Anouk: Geschichten
#3
Mondtag, 20. Hornung des Jahres 1404
Der Weg zum Rabenkreis - Die Nacht am Schrein

[Bild: Trennlinie-01.png]

Anouk hatte die Ratsmittlerin und Vatin Gwendolyn getroffen und war ihrem vorläufigen Ziel, dem Beitritt des Rabenkreises, somit ein Stück näher gekommen. Doch sie sollte zunächst drei Aufgaben lösen. Das war die Bedingung für ihre vorläufige Aufnahme als Schülerin.

Die erste Aufgabe lautete, die Druiden des Rabenkreises besser kennenzulernen, was in Anbetracht der Tatsache, dass sie unter jenen ihren Meister oder ihre Meisterin finden sollte, sehr vernünftig war.

Die zweite Aufgabe lautete, eine Nacht an einem Schrein zu verbringen und den Göttern zu lauschen. Anouk beschloss, dass es einer der abgelegenen Schreine werden sollte - ein Schrein, wo sie den Göttern der Wildnis besonders nah sein könnte. Epona, Artio und Branwen; jene Götter hatten Anouk stets begleitet.

Die dritte Aufgabe lautete, sich einen Schwur zu überlegen, den sie gegenüber dem Rabenkreis leisten würde. Diese Aufgabe würde sie ganz zum Schluss zum erledigen, denn bevor sie überhaupt schwören konnte, musste sie mehr über den Kodex erfahren; so hatte es auch Morkander vorgeschlagen.

Anouk fasste den Entschluss sich am Abend des Mondtages - es war bereits kurz vor Mitternacht - auf den Weg zum Schrein zu machen, um ihre erste Aufgabe zu erledigen. Der Schrein lag im Wald oberhalb des Rabenfeldes, ganz oben an der Küste und war nicht einfach zu erreichen. Thalwölfe waren im diese Zeit in den Wäldern unterwegs und in der Dunkelheit konnte man sich leicht verirren. Aber die Bärentöterin kannte dieses Waldstück bereits und zog mit einer Fackel in der Hand los. Die Wölfe scheuten das Feuer und wenn sie Glück hatte, würde sie gegen Mitternacht am Schrein sein.

Das Glück war ihr gewogen und nach einem anstrengenden Fußmarsch erreichte sie ohne Zwischenfälle die höchste Erhebung an der schroffen Küste. Dort angekommen machte sie sich sogleich an die Arbeit, um zunächst ein einfaches Lagerfeuer zu entfachen. Der Schnee war zwar bereits abgetaut, aber dennoch war es immer noch kalt; besonders hier, wo Taranis seinen kühlen Wind vom offenen Meer hin zur Küste bließ. Das Feuer würde etwa eine Stunde brennen, ehe sie erneut losziehen musste, um weiteres Holz zu sammeln.

Anouk kauerte sich an die Felswand, die den Schrein bildete und das Lagerfeuer in einem Halbkreis umschloss. Runenzeichen waren in den Stein geritzt; alte Symbole der Götter. Manche Zeichen konnte man kaum noch erkennen, so verwittert waren sie, dem Zahn der Zeit gnadenlos ausgesetzt. Sie schätzte, dass dieser Schrein mindestens 1500 Jahre alt sein musste; vielleicht sogar älter.

[Bild: Nacht-am-Schrein.png]

Sie war es gewohnt Tag und Nacht in der Wildnis zu verbringen, auch wenn sie die Vorzüge eines Hauses inzwischen durchaus zu schätzen wusste. Es gab Nächte, da konnte sie in den Zelten aus Steinen, wie sie die Juren nannten, keine Ruhe finden - sie ertrug die Stille nicht. Es waren solche Nächte, in denen die Bärentöterin sich von der Schulter ihres Gefährten löste, um leise und heimlich davonzuschleichen; sich nach der Umarmung des Waldes sehnend. Der Wald schlief nicht und nie war man dort allein. Das beste Bett war immer noch aus Moos gemacht; die beste Decke aus Fellen. Sie war in der Lage sich mit wenig Aufwand einen Unterschlupf zu bauen, der sie vor Wind und Regen schützte und es ihr ermöglichte zu jeder Zeit an jedem Ort zu übernachten.

Anouk hatte jedoch nie eine Nacht an einem Ort wie diesem hier verbracht. Dieser Ort war eine heilige Stätte und in ihr lag der Zauber vergangener Zeiten; die Kraft der Götter, die man über Jahrhunderte hinweg an dieser Stelle herbeigerufen hatte. Der Boden war getränkt von dem Blut unzähliger Tieropfer - ja, vielleicht sogar Menschenopfer. Ein Schauer ließ ihren Leib erzittern, als sie daran dachte - nicht vor Ekel, sondern Ehrfurcht. Sie könnte das Knistern in der Luft spüren; die angestaute Energie, die vor ihren Augen flimmerte. Sie konnte den dumpfen, pochenden Herzschlag hören, der tief unter ihr die Erde zum beben brachte und diesen Ort belebte. Doch immer, wenn sie versuchte diese Eindrücke zu fassen, sie mit ihrem Verstand zu begreifen; verschwanden sie wie Schatten, die man nur aus dem Augenwinkel sehen konnte.

Je mehr sie sich anstrengte, desto müder wurde sie; bis sie sich in einem Zustand befand, in dem sie weder wach war, noch schlief. Das Feuer war längst erloschen, doch sie war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Anouk fühlte sich wie eine leere Hülle; ein leeres Gefäß, das gefüllt werden musste. Die Kraft des Schreines erfüllte sie und rauschte unablässig durch sie hindurch, nur um sie leer und unbefriedigt zurückzulassen. Und doch, sie hatte eine Erkenntnis gewonnen, die ganz langsam in alle Ecken und Winkel ihres Verstandes kroch und sie allmählich wieder zu Bewusstsein kommen ließ, als Sulis' erste Strahlen ihr Gesicht erhellten. Die Erkenntnis, dass sie nichts wusste. Diese Erkenntnis pflanzte ihr zugleich den Wunsch in ihr Herz, dieses leere Gefäß zu füllen; es zu einem Werkzeug der Götter zu machen.

Alles, was sie dazu brauchte, war jemand, der ihr den Weg dahin zeigen würde.
[Bild: Anouk-Signatur.png]
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