Zwei Leben
#5
Cahira hörte das leise Lied einer Amsel, während sich über dem Harpienpass das erste zögerliche Rot der aufgehenden Sonne zeigte, als sie ihr Pferd die Straße von der Wachstube hinab Richtung Baracke führte. Bald würden die umliegenden Höfe erwachen, die Bauern würde ihre Arbeit aufnehmen, gackernde Hühner füttern oder blökende Kühe melken. Bei der Koppel hinter der Baracke angekommen, nahm sie dem Tier Zaumzeug und Sattel ab, platzierte alles in dem dafür vorgesehenen Schuppen und griff nach einem Striegel, um diesen in kraftvollen Zügen über den Leib des Pferdes zu ziehen. In Zweitrümen gab es keinen Stallmeister, dem man diese Arbeit für ein paar Heller überlassen konnte; jeder Soldat, der ein eigenes Pferd besaß, hatte sich selber um dessen Wohlergehen zu kümmern.

Es tat gut, ihre Gedanken konzentriert auf dieses einzige Tun zu richten. Die Frage, die sich, seitdem sie Kyron wohlbehalten - wenn man diese Umschreibung für ihren verletzten Ehemann denn so nennen konnte; immerhin war die Wunde nicht wieder aufgeplatzt und benommen vom Laudanum war er schließlich eingeschlafen - in einem der Betten beim Heiler verlassen hatte, wie eine lästige Wespe bei einer Kuchentafel einfach nicht vertreiben lassen wollte, wenigstens für diese geraume Weile außer Acht zu lassen. Ignorierte man sie, lief man auch keine Gefahr gestochen zu werden.

Sie hatte die vergangene Nacht im Heilerhaus in Löwenstein verbracht; irgendwer hatte ihr dankeswerter Weise eine Decke über ihre Schultern gelegt, doch es änderte nichts an der Tatsache, dass der harte Boden ihren Leib versteift aufwachen ließ und sie sich mehrmals recken und strecken musste, ehe sie wenigstens wieder einigermaßen Gefühl in ihre Glieder bekam. Ihrem Ehemann ging es den Umständen entsprechend gut und er wachte nur ab und an aus seinem Dämmerschlaf auf. Ob er verstanden hatte, dass sie die Stadt verlassen mussten, sobald er aufstehen konnte, war fraglich. Fraglich war ebenso, wann dieser Zeitpunkt sein würde und wie sie ihn überhaupt den langen Weg bis in die Baronie schaffen sollte - aber darüber wollte sie sich erst Gedanken machen, wenn es wirklich soweit war.

Da sie Kyron in den fähigen Händen der Heiler wusste, kehrte sie alleine nach Zweitürmen zurück, erklärte einem höchst entrüsteten Helva, was passiert war beziehungsweise die Einzelheiten, die sie selber erfahren hatte, und gleichzeitig Grund dafür waren, dass sie nicht wie angekündigt, schnell wieder zurück gekommen war, kümmerte sich um ihren mauligen Sohn, der sich verständlicherweise verlassen gefühlt hatte von Vater, Mutter und Patenonkel - Kordian war höchstwahrscheinlich noch immer bei Anouk in der Hütte, hoffentlich in einem besseren geistigen Zustand als zuvor - und absolvierte pflichtgemäß eine Wachrunde. Dann erst kehrte sie nach Löwenstein zurück. Es dämmerte bereits und die ersten Laternen in den Straßen waren schon entzündet worden. Motten und anderes Getier umschwirrten munter die Lichtkegel, die sich wie warmes Gold auf den Asphalt ergossen.

Bei der Altstadttaverne traf sie auf Arthar und Andra, die ihr Papier und Botschaften mit auf den Weg gaben, die sie an die entsprechenden Personen weiterleiten sollte. Matt schmunzelnd dachte die junge Frau bei sich, dass sie wohl einen ausgezeichneten Laufburschen hätte abgeben können und es gelang ihr, das Geschäft mit Herrn Altwasser abzuschließen. Dass Belphain nicht nur regen Handel betrieb sondern auch Stadtwache war, erschreckte Cahira im ersten Augenblick, doch er erwähnte mit keiner Silbe die ausstehende Bestrafung ihres Ehemannes. Entweder überging er dieses Detail einfach zu Gunsten des Profits oder er hatte die entsprechende Verlautbarung nicht vor Augen oder er nahm vielleicht keine Verbindung zwischen ihnen an - einerlei, während des Gesprächs mit einem Becher Wein entspannte sie sich mehr und mehr, was auch dem gegärten Traubensaft zu Gute kam, und konnte auch ausblenden, dass am Nebentisch ein Rotrock saß, der wiederum mit einem anderen Mann im Gespräch vertieft war.

Dass Herr Caetano sein Amt als Vogt der Stadt aufzugeben gedachte und Ehrwürden Schuhmann zum Führer der Sonnenlegion ernannt worden war, waren zwei überraschende Neuigkeiten an diesem Abend. Die erste erregte bei ihr milde Neugier, weniger verwundertes Unverständnis als bei den anderen späten Gästen der Taverne, die zweite ließ ihr einen unangenehmen Schauer den Rücken hinab gleiten. Ausgerechnet Schuhmann, der Lionel und ihr gedroht und damit gezeigt hatte, das er wohl doch nicht so ein ehrenwerter Mann war, wie sie anfangs geglaubt hatte. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Sie war dem Heilerhaus schon zu lange fern geblieben und zügig richtete sie ihre Schritte durch die ihr bekannten Straßen. Beinahe hätte sie den Mann ignoriert, der da ebenfalls des Weges ging, ratlos mal hier mal dort hin blickend. Aber sie konnte nicht aus ihrer Haut, auch wenn sie so schnell wie möglich zu Kyron zurück wollte, wusste sie um dieses Gefühl des Verlorenseins in der unbekannten Stadt, war sie doch erst vor einigen Wochenläufen in derselben Situation gewesen. Da das Heilerhaus schon in Sichtweite war, sprach sie den Fremden an, ob sie helfen könne. Leider entpuppte sie sich als schlechte Stadtführerin; sie kannte nun zwar einige Wege, aber wenn es darum ging, gezielt nach einer Unterkunft für die Nacht Auskunft zu geben, versagte ihre Ortskenntnis. Gewiss, eine Taverne. Die, die sie kannte und aus der sie gerade gekommen war, hatte bereits ihre Pforten geschlossen. Und in der Herberge von Herrn Ceras waren schon damals alle Zimmer belegt gewesen und sie war recht unsicher, in welcher Richtung die überhaupt lag. Zum Glück kam Avinia daher und sie überließ den Fremden der Schneiderin, die sich glücklichweise weit besser auskannte als sie.

Irgendetwas an dem Mann war … eigenartig. Sie hätte es nicht ganz in Worte fassen können. Es war nicht seine Kleidung, die verständlicherweise von einer langen Reise zerknittert und mitgenommen aussah, es war auch nicht seine Sprache, denn er drückte sich höflich und gewählt, gar freundlich aus. Vielleicht war es das junge Gesicht gepaart mit diesem schlohweißen, langen Haar, welches er sich gerade im Gespräch mit Avinia über die Schulter zurückstreifte. Ganz am Rande ihrer Erinnerung löste diese Geste etwas aus. Doch ehe sie darauf kommen sollte, erscholl unglaublicher Lärm aus dem Heilerhaus, Scheppern, Krachen, ein kurzes, doch hitziges Wortgefecht, aus der sie die Stimme ihres Mannes erkannte.

Sie bog um die Ecke, um ihn in der Tür stehen zu sehen, eine Kiste vor seinen Füßen. “Kyron!”, rief sie etwas lauter als sie sollte, um dann leiser, als sie näher gekommen war anzufügen: “Du solltest dich doch noch ausruhen.” “Wir können flüchten.”, murmelte er ihr zu. Ganz recht war es ihr nicht, denn er sah immer noch sehr bleich und mitgenommen aus und hatte nur einen Umhang über seine Schultern geworfen, aber da er sich nun schon einmal bemüht hatte, aufzustehen und seine in der Truhe aufbewahrte Rüstung und Waffen mitzuschleppen, war nun wohl die Zeit des Aufbruchs gekommen. Ganz Unrecht hatte er nicht; mittlerweile war die Nacht angebrochen und die meisten braven Bürger schliefen wohl schon in ihren Betten. Die Wahrscheinlichkeit auf unliebsame Bekannte zu treffen war gering und im Schutz der Dunkelheit konnten sie wohl allzu neugierigen Blicken einer Stadtwache entgehen.

Sie hievte also die Kiste auf ihre Arme während Kyron ihren Wappenrock packte und sie zockelte los, wieder den Weg zurück, den sie gekommen war. Ihr Ehemann murmelte beständig etwas und schnappte nach seinen Schatten. Dies war etwas Neues für die junge Frau die sich nicht daran erinnern konnte, dass er in der Vergangenheit dermaßen deutliche Selbstgespräche oder verwirrende Gesten gezeigt hatte. Einerseits jedoch hatte er schon so viel Schmerz und Leid in seinem Leben erfahren, dass es eigentlich ein Wunder war, dass er noch nicht vollständig dem Wahn verfallen war, andererseits stand er unter dem Einfluß der Droge, die die Schmerzen der Bauchwunde in Zaum halten und ihn eigentlich zur Ruhe kommen lassen sollte.

Je näher sie der Straßenecke kamen, an welcher der Fremde und Avinia noch immer über einen möglichen Schlafplatz berieten, desto häufiger und hingebungsvoller kratzte sich Kyron die Innenfläche seiner Hand. Die Narbe. Irgendwann ließ er auch den Wappenrock los, nur um sich zu raufen, und der Fremde trat näher.

"Euer Mann... scheint etwas mitgenommen."
“Ach, das sieht nur so aus …”
“Aber er braucht Hilfe!”
“Die bekommt er schon von mir. Ihr lasst Frau Avinia warten, ist das nicht unhöflich?”
“Wie ihr wünscht … Cahira …”

Während dieses Wortwechsels war ihr immer mulmiger zumute geworden und sie hatte das inbrünstige Bedürfnis, Kyron von diesem Mann fernzuhalten und ihn so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Bloß weg von hier, weg von diesem Mann, weg aus der Stadt. Zum Glück wandte der Fremde sich tatsächlich der wartenden Schneiderin zu, Kyron packte wieder ihren Wappenrock und sie lief los. Langsam genug, dass Kyron folgen konnte, schnell genug, um so rasch wie möglich Abstand zwischen sich und dem Fremden zu bringen. Erst am Stall am Stadtrand gestattete sie ihnen beiden eine Pause. Ihre Arme taten von der Last der Kiste weh, ihr Atem ging ruckartig und sie spähte zurück, als fürchte sie, verfolgt zu werden. Eine prickelnde Gänsehaut hatte sich entlang ihrer Wirbesäule manifestiert.

“Was ist denn los?”, murmelte Kyron, der nun zwar etwas klarer schien aber dem diese Hetze durch die Straßen der Stadt nicht gut bekommen war. Er tat ihr so leid, aber es musste sein! Und sie hatten noch einen geraumen Teil des Weges erst vor sich, den er aber auf dem Rücken ihres Pferdes hinter sich bringen konnte und auch die Kiste ließ sich hinten am Sattel befestigen, so dass sie dann hoffentlich schneller voran kommen konnten.
“Ich habe Angst, Kyron.”, gestand sie ihm. Tatsächlich hatte sie das ungute Gefühl schon längst als blanke Furcht indentifzieren können, nur nicht, was oder wer genau solche Beklemmungsgefühle in ihr ausgelöst haben mag. War es tatsächlich der Fremde gewesen? Waren es einfach nur ihre überspannten Nerven und die späte Stunde? War es Kyrons ihr fremd scheinendes Verhalten, sein Herumgefummel an der Narbe, Zeugnis einer Vergangenheit, die sie lieber vergessen wollte? Oder die Sorge, dass ihr Mann die Strecke nicht ohne weiteren Schaden davonzutragen, hinter sich bringen könnte? Die Angst, entdeckt zu werden, von der Stadtwache oder der Sonnenlegion? Vielleicht alles zusammen. Sie konnte erst aufatmen, als sie die Grenzen der Baronie überschritten. Niemand hatte sie aufgehalten oder verfolgt.

Nachdem sie ihr Pferd versorgt und es in die Koppel entlassen hatte, kehrte jedoch auch die lästige Frage zurück und trieb ihren Stachel in ihren übernächtigten Geist.

Woher hatte der Fremde meinen Namen gekannt?
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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Zwei Leben - von Cahira Mendoza - 04.05.2015, 02:24
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