Der Dienst endet mit dem Tod.
#6
Cahira hatte die Nacht nur unruhig geschlafen. Dass Lionel pünktlich wie ein Uhrwerk beinahe noch vor den Vögeln am Bett stand und die Aufmerksamkeit seiner Eltern forderte, machte das Erwachen am Morgen und den Start in den Tag nicht unbedingt erholsamer. Manchmal half es, den Jungen mit unter die warme Decke zu ziehen, dann gab er wenigstens noch einen halben Stundenlauf Ruhe ehe er wieder zu quängeln begann, oder Cahira zog sich einfach die Decke über die Nase in der Hoffnung, dass sich Lionel entweder nach unten trollen und sich mit seinen Holzspielzeugen beschäftigen oder Kyron sich erbarmen und aufstehen würde - doch allzulange hielt Cahira dem morgendlichen Drängen ihres Sohnes nie stand.

Während sie in der Wohnküche den alltäglichen Haferbrei im Topf erhitzte, ließ Lionel sein geschnitztes Pferd auf dem Tisch eine Attacke gegen imaginäre Feinde reiten. Dabei blähte der Knirps die Wangen und prustete eine Angriffsmelodie, welche die junge Mutter spätestens jetzt aus dem Bett geholt hätte.

Der Tag versprach - mal wieder - lang und anstrengend zu werden. Kordian hatte natürlich nicht abgelehnt, als der Ritter von Passwacht ihm eine Aufgabe angedeihen ließ und diesen Nachmittag würden die verfügbaren Kräfte des Regiments ausziehen, um diese Mission hoffentlich erfolgreich zu bewältigen. Cahira hatte eigentlich keinen Zweifel daran - der Hauptmann wusste was er tat und konnte die Fähigkeiten seiner Leute gut einschätzen - aber ein Fünkchen Ungewissheit blieb bei solchen Unternehmungen immer. Bis zum Aufbruch musste sie ihren regulären Dienst versehen, ihre Ausrüstung noch sorgfältiger als sonst überprüfen, nötigenfalls Hand anlegen und die Klinge schärfen oder das Leder geschmeidig fetten, Proviant packen und ihr Pferd, neuerdings auf Arthars Vorschlag hin Kalvas - alt servanoisch für Angsthase oder Hasenfuß - getauft, ebenfalls auf einen langen Ritt vorbereiten.

Helva würde auf den Knirps aufpassen, wobei unsicher war, wann sie wieder zurückehren würden. Bestenfalls noch am selben Abend, schlimmstenfalls erst ein oder zwei Tage später - je nachdem wie erfolgreich das Vorhaben verlaufen sollte. Doch da Heiler und Junge sich prächtig verstanden, wusste Cahira ihren Sohn in den besten Händen; außerdem war Lionel an ein Umfeld in einer Heilerstube gewohnt. Auf Svesur hatten sie beide viel Zeit bei Aidan verbracht … Nein, dies war ein Name, den sie nun nicht in ihren Gedanken gebrauchen konnte. Ebensowenig Kyrthon oder Bernhard Winter, dessen Brief sie ganz unten in die Kleidertruhe gestopft hatte.

Herr Winter hatte sie nach dem Drachentöterfest in Candaria bis vor die Tore Löwensteins begleitet. Sie hatte sich irgendwie heimisch gefühlt in der wilden Landschaft, wurde wie eine alte Freundin von Brannagh begrüßt und beobachtete mit Freude den Schafscherwettbewerb. “Wo hast Du Kyron und Kordian gelassen?”, hatte Bran heiter gefragt. “Irgendjemand muss ja auf Lionel aufpassen.”, hatte sie augenzwinkernd geantwortet. Natürlich entsprach dies zum Teil der Wahrheit, Vater und Sohn verbrachten so viel Zeit wie möglich zusammen und das war auch gut so. Der andere Teil wäre die Erklärung gewesen, dass ihr Ehemann solchen Massenveranstaltungen lieber fernblieb. Kordian hatte es dann wohl doch eher zu Anouk gezogen.

Bernhard hatte auf dem langen Weg Heim von seiner Frau gesprochen, die im Kindbett gestorben war, und dass ausgerechnet sie ihn an seine Jana erinnerte. Cahira hatte den Mann am liebsten gar nicht gehen lassen wollen, fühlte sie sich doch durch ihre Fragerei, die nur freundliches Interesse an dem Unbekannten ausdrücken wollte, verantwortlich für die aufkommende Trauer. Just am Abend zuvor traf sie auf einen Boten, der ihr den Abschiedsbrief von Bernhard überbrachte. Eine Suche nach dem Mann in der Stadt blieb erfolglos - schlußendlich wusste sie auch nicht mehr über ihn als seinen Namen, das traurige Schicksal seiner Frau und dass er Händler in Löwenstein war.

Sie konnte im Grunde genommen nichts für seinen Tod - sollte er die Worte in seinem Brief fürwahr in die Tat umgesetzt haben - noch weniger konnte sie für ihr Aussehen, aber der Schmerz des Mannes um seine verlorene Liebe hatte sie berührt und sie wünschte sich sehnlichst, dass er es sich vielleicht doch noch einmal anders überlegt hatte. Am meisten beschäftigen sie die Worte aus dem Brief, welcher in zittriger Schrift verfasst worden war, dass sie ihn davon überzeugt haben soll, dass sein Leben ohne seine Frau nicht mehr lebenswert ist … Cahira hatte nichts dergleichen angedeutet; ganz im Gegenteil, sie hätte ihm beteuert, dass es immer etwas gibt, wofür sich das Weiterleben lohnen würde. In ihrem Fall war es Lionel gewesen. Am liebsten hätte sie mit jemanden vertrauten darüber gesprochen, doch die Zeiten waren stürmisch so dass ihre Sorgen, noch dazu um einen weitestgehend unbekannten Mann, wohl nur zweitrangig waren.

Nicht nur die Aufgabe am Nachmittag, sondern auch die Aushebung eines Ersatzheeres für den Feldzug gegen Indharim stand bevor. Gerüchte machten schnell die Runde, außerdem hielt sich die junge Frau doch öfter in Löwenstein auf, als ihr lieb gewesen wäre - zum einen ging sie noch immer zu Sievert in die Kampfschule, zum anderen hatte sie Erledigungen für das Regiment zu tätigen. Sie stand als Soldat im Dienste des Regiments, dieses war dem Baron unterstellt und der Baron war ein Vasall des Königs; sie wusste, dass auch Zweitürmen seinen Beitrag leisten und kampffähige Männer und Frauen entsenden musste. Und wer war kampferprobert und erfahrener als die Soldaten unter Hauptmann Kordian?

Nur dumpf malte sich die junge Frau diese nahe Zukunft aus: umgeben von eifrigen Mithrasjüngern auf einem Schiff mehrere Wochen eingepfercht zu sein, um dann in einem unbekannten Land ins Feld zu ziehen, fernab von ihrer jetzigen Heimat Zweitürmen und vor allem getrennt von Sohn und eventuell auch Ehemann, oder wartend und hoffend zurückzubleiben, die Stellung haltend, zu Nichtstun verdammt … Denn es musste wohl eine Auswahl getroffen werden, alle Kräfte wegzuschicken, wäre wohl angesichts der derzeitigen Lage im Flüsterwald und Ravinsthal verrückt.

Aber genauso wie sie die Gedanken an ihren verlogenen Verlobten, Silberzunge oder den Händler verbannte, verbot sie sich nun auch Spekulationen über vermutlich eintretende Begebenheiten. Es führte zu nichts, ließ sie nur ins Grübeln verfallen oder in Panik. Das konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Allzuoft hatte ihr die Vergangenheit gezeigt, dass es doch meist immer anders kam, als man zuvor gedacht hatte. Sie musste frisch und ganz Herr ihrer Sinne sein, damit die bevorstehende Unternehmung erfolgreich verlief und dann erst würden weitere Schritte folgen. Eines nach dem anderen; jetzt gab es ersteinmal Frühstück.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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RE: Der Dienst endet mit dem Tod. - von Cahira Mendoza - 17.06.2015, 15:52



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