Zwei Leben
#40
Die morgendliche Herbstsonne war klar, ließ alles in einem scharfen, kalten Licht erscheinen. Anders als in den warmen Sommermonaten hatten ihre Strahlen nichts schmeichelndes, wohliges an sich. Cahira fühlte sich wund und durchscheinend und wusste nicht, wann sie das letzte Mal geschlafen noch wann sie eine richtige Mahlzeit zu sich genommen hatte. Aber es war auch einerlei: Sie bekam die letzten Tage kaum noch etwas runter - ganze sicher eine Folge der vergangenen, schwerwiegenden Gespräche, auch wenn diese sich teilweise nur in ihrem Geist abgespielt hatten -  und wenn sie an die Aussprache von vergangener Nacht dachte, drehte sich ihr Magen auch schon wieder herum …

Der Ritt zunächst im trüben Abendlicht vom Rabenfeld nach Hohenquell und dann am grellen Morgen wieder zurück war eine Tortur gewesen. Ganz bewusst hatte sie das garstigste Pferd aus der fürstlichen Zucht für diese Reise ausgewählt, denn so bissig die Stute auch war, so schnell, kraftvoll, ausdauernd war sie auch und stellte damit so machen ihrer Artgenossen in den Schatten. Doch diese Kraft musste beständig kontrolliert, in Maßen gezähmt werden und als Pferd und Reiterin endlich die jeweiligen Zielorte erreichten, waren beide gleichermaßen ausgelaugt, atemlos, schweißnass - das Tier von der Hatz über den Pass, die gepflasterten Straßen, auf denen das Donnern der Hufe ihr Nahen ankündigte wie das Marschgeläut einer Armee aus dem Abyss; die junge Frau von der Beherrschung der ungestümen Macht zwischen ihren Schenkeln und den Sorgen, die sie nach Hohenquell getrieben hatte.

Nachdem das Tier versorgt worden war, lehnte sie sich zunächst erschöpft an den Türrahmen ohne in die warme, gemütliche Stube zu treten, und betrachtete für einen Moment gedankenverloren ihre Kinder: Brynja saß auf dem breiten Schoß von Nora, dem Kindermädchen, gegen deren ausladenden Busen gedrückt, und fuhrwerkte mit einem Löffel in ihrem Haferbrei herum - die Tochter war propper, mit rosigen Wangen, leuchtenden Augen, das Haar zeigte den Ansatz von Locken - Lionel biss gerade von einem kalten Speckkrapfen ab und berichtete von seinen jüngsten Erfolgen mit der Schleuder, natürlich mit noch vollen Wangen, welches die Mutter von ihrem Beobachtungsposten her mit einem zärtlich resignierten Lächeln zur Kenntnis nahm - der Sohn war schlank und blass, schlug in seinem Aussehen eindeutig nach dem Vater, obwohl das Haar nicht gänzlich schwarz schien, sondern im Sonnenschein einen bräunlichen Schimmer mit sich trug.

Nora bemerkte Cahira als Erste und wollte sich samt Kleinkind erheben, was Cahira mit einer kurzen Handgeste abwiegelte: “Bitte, lasst euch nicht beim Essen stören.”, und die Frau sackte wieder auf die Bank zurück; das Auf und Ab animierte Brynja zu fröhlichen Gurrlauten. “Máthair!”, sprang da Lionel auch schon auf, umrundete den Tisch und warf sich Cahira entgegen. Der Ausrutscher von vor wenigen Tagen war bereits vergeben und in Lionels Fall vermutlich auch vergessen. “Geht es Athair gut? Hast du mir den Zahn mitgebracht?”, drängte der Kleine mit treuen Blick. Cahira lachte auf und nestelte aus ihrer Tasche einen geblichen, gebogenen Zahn hervor. “Es ist zwar nicht der Zahn, aber ganz gewiss der Zahn eines Schakals. Und Kyron geht es … gut. Er kommt sicher bald wieder nach Hause, nachdem er noch mehr von diesen Viechern niedergestreckt hat.” Sie strubbelte Lionel dabei über das Haar. Das kurze Stocken in ihrem Satz bemerkte der Junge nicht, der seinen neuen Schatz drehte und wendete.

“Ich lege ihn zu meinen anderen Sachen. Darf ich Nora mein Kästchen zeigen, bitte?”, merkte Lionel da plötzlich auf, der alle ihm wichtigen Dinge, ganz wie die Mutter, in einer kleiner Schatulle bei seinem Bett sammelte. “Na, wenn Nora es auch sehen will …”, begann Cahira mit Blick zur Kinderfrau, die selbstverständlich nickte, während sie Brynja den Löffel zu entwenden versuchte, und schon kletterte Lionel die knarzende Leiter zur Schlafkammer hinauf.

Der Blick der Mutter folgte dem Sohn und sie atmete tief ein und aus, während sich ihre Hände zu losen Fäusten schlossen und wieder öffneten.  “Alles in Ordnung, Edle?”, fragte Nora auf dieses Geräusch hin und musterte die noch immer an der Tür Verharrende nun zum ersten Mal eingehender, die Stirn krauste sich dabei merklich. Cahira war eine Mischung aus schlafloser Unruhe, Besorgnis und einem Sammelsurium von nicht zusammengehöriger Lederkluft, welche sie gestern Abend wahllos aus ihrem Schrank gezogen hatte - nachdem Dureth sie, mal wieder, kalt erwischt hatte.

Ihre vorherigen Gespräch waren einem festgelegten Kreislauf gefolgt: Während Kyrthon den besorgten, hilfsbereiten Freund gab, wies Cahira jegliche Behauptung des Mannes als Lüge und weiteres Ränkespiel von sich. Sie schaukelten ihr Wortgefecht eine geraume Weile hoch bis sie sich auf dessen Höhepunkt trennten … und Wochen, manchmal Mondläufe später wieder aufeinander trafen. Doch diesmal hatte seine direkte Art, die Erwähnung ihrer Familie, besonders Lionel, und Aidan - woher wusste er es nur? - sie aufhorchen lassen.

Kyron würde ihr später gepresst zuraunen: “Du weißt, dass er mit dir spielt.” Es war ihr bewusst, aber dieser Mann hatte unbestreitbar gewisse Fähigkeiten. “Noch ehe das Jahr stirbt, wirst du entweder in den Trümmern deiner Familie knien, oder zu mir kommen.”  “Freiwillig?” In Kyrons Stimme war der schiere Unglauben zu hören, als sie ihm davon berichtete und sie konnte nur matt mit der Schulter zucken. Es gab für sie kein vorstellbares Szenario, in welchem sie sich Kyrthon ohne Zwang zuwenden würde.

Sie wollte wissen, was er in der Zukunft gesehen haben mochte, hatte jedoch den Bogen ihrer Scharade bereits überspannt und den Mann vertrieben. Kyrthon war ungehalten gewesen, beleidigt gar. Eine neue Nuance in ihrem Spiel, welche sie ratlos und auch irgendwie getroffen zurück ließ. Vollkommen absurd. Was sollte sie es scheren, was dieser Unmensch von ihr dachte?

Doch er hatte die Saat des Unbehagens in ihr gepflanzt, genährt mit den Worten: "Frage Kyron nach seinen Träumen, wenn dir etwas daran liegt zu erfahren, wie die Zukunft sein wird, wenn Lionel nicht gebändigt wird.” - Kyron, der die letzte Zeit unbestreitbar ihrem gemeinsamen Bett ferngeblieben war und seit drei Tagen ohne Nachricht in Hohenquell weilte. Und so war sie noch am Abend aufgebrochen; vordergründig um an der Front nach dem Rechten und ihrem Ehemann zu sehen, ein paar Aushänge zum anstehenden Markt im Eisenthal anzubringen, im Hinterkopf jedoch die drängend bange Frage:

“Wovon träumst Du, Kyron?”

Die Reaktion ihres Ehemannes war keine andere, als hätte sie ihm direkt unangekündigt mit der Faust ins Gesicht geschlagen: Er war nach hinten getaumelt, hatte sie mit weiten Augen angestarrt und sie konnte sich dieses Gebaren kaum erklären, bis er auf ihren Wunsch den Traum, den er nicht leugnete und der ihn in der Tat nicht zur Ruhe kommen ließ, schilderte. In allen detaillierten Einzelheiten. Am Ende würgte sie bittere Galle hoch und wünschte sich, sie hätte nicht gefragt, wünschte sich, sie könnte das Gehörte einfach wieder vergessen. Es war verrückt und grausam, anzunehmen, sie könnte … nie im Leben …

Doch sie blieb ihm die Antwort auf die Frage, ob sie irgendetwas außergewöhnliches in Lionels Gegenwart bemerkt hatte, mit unschlüssigen Kopfbewegungen und einem tiefen Atemzug schuldig - laut Kyrthon war Aidan genau solche Irregularität, die zeigte, wie gefährlich die ungerichtete, ungeschulte Kraft des Jungen war, dass sie Personen in ihrem Umfeld in Mitleidenschaft geraten ließ. Kyron deutete dies wohl als “Nein” und beruhigte sich daraufhin sichtlich. “Ich bin müde, Cahira. So müde. Ich will mich ihm einfach nur noch ergeben.”, klangen seine Worte in ihren Ohren. Wie konnte sie da ihrem geschundenen Ehemann gestehen, dass sie mit Aidan, dem Hexer, Zwiegespräche führte? Wie konnte sie ihm die Ruhe, welche ihre unbestimmte Antwort vorgaukelte, wieder entreissen?

Cahira zuckte zusammen, der in Gedanken versunkene Blick klärte sich wieder und glitt von Nora zu dem Krapfen, den Lionel angebissen zurückgelassen hatte. Sie seufzte. Eigentlich hätte der Junge es besser wissen müssen, nachdem sie doch regelmäßig in Rabenstein Essen an die Bedürftigen ausgaben. Ganz gleich, was Dureth, Aidan oder sonstwer behaupten würde: Er war eben doch nur ein normaler kleiner Junge, ihr kleiner Junge, der nächsten Wochenlauf sieben Jahre alt werden würde, mit dem Kopf voller kindlichen Flausen wie die Kunststücke seines Hundes oder seiner Schleuder. Sie nickte Nora zu, zwang sich ein beruhigendes Lächeln auf die trockenen Lippen. Die milde Rüge bezüglich des verschmähten Backwerks blieb ihr jedoch im Halse stecken als ....

… eine schlanke Hand nach dem Krapfen angelte und zum lächelnden Mund führte.

Sie starrte dem Mann entgegen, der da recht selbstverständlich auf der Holzbank saß, gerade einen Krümel von seinem Wams drückte und den Finger dann ableckte - die Bewegungen lässig, ohne Hast. Cahiras Blick flirrte von Nora und Brynja zu Aidan, der ihr nun zuzwinkerte. Zitternd deutete sie auf den Platz, wo er saß. “Seht ihr den Mann dort?”, brachte sie rau hinaus, ohne das Augenmerk von der wohlbekannten Gestalt zu lösen. “Mann? Welcher Mann?”, fragte Nora plump, hauptsächlich mit der nun quengelnden Tochter auf ihrem Schoß beschäftigt. Noras Nachfrage beruhigte sie leidlich: Er war nur eine Einbildung, ihren trägen Sinnen, dem leeren Magen und der durchwachten Nacht geschuldet. Sie blinzelte einmal, zweimal ganz fest - und der Mann war fort.

Währenddessen war Lionel mit seiner Schatulle an die Brust gedrückt die Leiter hinunter gekommen und zurück gen Tisch gestromert. “Hrmpf.”, schürzte der Junge die Lippen, während er suchend herum blickte. “Ich dachte, ich hätte noch einen Krapfen gehabt …”
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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