FSK-18 Dämmerung
#1
Blanke Finger zeichneten behutsam und voller Ehrerbietung die Konturen des kleinen Anhängers nach. Vom äußersten Rand, der ein makelloses Kreisrund bildete, das von gezüngelten Linien gesäumt war, über den Ring aus Schriftzeichen, die Worte in der altertümlichen Sprache der Kirche bildeten, bis hin zur verschachtelten Form der gekreuzten Ovalen und dem Sonnenauge, welches mit strenger Geometrie das Zentrum beherrschte. 
Jedes Zeichen des Zeit an dem unscheinbaren Ding erzählte eine Geschichte aus längst vergangenen Tagen, die Meisten davon älter als er selbst. Die Erinnerungen vieler Jahrzehnte, vom Schicksal in Metall gegossen.
Eine Flamme, heißt es, brennt in jeder Brust, ein Stück vom ewigen Licht aus Mithras' heiligen Hallen, hoch oben, in Elysium, wo der goldene Morgen endlos währt. Das Geschenk des Sonnengottes an den Menschen, und eine Herausforderung zugleich, denn gemeinsam mit ihm kommt ein göttliches Gebot.
Unbefleckt und ungetrübt soll der Splitter sein, wenn er dereinst dem erleuchteten Herrn zur Prüfung gereicht werde, nur dann steht ihm ein Platz zu im See der Lichter, dem Chorus ungezählter Kerzen im Herzen der Sonne, die ihren Schein über alle Länder werfen.
Der Legionär wagte es, mit zum Schutz verkniffenen Augen in Richtung des dämmernden Horizontes zu spähen, wo das flammende Auge sich behäbig über den Weltenrand erhob. 
Die Vorstellung, dass dort ein alter Freund sich niedergelassen hatte, brachte eigentümliche Gefühle mit sich. Stolz zum einen, dass der Mann, der ihn einst auf den rechten Weg brachte und der stets weise Worte zur Hand hatte, wenn sie von Nöten waren, ja der Mann, der ihm den Anhänger hinterließ, würdig war an der Seite solch erhabener Gestalten sein Lied zu singen.
Trauer darüber, dass er fort war, zum anderen natürlich. Aber vor allem auch Bedauern in dem Wissen, dass sein Weggefährte ihm niemals mehr mit besonnenem Rat zur Seite stehen würde, bis er selbst eines Tages vor Mithras Gericht stehen sollte. Rat, der billig war in jungen Jahren, und nicht immer sehr willkommen, wie es eben ist mit der Jugend, und doch jetzt von unschätzbarem Wert schien.

Eine weitere Nacht unter Laubkronen und Gestirnen, fernab des regen Tempels, und eine weitere Gelegenheit in Stille und Einsamkeit von alten Gespenstern heimgesucht zu werden, lag hinter ihm.
Er platzierte die Schale mit kühlem, frischen Wasser, welches der kristallklare Bach nah seines beschaulichen Nachtlagers ihm gespendet hatte, auf einem alten, bemoosten Felsbrocken, der dort verloren zwischen den Bäumen stand. Dann benetzte er erst seine Fingerspitzen, um sich schließlich mit ihnen in einer bedachtsamen, zeremoniellen Geste über die Stirn zu streichen.
Für einen Augenblick, als er in der Spiegelung des Wassers den dichter werdenden Bart sah, erwog er zum Rasiermesser zu greifen, entschied sich aber, wie gestern schon, dagegen und fuhr fort mit dem kleinen Ritus.

“Herr Mithras, Vater aus Elysium.
Dein gleißender Blick erhebt sich über die Welt,
und brennt hinfort die lange Nacht.
Ich bitte dich. Läutere diese Gabe im Glanz deiner Herrlichkeit.
Mit diesem Wasser wasche hinfort meine Klagen, meine Zweifel und Verfehlungen,
und alle frevelhaften Gedanken, die aus Dunkelheit geboren.”


Er schöpfte mehr Wasser mit seinen großen Händen, fuhr mit ihnen durch sein Gesicht und wusch sich frei von den Spuren des vergangenen Tages. Einmal noch verschwendete er einen Gedanken an die Träume, die in beinah jeder Nacht nun kamen, an die vagen Bilder und Eindrücke, unergründlich und gerade deshalb schier unerträglich. An den Mann auf dem Gipfel eines Berges, der sich der Sonne entgegenreckte.
Die Scherben schließlich aber fegte er beiseite und richtete in beschwörender Manier seine Worte abermals an den Sonnengott.

“So erhebe ich mich frei von meiner Last, und gereinigt durch dein Licht beginne meine Wacht.
Ehre sei Dir, Mithras, Fürst des Morgens, Herr der Götter.
Dir und den Deinen gelobe ich meine Treue
an diesem neuen Tag.”


Und so erhob er sich, warf den Wappenrock der Legion über, schlang den beschlagenen Gurt mit der hölzernen Schwertscheide um seine Hüften und wappnete sich für die Dämmerung.
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Dämmerung - von Elian Alveranth - 23.05.2015, 10:03
Ein guter Schüler - von Elian Alveranth - 14.06.2015, 22:56



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