(K)eine Liebesgeschichte
#11
Eine Woche war nun vergangen, seitdem sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Das Gesicht, das sie einst so liebevoll hatte anschauen können: zerschunden. Humpelnd, dreckig, der ganze Körper gezeichnet von all der Gewalt, die er heraufbeschworen hatte. Oder sie?

Ihre Eltern hatten sie zu Disziplin erzogen. Die eigenen Gedanken oder Gefühle gehörten nicht in die Welt hinausgeschrien. Man belästigte andere Leute nicht mit seinen eigenen Befindlichkeiten, es war schlichtweg unhöflich. "Lächle Rahel, wenn es dir schlecht geht", hatte sie die Worte der Mutter noch im Ohr und so lächelte sie. Meistens jedenfalls. Und knickste und war höflich, wenn sie ein freundliches Wort hörte, oder zeigte zumindest ihre Dankbarkeit.

War es ein Fehler gewesen, dass sie zu Garion gegangen war? Nein. Er war ein Freund und sie hatte sich mitteilen müssen. Irgendwem mitteilen, denn der Schock über das, was passiert war, war zu groß. Nur der Umstand, dass ihre Offenheit ihm gegenüber gleich größere Kreise gezogen hatte, war ein Fehler. Sie hatte die Umstände nicht beeinflussen können. Grahl war einfach da gewesen und hatte mitbekommen, warum sie dort war.

Sie war nicht von dem Gedanken besessen, sich rächen zu müssen. Wozu auch? Sie hatte bis heute keine Erinnerungen an diesen Abend. Nur die Träume, diese entsetzlichen Alpträume, die sie schon als Kind gehabt hatte, waren wieder da - jede Nacht. Das Gefühl zu Ertrinken. Das Gefühl in eiskaltes Wasser zu tauchen, dass das Herz schon bei der eisigen Umklammerung einige Schläge auszusetzen schien, die Kälte einem die Luft nahm, bis das kühle Nass über dem Kopf zusammen schlug. Das hiflose Gezappel und Gerudere mit beiden Armen, um wieder an die Oberfläche zu kommen und man doch immer tiefer sank. Das Gefühl, dass der Atem immer knapper und das Brennen in der Brust immer größer wurde, bis es in Dunkelheit explodierte. Die Todesangst. All das kam jede Nacht und sie erwachte jedes Mal in Schweiß gebadet.

Aber andere hatten sich in ihrem Namen rächen müssen. Warum nur? War es wirklich geschehen, weil man sie mochte? Oder war es eher aus dem Grunde, weil das vermeintlich Böse, das Animalische in ihm zu stark geworden war? Etwas, das wohl in jedem Menschen schlummerte, wie sie selbst hatte feststellen müssen und das zu bekämpfen eine der herausfordernsten Aufgaben jedes Menschen sein sollte, damit die Ordnung regierte und nicht das Chaos. Weil nur die Ordnung und ihre Einhaltung uns von den Tieren unterschied und das war, was man Zivilisation nannte. Und waren sie damit nicht selbst zu Tieren geworden? Hatten sie damit nicht selbst ihrem animalischen Trieb Raum gegeben? Vielleicht hatte er es sogar verdient, nur sie hegte diese Gedanken an Rache nicht. Ja, sie konnte ihn nicht einmal hassen. Er war so, wie er war.

Was blieb, war Traurigkeit und Leere. Er fehlte ihr, das war eine Tatsache. Aber es war auch eine Tatsache, dass er zu weit gegangen war. Es war eine weitere Tatsache, dass sie Angst vor ihm hatte. Angst davor ihm noch einmal zu verfallen. "Du willst es doch auch." Er kannte sie mittlerweile recht gut, aber sie hatte diesem Impuls, seinen Worten nicht nachgegeben, die Angst war größer gewesen und die Disziplin. Sie hatte ihn weggeschickt und er war gegangen. Es hatte ihn Mühe gekostet, aber er war gegangen. Und ein wenig später hatte sie die Geschichte gefunden, draussen vor ihrer Tür. Sie gefiel ihr und ihr war bewusst, was es ihn gekostet haben musste, das zu schreiben. Er hasste Geschichten. Und er hasste Gedichte und doch hatte er sich in beidem versucht und es war immer gut gewesen. Es rührte sie und vertiefte das Gefühl der Trauer und der Leere.

Mit Gwendolyn hatte sie reden können, jedenfalls für eine Weile, bis das Gespräch auf das kam, was sie wirklich trennte und sie konnte den Vorhang förmlich fallen sehen und danach war nur noch Distanz. Garion war nicht da. Mit Grahl wollte sie nicht reden, nicht nachdem, was sie gesehen hatte im Kerker und danach. Und Viktor? Wie hatte sie so naiv sein können, ihn als Freund zu sehen? Er hatte sie auf offener Strasse, nur aufgrund einer Vermutung, abgekanzelt wie ein kleines Mädchen und sein eiskalter Blick ließ sie noch immer erschauern. Seine Worte waren schlimmer gewesen, als ein Schlag ins Gesicht.

Die Emsigkeit der ersten Tage, der erneute Umzug, die beiden größeren Aufträge hatten sie eine Weile abgelenkt. Sie hatte versucht das Loch, das blieb, damit zu füllen, vergebens. Sie versuchte es mit Beten, aber auch Mithras half ihr scheinbar auf diesem Weg nicht. Und als der Bewahrer den Segen über 'seine Kinder' sprach, fühlte sie es deutlich, dass sie auch hier nicht dazu gehörte. Es war unangemessen gewesen, ihnen in die Burg zu folgen und so hatte sie sich heimlich und leise allein auf den Weg zurück gemacht.

Was blieb war die Leere und die Trauer und so manchen Morgen wäre sie lieber im Bett geblieben, um die Welt dort draussen auszuschließen und sich ihren trüben Gedanken hinzugeben, wäre da nicht die Disziplin gewesen.

"Lächle Rahel, wenn dir schlecht geht."
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(K)eine Liebesgeschichte - von Aki Durán - 04.03.2015, 23:48
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RE: (K)eine Liebesgeschichte - von Aki Durán - 06.03.2015, 10:23
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RE: (K)eine Liebesgeschichte - von Aki Durán - 08.03.2015, 01:45
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RE: (K)eine Liebesgeschichte - von Aki Durán - 08.06.2015, 09:50



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