FSK-18 Sternstunden der Bedeutungslosigkeit
#1
I

Ich erinnere mich noch gut daran. Vierzig bis fünfzig Winter muss er auf dem Buckel gehabt haben, als er zu uns ins Viertel kam. Man sah ihm seine Bürgerlichkeit sofort an. Gute Kleidung, gekämmte Haare und ein gestutzter, gepflegter Bart. Obendrein konnte er sich ausdrücken, auch wenn er vermied, viel zu sprechen. Trotz seiner vermeintlichen Selbstsicherheit merkte ich schon als Kind, dass nicht alles war, wie es schien. In seinen braunen Augen lag eine seltsame Verbittertheit, als hätte er Tausend Kriege gefochten und viel Leid erfahren. Das erste mal sah ich ihn in der Taverne, in der meinesgleichen sich aus kindlicher Neugierde herumtrieb, bis die alte Schankmaid uns mit Schimpf und Schande rausjagte. Er hatte üppig bestellt, doch rührte er die Speisen kaum an. Das Bier allerdings trank er in Zügen, als fürchte er, jemand käme ihm zuvor.

Wir Kinder verbrachten viel Zeit draußen, wie es bei uns üblich war. Was erwartete uns schon zwischen morschen Wänden, leeren Tischen und krummbeinigen Stühlen? Lieber spielten wir Soldat und Verbrecher, trieben Unfug oder stahlen, wenn ältere Kinder uns nicht zuvor kamen und uns blutige Nasen verpassten. Und als wir ihn wiedersahen, wurde unsere Neugier geweckt, schließlich war ein neues Gesicht etwas, was einen Ausbruch aus dem täglichen Trott bedeutete.

Die Erwachsenen betrachteten ihn aus Distanz, wenn er ziellos durch die dreckigen, ungepflasterten Straßen flanierte. Er ging nicht wie die anderen Bewohner des Viertels, im Gegenteil. In seinem Gang lag ein Stolz, den ich nie zuvor gesehen hatte. Es war nicht ungewöhnlich, wenn Leute von seinem Schlag das Viertel besuchten. Meist kamen sie, um eines der zahllosen Freudenhäuser aufzusuchen, oft mit einem schamhaften Ausdruck im Gesicht. Für Gauner, Schwätzer und Beutelschneider waren sie ein gefundenes Fressen. Aber an ihn trauten sie sich nicht. Zu selbstsicher wirkte er, wie einer, den die Stadtwache geschickt hatte, um sich umzuschauen. Und so lauerten sie, wartend, stumm und vorsichtig, während die Ehrlichen von uns sich an ihn herantasten. Und sie waren erfolgreicher als die Diebe und Aufreisser, von denen er sich, schlau wie er war, fernhielt. So kam es, dass die Leute sich mit der Zeit bei ihm anbiederten und einschleimten: “Hier, darf ich Euch noch etwas bringen, Herr?” “Hier, guter Mann, das hat meine Frau für Euch gebacken.” “Ich habe Euch diesen wertvollen Gegenstand aufbewahrt, Herr.” Freundlich wie er war, ließ er mal einige Heller mehr da als notwendig, klopfte hier eine Schulter mehr als üblich und sagte dort mal ein nettes Wort mehr, als er musste. Als Gegenleistung trugen sie seine wenigen Habseligkeiten, öffneten ihm die Türen und legten eine Scheibe Brot mehr zum Bier.

Mit der Zeit schien ihm das Geld auszugehen. Immer öfter und länger blieb er in der Schenke und trank mehr, als es einem Mann gut tat. Die Veränderung war bemerkbar: Das gepflegte Äußere war gewichen, er wurde stummer und in sich gekehrter. Notgedrungen wurde er knausriger, wenn es um die Bezahlung seiner Zeche ging. Und so verlor er langsam, aber sicher alle Schmeichler um sich.

Ich war zu einem jungen Mann herangewachsen und sah ihn in unregelmäßigen Abständen, beobachtete ihn in einem Anflug aus flüchtiger Neugier und nahm mir vor, ihn anzusprechen. Doch wie das Leben so ist als Halbstarker, dessen Aufmerksamkeit zuvorderst Mädchen und lässigen Freunden gilt, tat ich es nicht und schob es immer wieder auf. Ich tröstete mich damit, es irgendwann zu tun, schließlich war ich jung. Ich weiss nicht, weshalb ich es nicht tat, aber jetzt glaube ich, schämte ich mich damals. Nicht vor mir oder ihm, nein, ich schämte mich davor, dass mich jemand sehen könnte mit ihm, einem Mann, dessen Zeit vorbei zu sein schien und den kaum einer mehr Beachtung schenkte. So kam es, dass ich ihn eines Tages auf der Straße sitzen sah. Er war völlig heruntergekommen und wimmerte leise vor sich hin, schien Selbstgespräche zu führen und hielt die Hand bettelnd auf. Ich ertappte mich, wie ich einen Gang zulegte, um auf Gedeih und Verderb nicht von ihm angesprochen zu werden.

Ich erinnere mich an einen Abend, als das Viertel vom Ansturm der Besucher in Schenken und Hurenhäusern aufquoll. Ich war zu einem jungen Mann herangereift und sang, trank und tanzte an diesem Abend mit Freunden. Ich verabschiedete mich, bog auf die Hauptstraße und wankte betrunken nach Hause, während die Kutschen voller wohlhabender Besucher achtlos Richtung Tor peitschten. Just in dem Moment kam mir der nunmehr zu Bettler verwandelte Mann entgegen. Er torkelte so nah an den Radrinnen der Kutschen, dass ich jederzeit mit einem Sturz rechnete. Auf meiner Höhe fiel er mir in die Arme. Ich hielt ihn fest, sah ihm in die Augen und wude wütend. Für einen Sekundenbruchteil dachte ich daran, ihn auf die Straße zu werfen, damit eine Kutsche ihn überfuhr, damit sein menschenunwürdiges Leben endlich ein Ende fände. Ich tat es nicht, stattdessen warf ich ihn schimpfend an die Häuserwand und ging weiter.

Einige Jahre später fand man ihn tot auf der Straße, betrunken, ausgeraubt und in seiner eigenen Pisse liegend. Es hieß, er hätte an seinem gewohnten Platz gelegen, den Kopf gesenkt, die Hand bettelnd ausgestreckt. Dort, erzählt man, lag er mehrere Tage, unbemerkt, auf einer Straße des Viertels, die jeden Tag von Hunderten Menschen passiert wird. Auch von jenen, die ihm einst die Tür aufhielten oder ihm das Gepäck trugen.

Oft musste ich, wenn ich zechte, in die Hauptstraße einbog und nach Hause wankte, daran denken, wie er mir an diesem Tag entgegenkam. Lange habe ich mich gefragt, weshalb ich so wütend wurde, als er mir damals in die Arme fiel. Jahre später, nun, als es schon zu spät ist, habe ich begriffen, was mich damals tatsächlich wütend machte: Es war nicht das Mitleid darüber, in welche Situation er geraten war. Nein, ich war wütend, dass ich erst die Gelegenheit fand, ihn anzusprechen, als sein Lebensfaden am zerreißen war. Hätte ich ihn in diesem Moment gefragt, ich hätte seine Geschichte nicht ertragen können.

Im Grunde war ich also nicht wütend auf ihn gewesen, sondern auf mich. Heute weiss ich, dass nicht nur die Heuchler und Schmeichler ins Abyss gehören, sondern auch die, die tatenlos blieben und mehr hätten tun können.
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