Sonnenwende
#4
Der Lärm ist ohrenbetäubend, schrillend und allgegenwärtig - es gibt keine Möglichkeit ihm zu entkommen, ganz gleich, wie sie sich wendet, wie weit sie läuft: Der Lärm begleitet sie und zerfetzt jeden zusammenhängenden Gedanken. 
Der Lärm drückt und würgt, bis sie nicht mehr in der Lage ist, sich auf den Füßen zu halten und fällt.
Stille. Und sie begreift, dass es ihr eigener Schrei war. 
Dann ist das Entsetzen wieder da und wischt die Erinnerung davon. 

Der Lärm ist ohrenbetäubend, schrillend und allgegenwärtig.




Löwenstein war die richtige, die naheliegende Wahl gewesen - das konnte ich nicht aufhören, mir wieder und wieder zu sagen. Das Gefühl von Notwendigkeit war dennoch nicht gewichen, als ich erstmals in die Strassen und Gassen der grossen Hauptstadt eingetaucht war. Nur ein Gesicht unter Hunderten. Nur ein Paar Hände mehr, das die wenigen Habseligkeiten misstrauisch fest hält, wann immer das Wogen der Menge jemanden gegen mich schob. Ein ohrenbetäubender Lärm über all dem: Was normale Gespräche hätten sein können, war Geschrei, durchmischt mit dem Klirren von Waffen dann und wann, mit wütend erhobenen Anschuldigungen und dem Gebell von Hunden. 

Ich hätte mich verloren fühlen sollen, aber es war, als wäre ich heimgekommen.

Ein Gefühl von Notwendigkeit hatte mich hierher getrieben, aber nun, während ich den grossen Strassen entfloh und die engeren Seitengassen wählte, fühlte ich mich rastloser als zuvor. Sieh dir die Häuser an, Delahne: Gezeichnet von der Zeit, die sich Feuer und Sturmfluten zu Diensten machte. Geprägt von Generationen auf Generationen von Anwohnern, die geboren wurden und starben, manchmal so rasch im Wechsel, das ihr Leben kaum mehr sein konnte, als das armselige Flackern eines Irrlichtes.

Was also suchst du? Was du verloren hast, findest du nicht in einer schmutzigen Gasse oder am blanken Metall der Klinge eines Messers.

Messer.

Die Alten in Eigen hatten sich stets unablässig über die Gefahren des Lebens in Löwensteins ausgelassen, ein Leben, das - so ihrer gebildeten Meinung nach - jeden Tag durch Raub und Mord ein Ende finden konnte, ja finden musste. All die Taschendiebe und Strassenräuber, all die Totschläger, Ketzer und Mörder, so hatte man es mir versichert, zogen nach Löwenstein, um dort unter sich zu hausen und zu brüten mit dem einzigen Zwecke neue Halsabschneider zu produzieren.

Ich vermisste diese Tage. 

Eine ganze Schar des so arg geschmähten Volkes hatte sich hier wie ein Rudel Ratten um einen verirrten Spaziergänger versammelt, den es durch irgendein Unglück oder Ungeschick hierher verschlagen hatte: Der Mann war fett genug, um vermutlich die ganze Bande von abgezerrten Halbwüchsigen aufzuwiegen, die ihn in eine Ecke getrieben und umstellt hatten - als bestünde die ernsthafte Gefahr, dass das auserkorene Opfer fliehen konnte. Auch jetzt floss unablässig Schweiss vom beinahe kahlen Schädel herab, jeder der rasselnden Atemzüge stellte für sich die Frage, wie der Mann es überhaupt geschafft hatte, bis in diese dunkle Ecke zu gelangen.

"Auseinander ihr kleinen Ratten oder ich mache euch Beine!"

Da war es: Einer dieser Momente, in der alles auf einer Nadelspitze zu balancieren scheint. Natürlich legte ich die Hand an den Griff meiner Waffe, bleckte die Zähne zu einem selbstbewusst herausforderndem Grinsen, das grossspurige Gewissheit versicherte. All das würde keine Rolle spielen, wenn der Anführer der kleinen Bande entschied meinen Bluff zu prüfen. 
Drei, vier, fünf Herzschläge verstrichen, während ein Halbdutzend Augen mich lauernd anschaute - und dann war der Moment vorüber und die abgerissenen Wegelagerer räumten das Feld. Nicht für lang - um das zu wissen, brauchte man kein erfahrener Veteran der Löwensteiner Gassen zu sein.

"Kommt nun, kommt!"

Den Fetten wieder auf sicheres Pflaster zu bekommen, war im Rückblick die schwierige Aufgabe - nicht nur, weil seine Knie die Festigkeit von Pudding zu haben schienen und ich beinahe zusammenbrach, als er sich dankbar auf meinen angebotenen Arm stützte, sondern in erster Linie wegen des unaufhörlichen Quells von Worte, der ohne Unterlass von seinen Lippen floß. In der Zeit die es brauchte um den Mann aus der Enge bis zum Schuldentor zu bringen, hatte ich nicht nur einmal, sondern gleich zweimal in allen Details die Geschichte seiner Familie erfahren, sondern auch noch sämtliche ihm bekannten Scherze, bis ich darüber nachdachte, ihn einfach selbst aufzuschneiden um zu schauen, ob sich in diesem Wanst etwas menschliches verbarg, oder nur ein unaufhörlich plappernder Dämon der Unterwelt.

"Bis hierher, Herr Areng. Bitte achtet darauf, nicht wieder vom Wege abzukommen."

"Das sagt ihr so einfach, Fräulein Magreid. Ich habe das Herz eines Künstlers und das will sich nicht in ein Gefängnis erlaubter und verbotener Strassen sperren lassen. Das liegt daran, dass etwas Feenblut in meinen Adern fliesst. Das erwähnte ich noch nicht, oder?"

"Frau Magreid. Und nur drei Mal, Herr Areng. Nur drei Mal. Ich fürchte die Feen sind ausgestorben, weil sie sich nicht von dunklen Gassen fernhalten wollten."

"Ihr klingt so biestig, Fräulein Magreid. Man muss von der Grösse träumen, nach der man einst streben will!"

"Frau Magreid. Träume verbinden keine Wunden, sie flicken keine Kleider und sie machen auch nicht satt."

Ein paar Lidschläge lang war ich überzeugt ihn erreicht zu haben: Das was sich in den Augen des Fetten wandelte, musste Einsicht sein, Akzeptanz. Dann begriff ich, dass er aus meiner treudoofen Hilfsbereitschaft irgendwie die falschen Schlüsse gezogen hat.

"Nein. Nein. Nein. Ich bin nicht interessiert, Herr Areng, also tut Euch einen Gefallen und starrt ein glasiertes Spanferkel auf diese Weise an."

"Ich bin die beste Partie dieser Stadt, Fräulein Magreid."

"Frau Magreid. Ich bin verheiratet."

"Wart verheiratet."

Für einen Moment stand ich wie vom Donner gerührt. Atemlos, da ich das Gefühl hatte von meiner eigenen Vergangenheit erwürgt zu werden, unfähig eine schnippische oder höhnische Antwort zu geben. Und das, was niemals fern war, rührte sich, trieb mir erst die Tränen in die Augen und dann die Scham auf die Wangen. 
Ich war so weit gelaufen, aber nicht weit genug. Ich würde niemals weit genug laufen können. Der Makel würde bleiben, denn er kam mit mir. 

"Sucht Ihr eine Arbeit? Ich bräuchte jemanden, der sich um meine Sicherheit kümmert. Jemand, der verhindert, dass ich versehentlich falsch abbiege. Erwähnte ich, wie ich letzten Mond beinahe in diesem Ungetüm von Pfütze ertrunken wäre, das sich auf schauerliche Weise genau vor meiner Türe auf die Lauer gelegt hatte?"

"Nur zwei Mal, Herr Areng."

"Ihr seid so eine gute Zuhörerin! Schlagt ein. Träume machen Euch nicht satt, aber gutes Silber sorgt dafür, dass Ihr in Löwenstein bekommt, was immer ihr sucht. Ein zwei Jahre und ich stelle Euch ein Empfehlungsschreiben aus, mit dem ihr überall mit Handkuss genommen werdet."

Und so schlug ich ein. So trieb das Schicksal Wurzeln.

War es schon immer so?
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Sonnenwende - von Delahne Magreid - 25.09.2016, 14:09
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 26.09.2016, 14:30
Asche zu Asche - von Delahne Magreid - 04.10.2016, 13:34
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 01.03.2018, 18:26
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 02.03.2018, 20:35
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 18.06.2018, 15:27
RE: Sonnenwende - von Delahne Magreid - 21.06.2018, 06:15



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