Warten auf die Dämmerung
#9
Es war kein schöner Anblick. Das Schlüsselbein war zumindest nicht gebrochen, aber eine Bewegung des rechten Arms schmerzte und es hatte sich ein unansehnlicher Bluterguss am Schulter- und Halsbereich gebildet. Starr blickte sie ihrem eigenen Spiegelbild eine sehr lange Weile in die Augen.

"Wir sind dünn geworden..."
"Wir waren nie wirklich kräftig."
"Du weißt wie ich das meine."

Die bleierne Schwere hatte sich auf ihre Stirn verlagert und fühlte sich wie ein Ziehen an und ließ es verlockend erscheinen einfach den Kopf auf die Platte der Anrichte sinken zu lassen.

"Wir könnten weglaufen. Wir haben seit Candaria alles gepackt."
"Und wohin?"
"Das hat uns noch nie gestört."
"Mich schon."

Die Bilanz war gewiss nicht sehr erbaulich - sie war lädiert, ausgehungert und hatte schon wieder eine ganze Weile nicht mehr ausgeschlafen. Die Tischplatte sah wirklich sehr verlockend aus. Aber sich einfach hinzulegen war ihr nie in den Sinn gekommen und nie ein sehr behaglicher Gedanke gewesen. Jetzt wo sie wieder hier war, hatte sie auch das Gefühl etwas essen zu können. Eine zubereitete Mahlzeit, mehr als ein Wegbrot zu sich zu nehmen, hatte für sie immer den Beigeschmack getragen dort wo man diese bekam auch, zumindest eine Weile bleiben zu wollen.

Ein voller Magen war träge, träge Beine sprinten nicht gut und Essen konnte vergiftet werden oder Bande knüpfen die man vermeiden wollte. Natürlich wollte sie daher nicht alles von jedem essen. Sie brauchte wieder einen eigenen Herd... so viel stand fest. Ein weiteres mal gingen ihre Gedanken etwas zu schnell für ihren eigenen Kopf. Wann hatte das Ganze begonnen sich so hochzuschaukeln? Ach... ja. Genau.

Die Dämmerung war noch ein gutes Stück entfernt, das Zimmer war dunkel, und sie konnte noch nicht mit Sicherheit sagen ob Marie bereits schlief, aber als sie sich aufrichtete, spazierte sie zielstrebig zum Bett der Verursacherin ihrer Blessur, kniete sich müde daneben und ließ ihren Kopf neben der schlafend gewähnten, auf die Arme gebettet, gen Matratze sinken. Das Schlüsselbein schmerzte bei der Positionsveränderung, schwieg aber als es durch die Matratze entlastet wurde. Sie konnte sich in just jenem Moment nicht daran erinnern einmal ein Bett besessen oder vermisst zu haben.

Dann schlief sie. Tief, fest und lange. Essen nach dem Aufstehen begann, nahtlos anschließend an die Liste vernachlässigter Bedürfnisse, attraktiv zu werden, aber noch war die Nacht nicht vorüber.
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Warten auf die Dämmerung - von Violetta Winter - 26.09.2016, 10:44
RE: Warten auf die Dämmerung - von Violetta Winter - 27.01.2017, 12:58



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