Arx Obscura

Normale Version: Dämmerung
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Blanke Finger zeichneten behutsam und voller Ehrerbietung die Konturen des kleinen Anhängers nach. Vom äußersten Rand, der ein makelloses Kreisrund bildete, das von gezüngelten Linien gesäumt war, über den Ring aus Schriftzeichen, die Worte in der altertümlichen Sprache der Kirche bildeten, bis hin zur verschachtelten Form der gekreuzten Ovalen und dem Sonnenauge, welches mit strenger Geometrie das Zentrum beherrschte. 
Jedes Zeichen des Zeit an dem unscheinbaren Ding erzählte eine Geschichte aus längst vergangenen Tagen, die Meisten davon älter als er selbst. Die Erinnerungen vieler Jahrzehnte, vom Schicksal in Metall gegossen.
Eine Flamme, heißt es, brennt in jeder Brust, ein Stück vom ewigen Licht aus Mithras' heiligen Hallen, hoch oben, in Elysium, wo der goldene Morgen endlos währt. Das Geschenk des Sonnengottes an den Menschen, und eine Herausforderung zugleich, denn gemeinsam mit ihm kommt ein göttliches Gebot.
Unbefleckt und ungetrübt soll der Splitter sein, wenn er dereinst dem erleuchteten Herrn zur Prüfung gereicht werde, nur dann steht ihm ein Platz zu im See der Lichter, dem Chorus ungezählter Kerzen im Herzen der Sonne, die ihren Schein über alle Länder werfen.
Der Legionär wagte es, mit zum Schutz verkniffenen Augen in Richtung des dämmernden Horizontes zu spähen, wo das flammende Auge sich behäbig über den Weltenrand erhob. 
Die Vorstellung, dass dort ein alter Freund sich niedergelassen hatte, brachte eigentümliche Gefühle mit sich. Stolz zum einen, dass der Mann, der ihn einst auf den rechten Weg brachte und der stets weise Worte zur Hand hatte, wenn sie von Nöten waren, ja der Mann, der ihm den Anhänger hinterließ, würdig war an der Seite solch erhabener Gestalten sein Lied zu singen.
Trauer darüber, dass er fort war, zum anderen natürlich. Aber vor allem auch Bedauern in dem Wissen, dass sein Weggefährte ihm niemals mehr mit besonnenem Rat zur Seite stehen würde, bis er selbst eines Tages vor Mithras Gericht stehen sollte. Rat, der billig war in jungen Jahren, und nicht immer sehr willkommen, wie es eben ist mit der Jugend, und doch jetzt von unschätzbarem Wert schien.

Eine weitere Nacht unter Laubkronen und Gestirnen, fernab des regen Tempels, und eine weitere Gelegenheit in Stille und Einsamkeit von alten Gespenstern heimgesucht zu werden, lag hinter ihm.
Er platzierte die Schale mit kühlem, frischen Wasser, welches der kristallklare Bach nah seines beschaulichen Nachtlagers ihm gespendet hatte, auf einem alten, bemoosten Felsbrocken, der dort verloren zwischen den Bäumen stand. Dann benetzte er erst seine Fingerspitzen, um sich schließlich mit ihnen in einer bedachtsamen, zeremoniellen Geste über die Stirn zu streichen.
Für einen Augenblick, als er in der Spiegelung des Wassers den dichter werdenden Bart sah, erwog er zum Rasiermesser zu greifen, entschied sich aber, wie gestern schon, dagegen und fuhr fort mit dem kleinen Ritus.

“Herr Mithras, Vater aus Elysium.
Dein gleißender Blick erhebt sich über die Welt,
und brennt hinfort die lange Nacht.
Ich bitte dich. Läutere diese Gabe im Glanz deiner Herrlichkeit.
Mit diesem Wasser wasche hinfort meine Klagen, meine Zweifel und Verfehlungen,
und alle frevelhaften Gedanken, die aus Dunkelheit geboren.”


Er schöpfte mehr Wasser mit seinen großen Händen, fuhr mit ihnen durch sein Gesicht und wusch sich frei von den Spuren des vergangenen Tages. Einmal noch verschwendete er einen Gedanken an die Träume, die in beinah jeder Nacht nun kamen, an die vagen Bilder und Eindrücke, unergründlich und gerade deshalb schier unerträglich. An den Mann auf dem Gipfel eines Berges, der sich der Sonne entgegenreckte.
Die Scherben schließlich aber fegte er beiseite und richtete in beschwörender Manier seine Worte abermals an den Sonnengott.

“So erhebe ich mich frei von meiner Last, und gereinigt durch dein Licht beginne meine Wacht.
Ehre sei Dir, Mithras, Fürst des Morgens, Herr der Götter.
Dir und den Deinen gelobe ich meine Treue
an diesem neuen Tag.”


Und so erhob er sich, warf den Wappenrock der Legion über, schlang den beschlagenen Gurt mit der hölzernen Schwertscheide um seine Hüften und wappnete sich für die Dämmerung.
Irgendwo, gar nicht fern, schrie jemand hektische Befehle, doch der Novize hörte sie nicht.
In den Tiefen des dichten Waldes, wo sich Sonnenlicht durch verwuchertes Geäst zwang und ein beständiges Zwielicht schuf, kündete ein bebender Herzschlag vom Erwachen einer Bestie.
Ein rhythmisches Donnergrollen, dessen Lanze geradwegs ins Herz der trügerischen Stille stieß und ihr binnen Augenblicken ein sangloses Ende bereitete.
Mit dem Mut der Verzweiflung stießen die dutzenden Mäuler der Bestie zwischen Bäumen und Sträuchern hervor, und präsentierten gefletschte Fänge aus blitzendem Stahl. Eine Axt hier, einen Spieß dort und selten einmal ein richtiges Schwert sah er in den Händen der Männer, die gekommen waren, um den versammelten Streitern der Reichsmacht den Tod zu bringen.
Sie schälten sich aus dem Dickicht, einer nach dem anderen, während ihre Kameraden weiter hinten Waffen gegen Schilde hämmerten und so die Streitmacht mit einem allgegenwärtigen Wall aus Lärm umschlossen.
Ein alter Kerl mit zahnlosem Maul, der mit einem Mal aus dem Nichts trat, war ihm der nächste Feind. Der Alte brüllte ihm etwas aus Leibeskräften entgegen, als er mit gehobener Axt auf den Novizen zustürmte, doch dieser gab nur Acht auf das wutentbrannte Gesicht mit dem weit aufgerissenen Mund und den wenigen verbliebenen paar Stummeln darin, und auf die Augen, in denen die Müdigkeit und Leere eines Todgeweihten sich spiegelten.
Ein paar Schritt weiter hinten hatte ein zweiter Räuber Stellung bezogen und spannte seinen Bogen. Kaum einen Augenblick später fand der erste Pfeil ungeduldig sein Ziel in der Brust der Mannes neben dem Novizen, und ein zweiter ließ einen roten Quell aus seiner Kehle springen.
Der Alte war bei ihm, ließ das Axtblatt niederfahren zu einem ungelenken Hieb, dem er einfach genug entgehen konnte.
Zwei schnelle Streiche folgten seinerseits und erzwangen einen raschen Sieg über einen unbemerkenswerten Gegner, doch bevor der Alte sich im Todeskampf die letzte Luft aus den Lungen schrie hatten weitere Gestalten die Bühne betreten. Zunächst ein Dutzend, darauf immer mehr.
Der Herzschlag der Bestie ertrank Stück für Stück im wilden, ungerichteten Schlachtenlärm, der sich in wütenden Wogen über das Wäldchen ergoss, wo Stahl, Holz und Fleisch aufeinandertrafen, bis er dem Tumult vor seinen Augen nur noch mit Mühe folgen konnte.
Kämpfer beider Seiten rannten durcheinander, riefen zu ihren Kameraden aus, erschlugen einander und starben.
Ein Holzschaft, der einem Pfeil gehören musste, schaute an seiner Schulter aus dem Kettenhemd heraus, und in all der Raserei, die um ihn herum tobte, nahm er sich einen stillen Augenblick, um das befremdliche Ding mit einiger Verwunderung und gefurchter Stirn zu beäugen. Der Rausch der Schlacht ließ das Blut in seinen Adern mit Hammerschlägen pochen und hielt ihn so fest ergriffen, dass er den Schmerz selbst in die Flucht schlug.
Der eigentümliche Moment des Ruhe inmitten des Sturms indes währte nicht sehr lang, denn kaum hatte er nach dem Schaft gegriffen waren bereits zwei weitere Männer auf dem Weg zu ihm.
Mit zittrigen Händen riss der Novize den Anderthalbhänder hoch und parierte mit angestrengten Hieben die Speerstöße seines ersten Gegenübers. Für den anderen kam ihm ein weiterer Streiter der Königstreuen zu Hilfe.
Den Speer schob er immer wieder zur Seite weg, doch der Brigant zog ihn schlicht zurück und setzte zu neuen Stoßen an, zum Kopf, zur Brust, selten zu den Beinen. Er versuchte den Speer zu greifen, doch der nächste Stich traf dafür nur seine Hand, und fortan blieb ihm nur die andere, um sein Schwert zu schwingen.
Ein weiterer beherzter Versuch brachte mehr Erfolg. Seine blutende Hand klammerte sich um den vorderen Speerschaft, doch Kraft der Gnade seines wallenden Blutes kümmerte er sich nicht um die schmerzende Wunde und tat stattdessen einen weiten Schritt in die erzwungene Öffnung, wo seine Klinge den Briganten suchte.
Sie fand ein Gesicht.
Scharfer Stahl biss sich geradwegs durch Fleisch und Knochen und hinterließ ein groteskes Gemisch aus Haut, Blut und Zähnen.
Der Mann wich zurück, presste eine Hand gegen die Wunde und hielt sich die Teile, die dort herabhingen, obwohl sie es nicht sollten. Ein befremdetes Glucksen kam von ihm zurück, dann blanker Zorn, der ihm aus den Augen der entstellten Fratze funkelte. Eine einsame Kerze inmitten einer Ruine.
Mit der blinden Tobsucht aller Dämonen der Unterwelt stürzte sein Widersacher sich mit gezücktem Dolch auf ihn, brachte ihn zu Fall und stocherte unter wüstem Gekeuche und Geschnaufe nach seiner Brust. Das Kettengeflecht dort bewahrte ihn vor mancher Wunde, aus anderen rann sein roter Saft und vermischte sich mit dem erdigen Waldboden.
Er schlug mit der verletzten Hand nach dem zerschnittenen Gesicht und traf es auch, suchte mit der anderen hektisch nach dem Schwert, das ihm beim Fall abhanden gekommen war, und bemühte sich sehr nicht zu schreien, als der Dolch ihn stach.
Die Musik des Schlachtengetümmels ringsum derweil begann sich zu wandeln, wurde ruhiger und setzte sich. Klirrender Stahl verschwand nach und nach aus dem Klangbild und Schritte kamen hinzu.
Endlich hörte der Novize es ebenso. Ein Hornstoß von weiter hinten, von der Brücke, der den Streitern der Ordnung den Rückzug befahl.
Ein jämmerliches Kreischen von oben her mengte sich plötzlich hinzu.
Er sah auf und erkannte den Pfeil, der den Räubersmann inmitten der geschundenen Visage getroffen hatte, und die er sich nun unter entsetztem Wimmern mit beiden Händen hielt.
Der Novize indes hatte sein Schwert gefunden und griff es mit seinen verbliebenen Kräften, während die drohende Ohnmacht ihm das Licht aus der Welt stahl.
Mit einem letzten trotzigen Aufbegehren trieb er das Schwert geradwegs durch die Brust seines Feindes.
Die Finsternis senkte sich unbarmherzig, während warmes Blut über seine Schwerthand lief.

* * *

Der Geruch des Schlachtfeldes war dem staubiger Folianten und halbvermoderter Pergamente gewichen und das Schwert einem Federkiel.
Der Legionär arbeitete sich gewissenhaft durch zahlreiche Schriftstücke auf dem Schreibtisch, prüfte hier einen Eintrag, schrieb da eine Anmerkung hinzu. Metall war nicht alles, was Erinnerungen fassen konnte, und diese hier trafen ihn wie ein Lanzenstoß.
Der Ton der alten Feldberichte war nüchtern, trocken und ließ die Geschehenisse der Flüsterwaldkampagne geradezu banal erscheinen, doch so distanziert die Worte sein mochten, sie waren genug um vergessene Gedanken ans Licht zu zerren und alte Wunden schmerzen zu lassen.
Der Federkiel wurde beiseite gelegt, dann hielt er eine Weile lang inne und überließ sich selbst der stillen Einkehr. Seine Finger strichen gedankenverloren über und durch die Flamme der einsamen Kerze, die ihm ein schummriges Licht zu nächtlicher Stunde bescherte. Wieder brodelte es im Süden, wieder braute sich ein Sturm zusammen. Ein weiterer Feldzug um den Flüsterwald dämmerte am Horizont, und mit ihm eine Chance alte Fehler zu bereinigen und neue zu begehen. Die Vergangenheit, so stellte sich heraus, brachte nicht nur seinen Träumen Unfrieden.
Kratzende Laute bannten neue Befehle auf Pergament, und als er fertig war kehrte er zurück zum Kopf des Schriftstückes, wo Platz blieb für die erste Zeile. Sein Blick ging zu den Fenstern, hinter denen die Dunkelheit lauerte. Ein paar Augenblicke später fügte er eine Überschrift in großen, lauten Lettern hinzu.

Zu den Waffen!

Diesmal würde es anders sein.
“Und was hast du dir diesmal dabei gedacht?”
Der Alte bemühte sich nicht einmal, die Resignation in seiner Stimme zu verbergen und tupfte stattdessen mit stoischer Miene und einem schon reichlich verschmierten Stück Tuch das Blut von der Oberlippe des jungen Raufboldes ab. Dessen breites, in purpur und dunkelblau kläglich strahlendes Gesicht begutachtete er dabei mit strengen Blicken von links, von rechts, von oben und von unten.
“Dass sie sich eine Abreibung redlich verdient hätten.” entgegnete der Junge und entblößte in einem Grinsen die vom rötlichen Speichel gefärbten Zähne, bevor er den geschundenen Kopf mit dem jeder Ordnung beraubten dicken, aschblonden Haarschopf zur Seite drehte und einmal kräftig ausspuckte.
Der Alte stieß ihn mit seinem knorrigen Wanderstock an und präsentierte die ihm wohlbekannte und noch mehr verhasste Stirnfalte der Missbilligung, die nur ein Leben im Dienst der Kirche geformt haben konnte.
“Fein. Wir amüsieren uns, wie ich sehe. Immerhin. Wenn ich dich schon keine paar Stunden dir selbst überlassen kann, ohne dass du dir eine blutige Nase holst, sollst du zumindest gut unterhalten sein, hm?”
Der Blonde sah fort und umher, hin und zurück, zu den Sträuchern und Sumpfgewächsen, dem nahen Tümpel und der Weide mit dem merkwürdig verdrehten Wuchs, der sie wie ein Mann ausehen ließ, der die Arme in die Höhe riss und mit offenem Mund sich die Seele aus dem Leib schrie. Überall dorthin, wo der mahnende Blick des Alten nicht war und die Marschen ihr eintöniges grün und braun zu einer ewigfinstren und trostlosen Mischung zusammenpanschten.
“Ich kann auf mich selbst Acht geben.”
Ein Schnaufen kam ihm zur Antwort und lange, knochige Finger hoben das von ihnen umschlossene Stück rotverklebten Stoffes demonstrativ vor seine Nase.
“Es waren immerhin drei Stück! Und ihr solltet euch erstmal anschauen, wie die jetzt gucken.” wandte der Junge mit einem selbstzufriedenen Lächeln ein, das ihm gleich den nächsten, festeren Hieb einbrachte und seine blauen Augen endlich nach vorn zwang, wo sie dem Funkeln des Alten begegnete und es auch gleich schon bereuten.
“Das habe ich schon. Der Jüngste war zwei Köpfe kleiner als du, und dem Rotschopf hast du die Hand gebrochen. Wenn sie schlecht heilt, wird aus dem kein Schütze und kein Marschenläufer mehr.”
“Das hätte er sich überlegen sollen, bevor er das Maul aufreißt.”
“Mithras..” begann der Alte mit einem erhobenem Zeigefinger, der so knorrig daherkam wie die Weide, und im schulmeisterlichen Ton seiner brüchigen Stimme zu dozieren, “wird es schon ertragen, wenn ein paar schlecht erzogene Bürschlein lästerliche Reden schwingen. Was ihm viel mehr Sorgen bereitet sind Leute, die seinen Namen auf den Lippen führen und gegen sein Recht verstoßen. Und du bist auch noch Stolz darauf.”
“Ihr sagt doch immer, das Reich braucht Krieger, die für den Glauben einstehen und ihn verteidigen.” Der Junge hob seine Schultern in einer bewusst verständnislosen Geste wie einen Schild zur Verteidigung.
“Die Kluft zwischen einem edelmütigen Recken und einem gemeinen Schläger, der sich mit Furcht Geltung verschafft, weil er größer und stärker ist als die anderen, liegt eine Kluft so breit und tief, man könnte ganz Amhran darin versenken. ”
Sein Zögling antwortete ihm nicht, sah zwischen seinen Beinen zu Boden und ließ seine Kiefer so beharrlich und ausdauernd kreisen, man hätte einen ganzen Sack Korn zwischen ihnen zermahlen können.
Als der alte Mann endlich fertig war, das inzwischen getrocknete Blut zum größten Teil von Mund und Nase zu entfernen, richtete der Junge sich auf und setzte sich auf den umgestürzten Stamm, gegen den sein Rücken zuvor lehnte.
“Viele in den Marschen kennen nichts weiter als ihre alten Bräuche und ihre alten Götter. Fehlgeleitet mögen sie sein, aber unsere Feinde sind sie darum nicht.” sprach der Alte.
“Ich bezweifle, dass sie es so großzügig sehen, Herr.” Er seufzte schwermütig und schaute fort, dorthin, von wo aus das Moor ihm seine altbekannten und darum doch nicht weniger geheimnisvollen Lockrufe zuwarf.
“Und wenn? Man kann das Licht nur denen offenbaren, die im Dunkeln stehen.”
“Von euch hab ich doch, dass die Heere Mydrions über Amhran marschiert sind und die Leute zum rechten Glauben gebracht haben. Mit dem Herzen voller Mut und dem Schwert in der Hand!” verteidigte sich der blonde Grobian energisch.
Der betagte Herr kommentierte diese Aussage mit einem müden Ausdruck auf dem faltigen Gesicht und begann sich in der drückenden Schwüle des spätsommerlichen Hohenmarschens mit der flachen Hand die Schweißtropfen von der Halbglatze zu wischen.
“Die Heere Mydrions verschoben die Grenzen des Reiches und brachten Frieden in ein vom Krieg zerrissenes Land. Aber die Diener des Sonnengottes verbreiteten seine Lehren. Wer durch das Schwert bekehrt wird, verliert seinen Glauben allzu leicht, wenn die Spitze erstmal nicht mehr auf ihn zeigt.”
Der alte Mann setzte sich zu ihm und für ein Weilchen schwiegen sie gemeinsam.
“Ich werde nicht immer hier sein, um dich an diese Dinge zu erinnern. Und du wirst allmählich auch zu alt dafür.” Mit dem Mienenspiel eines sorgenvollen Vaters sah er seinen Ziehsohn an.
“Ich habe dir mehr als einmal geraten nach Löwenstein zu gehen. Am Tempel würde man dich sicher aufnehmen, dir eine ordentliche Schulung zukommen lassen und dich in all den Dingen Unterrichten, die du auf Moorpfaden niemals lernen wirst.”
“Aus mir wird niemals ein Priester werden.“ schnitt er seinem Lehrer mit einer eingeübten Antwort auf einen eingeübten Ratschlag ins Wort.
“Die Legion dann. Mithras weiß, nach dem Aufbruch der Streitmacht nach Indharim letztes Jahr können sie jeden aufrechten Mann gebrauchen.”
“Und wenn sie dafür auf solche wie mich warten, muss es um sie wahrlich schlecht bestellt sein.”
Der Stab traf das Schienbein des Jungen mit erstaunlicher Härte.
“Stell dein Licht nicht so unter den Scheffel. Schließlich habe ich dich nicht ohne Grund aus deines Vaters Armen gerissen. Du hast..”
“Ja, Herr, ich weiß. Wenn es euch Recht ist, dann bleibe ich noch bisschen hier und höre mir eure Belehrungen an.”
Der Alte richtete sich am Stab auf und raunte mit einem tiefen, langen Murren seine Kapitulation in die Marschlande hinaus, bevor er sich langsam in Richtung des einsamen Gasthauses, welches in der Ferne am Wegesrand winkte, in Bewegung setzte. Der Junge folgte nach einem Moment und schloss dank seiner jugendlichen Kräfte rasch genug zu ihm auf.
“Was war eigentlich mit dem Schankmädchen?” fragte der kahle Mann, ohne seinen Begleiter anzuschauen.
“Was soll mit ihr gewesen sein?”
Der Alte lächelte ein feines, hintergründiges Lächeln, das dem Blonden schon in seiner Fremdartigkeit ein gewisses Unbehagen bereitete, und wog den Kopf dabei hin und her.
“So schlecht sind meine Augen noch nicht. War das alles nicht vielleicht doch auch ein bisschen, weil der Schönling, dem du das Gesicht ramponiert hast, sich so nett mit ihr unterhalten hat?”
“Sie ist auch eine Mondwächterin.” gab der Bursche mit gerunzelter Stirn zurück.
“Es gibt schlechtere Wege, um jemandem dem Herrn näher zu bringen.”
Dieser verzog da nur das Gesicht zu einer wenig begeisterten Fratze, als ihn die unangenehme Erkenntnis, dass auch ein alter Prediger ein Leben vor dem Dienst gehabt haben mochte, ganz unerwartet traf.
“Alte Leute sollten manche Dinge für sich behalten.”
Der Wanderstab traf ihn am Hinterkopf.


* * *


Während das Sonnenrund in kriechender Eile sich in der Ferne über den Horizont hinaus wälzte, ging der Legionär seinen üblichen Riten nach. Erst Waschung und Gebet, wie immer natürlich, und wenn Zeit war stutzte er sich ab und an auch noch den Bart, um ihn kurzgeschoren zu halten. In seiner Zeit im Feldlager der Verteidiger Südwalds, an der Grenze zum Flüsterwald, wo eine Handvoll tapferer Männer und Frauen Wacht hielten und die Ravinsthaler Briganten daran hinderte den Fluss zu überqueren, kam nun noch der Ritus des Palisadenabklopfens und der Ritus des Flusslaufbeobachtens und der des Rundganges hinzu.
Dabei handelte es sich natürlich nicht wirklich um Riten der Legion, aber gemessen an der Ernsthaftigkeit und Beharrlichkeit, mit welcher er sie zu jedem Tagesbeginn erneut durchlief, hätte man einem uneingeweihten Beobachter diese nachlässige Bewertung sicherlich verzeihen können.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass tatsächlich auch jeder Stamm in der Palisade noch am selben Ort stand wie am Abend zuvor und auch jeder Knoten noch fest und sorgsam saß, marschierte er quer durch das Lager zurück, stieg über die zahlreichen Bretter, Pfähle und andere Baustücke, die der Schreiner zu einem Wehrgang zusammenfügen versuchte, und auch über den ein oder anderen Streiter, der seine Augen vom Wachdienst der Nachtschicht ausruhte und die Stille genoss. Er beneidete die Schlafenden ein wenig, denn auch wenn es an Ruhe die meiste Zeit über im Lager gar nicht mangelte, fiel es ihm zusehends schwerer noch Momente der Entspannung zu finden. Der Legionär konnte sich nicht einmal erinnern, wann er das letzte Mal länger als drei Stunden am Stück schlafen konnte. Nicht genug Zeit, um Erholung zu finden, aber wiederum auch nicht kurz genug, um von den Träumen verschont zu werden. Nicht einmal das konnte er noch für sich verbuchen.
Die langen Tage des Lagerbaus und des Dienstes dort begannen ihn auszuzehren und mit jedem weiteren Tag brannte der Wunsch, eine Entscheidung mit dem Schwert herbeizuführen, heller und heißer. Ungeduld aber, das wusste er zumindest noch, war ein schlechter Ratgeber. Nicht nur in Zeiten des Krieges, aber ganz besonders da, und so schwang er sich Tag um Tag aufs Neue zum Herrn über seine niederen Wünsche und Antriebe auf und zwang sie zurück in die Schatten, aus denen sie hervorgekrochen waren.
Sein Maß an Selbstbeherrschung hatte er sich einst hart erkämpfen müssen, und nicht nur leistete es ihm gute Dienste dieser Tage, sondern es war auch Quell eines nicht unbeträchtlichen Stolzes. Er fühlte sich dem Sonnengott nie näher als in jenen Augenblicken, da er unangefochtener Meister des säuberlich angelegten Gartens seiner Gedanken und Gefühle war, den er aus einem Stück wuchernder Wildnis herausgeschnitten hatte.
Augenblicke, die seltener wurden, wie er schweigend feststellte, während er das Flussufer entlang marschierte und Ausschau nach den Booten des Feindes hielt.
Lass dich nicht ablenken, befahl er sich selbst.
Leichter gesagt als getan, gewiss, denn die Ablenkungen lauerten dieser Tage hinter jedem Zelt und jedem Baum.
Unnütze Streitigkeiten, Festivitäten, Zeremonien, ein verschreckter Novize, allerhand Sonderwünsche bis hin zu den Berichten über eine Nachricht aus Indharim und der gespielte Kuss einer jungen Dame waren allesamt trefflich geeignet, ihm dieses noble Ansinnen zunichte zu machen.
Aber der Feind war noch nicht geschlagen, und noch hatte er eine Aufgabe zu erfüllen.
Lass dich nicht ablenken.
Er hatte gut gelernt in diesen letzten fünfzehn Jahren.