Anouk: Geschichten
#1
Wochenmitte, 8. Hornung des Jahres 1404
Rückkehr von den Inseln

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Es war kurz nach Mitternacht, als die junge Frau mit den wilden, schwarzen Haaren und den ungleichen Augen das Hauptquartier der Klinge in den Rabenfeldern betrat. Der Boden unter ihren Füßen knarzte bei jedem Schritt, den sie tat. Sie ließ sich Zeit, hatte keine Eile. Auf den Möbeln konnte man eine dünne Staubschicht erkennen. Nur das Glimmen der Glut in der Feuerstelle war stummer Zeuge dessen, dass sie vor wenigen Stunden noch mit Cois hier gesessen und geredet hatte. Es erweckte ansonsten nicht den Anschein, als würde dieses Haus noch oft genutzt werden - es fehlte ihm an Zeichen von Leben. Anouk schürte das Feuer wieder an und rieb sich die kalten Finger.

Sie war wieder zurückgekehrt. Anouk verbrachte zwei Tage in Ravinsthal bis sie die anderen am dritten Tag gefunden hatte. Zuerst traf sie Cois an den Stufen des Rabenkreises. Sie freute sich so sehr nach all der Zeit endlich wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen. Doch Cois Freude fiel eher verhalten aus: Er war Druide geworden und sein Gebahren hatte an jeglicher Emotion verloren. Er strahlte damit eine gewisse Erhabenheit und Unnahbarkeit, aber auch Gleichgültigkeit aus. Wenn er Freude über ihr Wiedersehen empfand, dann verbarg er diese doch sehr gut. Doch was Cois an Freude fehlte, das machte Cahira wieder mit ihrer Überschwänglichkeit wett. Sie umarmte die junge Frau und drückte sie an sich, dass es Anouk vor Rührung die Tränen in die Augen trieb. Die Freude über das Wiedersehen der beiden Frauen war so groß, dass Anouk für einen Moment vergaß, welche Botschaft Cois ihr kurz zuvor überbracht hatte.

Kordian war nicht hier. Es musste einige Monate nach ihrer Abreise passiert sein, als er ohne ein Wort zu sagen verschwand und seitdem nicht wieder aufgetaucht war. Wohin war er gegangen?

Anouk war anderthalb Jahre fort gewesen. Was als eine Reise von wenigen Monaten geplant war, endete mit einer Verkettung ungünstiger Zwischenfälle, die sie länger auf Ialo'terom festhielten als sie wollte. Sie hatte den Tod ihrer Mutter betrauert, wurde um Hilfe gebeten als es hieß, eine Krankheit sei in den umliegenden Dörfern ausgebrochen, erkrankte selbst schwer und das inmitten eines hereinbrechenden Sippenkrieges. Es dauerte Monate, bis sie wieder genesen war und sich von den Strapazen erholt hatte. Der frühe Wintereinbruch verzögerte ihre Abreise, denn kein Schiff wagte sich bei dem rauen Wetter an die Insel heran. Die Klippen Ialo'teroms waren im Sommer gefährlich und im Winter tödlich. Anouk überredete einen erfahrenen, galatischen Seemann seine Reise zur Dug Eth'belsa früher anzutreten und sie mitzunehmen. Dort wartete sie weitere Wochen bis sie ein Schiff nehmen konnte, welches sie direkt nach Amhran zur Anlegestelle von Rabenstein brachte.

Die Nachricht von Kordians Abwesenheit hatte sie härter getroffen, als sie nach außen hin zeigte. Jetzt, wo alles still um sie herum und sie allein mit ihren Gedanken war, brach sie auf dem Boden zusammen und weinte hemmungslos.

Kordian - ihr Mann, ihr Geliebter, ihr Gefährte - die einzige Person, bei der sie sich sicher und geborgen fühlte. Sie hatte so lange darauf gewartet ihn endlich wiederzusehen. Es hatte sie alle Kraft gekostet geduldig zu sein, doch jetzt waren ihre Kräfte erschöpft. Anouk kroch die steinerne Treppe ins erste Geschoss hoch und schleppte ihren Körper in eines der Stockbetten. Dort vergrub sie ihr Gesicht in dem Kissen und weinte, bis die Erschöpfung sie in den Schlaf zwang.

Am nächsten Morgen war sie wieder in der Lage vernünftige Gedanken zu fassen. Er war fort und das schon eine lange Zeit. Seine Freunde hatten sicherlich bereits nach ihm gesucht. Sie hatte keinen Anhaltspunkt, nicht mal eine vage Vermutung wo er sein könnte. Es gab einfach zu viele Möglichkeiten. Es musste jedenfalls einen Grund geben, warum er fort war, denn er würde seine Freunde nicht einfach so zurücklassen. Auch sie war weg gewesen. Ob ihre Nachrichten ihn erreicht hatten? Es war zu bezweifeln. Es dauerte nicht lange, ehe sie zu dem Ergebnis kam, dass ihr nichts übrig blieb als auf ihn zu warten.
Er würde zurückkommen - ganz bestimmt. Cahira hatte ihr versichert, dass ein zäher Kerl sei und schon zurechtkommen werde. Anouk war dankbar für ihre Worte. Sie hatte sonst niemanden, weder Familie noch Freunde. Und wenn Kordian ihr, Kyron und Cois vertraute, dann konnte sie das auch. Sie fühlte sich wohl in Cahiras Gegenwart. Dieses Gefühl war neu für sie. Es war anders als das, was sie für Kordian empfand und doch schien es ihr ähnlich zu sein.

Anouk hatte sich verändert. Die letzten anderthalb Jahre hatte sie an Reife dazugewonnen, war erwachsener geworden. Sie hatte auch an Gewicht zugelegt und wirkte nun nicht mehr so dürr und zerbrechlich wie zuvor. Und sie hatte sich neue Ziele gesetzt. Sie würde nicht tatenlos herumsitzen und Kordians Abwesenheit betrauern. Er sollte eine starke und stolze Gefährtin an seiner Seite wissen - eine, die ihm gerecht wird. Wenn seine Abwesenheit eine Prüfung der Götter sein sollte, würde sie diese bestehen.

Sie hatte diesen Plan schon viel früher gefasst und war entschlossen, ihn bis zum Ende zu verfolgen.
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