücken ihren Langbogen aus Lindenholz, den Ley Animar einst in liebevoller Handarbeit mit galatischen Ornamenten versah. So ausgerüstet überquerte die Jägerin den Gebirgspass, bis sie die Ausläufer des Flüsterwalds erreichte, wo sie aus dem Sattel stieg und ihr Pferd zurückließ.

Sie war bereits Tage zuvor in diesem Waldstück gewesen und hatte vergebens nach dem schwarzen Eber Ausschau gehalten. Wildschweine waren scheue, nachtaktive Tiere. Es dämmerte schon und bald würden Sulis Strahlen nicht mehr die Erde erreichen. Die Jägerin wollte das restliche Tageslicht noch ausnutzen, bevor sie sich in der Dunkelheit der Nacht bewegte, was die Jagd ungleich schwieriger gestaltete.

Die Jägerin war geübt in dem, was sie tat und hatte sich damit längst den Namen "Bärentöterin" verdient. Dieses Mal jedoch war ihre Anspannung deutlich spürbar; in jeder Faser ihres Körpers. Sie wusste, das dies keine gewöhnliche Jagd sein würde, sondern eine Prüfung der Götter. Anouk bewegte sich leise durch das Unterholz, bedächtig einen Schritt vor den anderen setzend. Den Langbogen trug sie dabei in ihren Händen, bereit ihn jederzeit zu spannen.

Es dauerte nicht lange, ehe sie im Augenwinkel eine Bewegung ausmachen konnte. Da stand er in all seiner Pracht, der schwarze Eber, der Kriegergeist Gwynns. Es war ein stattliches Tier von enormer Größe; so eindrucksvoll, dass Anouk nichts anderes als Respekt für dieses Tier empfinden konnte.

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Doch sie hatte nicht die Zeit, um sich an der Schönheit des Tieres zu ergötzen. Sie war wegen seiner schwarzen Haut hier. Die Jägerin brachte sich in Position, zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn an die Sehne. Der erste Schuss musste treffen, denn für einen zweiten Schuss würde sie keine Zeit mehr haben. Der sogenannte Blattschuss sollte das Tier hinter dem Schulterblatt in den Brustkorb treffen, um dort Herz, Lunge oder größere Blutgefäße zu perforieren. Durch den sofortigen Abfall des Blutdrucks oder das Kollabieren der Lunge würde das Tier noch 10, vielleicht 20 Sekunden überleben, ehe es zusammenbricht. Diese wenigen Sekunden nutzte das Tier für Flucht oder Angriff.

Anouk atmete tief ein und wieder aus; versuchte sich selbst zur Ruhe zu bringen. Der schwarze Eber wühlte friedlich mit seiner Schnauze in der feuchten Erde. Die Jägerin hatte freies Schussfeld. Sie spannte die Sehne mit zittrigen Fingern.

Der Eber hob den Kopf an und blickte in ihre Richtung. Für einen Bruchteil von Sekunden sah sie in seine schwarz-glänzenden Augen; sah die Wildheit und Kampfeslust Gwynns darin aufglimmen. Dann flog der Pfeil mit einem Surren durch die Luft und fand sein Ziel.

Der schwarze Eber stieß einen markerschütternden Schrei aus und preschte dann geradewegs auf sie zu. Angriff. Die Jägerin spannte ihre Muskeln an und sprang mit einem Satz aus der Laufbahn; keine Sekunde zu spät. Bei der Landung fanden ihre Füße jedoch nicht den erhofften Halt und sie stürzte, musste sich abrollen und wieder aufrichten. Der schwarze Eber jedoch lief weiter, schwankte desorientiert und machte sich bereit einen erneuten Angriff zu starten, indem er wendete und wieder auf Anouk zurannte. Die Jägerin hatte ihren Bogen fallen lassen und zog den Hirschfänger vom Gürtel. Sie war bereit ein weiteres Mal auszuweichen oder - was weitaus gefährlicher war - in den Nahkampf mit der Bestie zu gehen, wenn es sein musste.

Doch der schwarze Eber brach zusammen, ehe er die Jägerin erreichte. Der Hirschfänger glitt ihr aus den zittrigen Fingern und sie ließ sich vor dem toten Tier auf die Knie fallen. Ein leises Stoßgebet entwich ihren Lippen und sie dankte den Göttern, die sie dieses Mal unversehrt ließen. Nachdem sie durchgeatmet hatte, machte sie sich daran das Tier sorgfältig auszuweiden. Mit geschickten Handgriffen trennte sie die Haut vom Fleisch; dann das Fleisch von den Knochen; dann Knochen und Sehnen voneinander und zuletzt schnitt sie die Innereien heraus. Die schwarze Haut wurde sorgfältig zusammengerollt; die blutigen Finger wischte Anouk an ihrer Kleidung ab.

Als sie spät am Abend zurück in Ravinsthal war, machte sie sich sogleich daran die Haut zu präparieren. Anouk hatte beschlossen, für die Färbung Nerzöl zu verwenden, das aus dem Fett von Nerzen und Madern gewonnen wurde. Das Nerzöl dunkelte die schwarze Haut noch ein wenig mehr ab und verlieh ihr einen samtigen Glanz. Für den Duft sollte Lavendel sorgen, mit dem sie die Haut nach dem Einfetten behutsam einrieb.

Anouk betrachtete das fertige Werk und war zufrieden. Die schwarze Haut des Ebers war zu einem Geschenk geworden, das die Götter mit Freude annehmen würden.

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