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Normale Version: (K)eine Liebesgeschichte
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Liebe. Ein Gefühl oder soll ich sagen Zustand, der jeden Menschen auf gewisse Weise beschäftigt. Bisher war sie mir völllig egal. Für mich ist es eher ein Irrglaube oder eine Krankheit mit der ich mich auf keinen Fall anstecken will. Sie verändert das Denken und schwächt Körper und Geist.

Die meistverkauften Geschichten sind Liebesgeschichten. Warum, frag ich mich? Vermutlich weil es eine starke Emotion ist mit vielen Facetten, ähnlich wie Hass. Im Gegensatz zum Hass kommt sie jedoch überraschend und ist so störend und anhänglich wie eine hungrige Zecke. Seien wir ehrlich welche Liebesgeschichte wäre spannend und lesenswert, wenn es nicht um Schmerz und Enttäuschung geht. 'Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende..' setzt vorraus, dass die Protagonisten vorher einen erschwerlichen Weg hinter sich gebracht haben.

In meinen Augen ist diese Emotion nur grausam aber manch einer beschreibt es als einnehmend, überwältigend und wohltuend. Ich habe keinerlei Erfahrung mit dieser anderen Seite der Medaille, aber ich sitze inmitten von einem Haus voller Bücher und vermutlich genauso vieler Liebesgeschichten. Wie bei vielem Anderen ist es nicht verwerflich zu rechachieren.

Aus meinem eigenen Leben kenne ich nur eine sehr einseitige Liebesgeschichte. Die meiner Eltern. Meine Mutter Miriam vergötterte meinen Vater. Weshalb ist mir völlig schleierhaft. Er schlug sie, woraufhin sie auf bedachte Weise die Blutergüsse versteckte. Sie schütze ihn, erfand Lügen, dass sie auf der Treppe gestolpert sei oder sich gestoßen hatte. Ich hegte in meinen jungen Jahren niemals Verdacht und ging davon aus, dass es normal war, wenn sie meinen Vater mit großen, hingebungsvollen Augen ansah und er sie mit Distanz und Desinteresse strafte.
Wie konnte sie ihm in die Augen sehen und darin noch etwas finden, wofür es sich zu kämpfen lohnte? Wie konnte sie seine Hand greifen obwohl sie damit rechnen musste geschlagen oder weggestoßen zu werden?
Ich kann es mir nicht erklären aber gleichzeitig setze ich damit meinen Maßstab. Keiner Beziehung hab ich so lange zugesehen wie der meiner Eltern. Und sogar als mein Vater meine Mutter zum Teufel gejagt hat flehte sie ihn noch auf Knien an. Hat sie es für mich getan? Vielleicht war ihre Liebe zu mir größer als die zu meinem Vater. Wohlmöglich hatte sie Angst er würde mich verderben, dass ich der gleiche Mann werde wie er. Falls das der Fall war, hat sie wohl Recht behalten.
Ich weiß, dass sie liebevoll war, aufopferungsvoll und selbstlos. Es wundert mich nicht mehr, dass ich diese Eigenschaften eingebüßt hab. Mich definieren eher die Charakterzüge meines Vaters. Er war egoistisch, überheblich und leicht reizbar. Um nicht zu vergessen: grausam.

Wo passt da die Liebe hin? Vielleicht die Liebe zum Detail und die Leidenschaft wenns um die Schmiedekunst ging. Jemand sagte mir Liebe und Leidenschaft gehören zusammen. Stimmt das? Vielleicht sah meine Mutter in seiner aufopferungsvollen Schaffkraft etwas liebenswürdiges. Ich hab meinen Vater immer für sein handwerkliches Geschick bewundert und er war mein großes Vorbild. Zumindest bis ich den Hammer an den Nagel hing und meine eigene Leidenschaft damit verlor.

Hier bin ich inmitten von Leidenschaft. Bücher wohin das Auge reicht. Sogar in ihrem persönlichen Stockwerk sind Regale davon. Ich kenne die Papierpreise weswegen der ehemalige Handwerker in mir nur an das Silber denkt, das hier unter gebracht ist. Der Kerl in mir muss sich resignierend eingestehen, dass darin Wissen steckt. Wissen, das Rahel kennt, vielleicht zu schätzen weiß und worauf sie vielleicht zurück greift. Ich hoffe, dass es mir weiter helfen kann sie zu verstehen. Auch wenn ich normalerweise nur Anleitungen lese - beziehungsweise mittlerweile nurnoch überfliege, um den Wert zu schätzen – muss ich mich wohl zwingen einige Bände durch zu arbeiten. Ob es was bringen wird? Vermutlich wird mir übel vom Kitsch.
Ich muss ehrlich sein. Es war schlimmer als angenommen. Nein ehrlich, normalerweise versuche ich mit dem Schlimmsten zu rechnen, dann wird das Resultat weniger ernüchternd, aber das hier..?!
Die Geschichte heißt Jorinde und Joringel – ich kann mir nicht merken wer der Kerl und wer die Frau ist. Vermutlich ist Joringel der Mann und hat einen Ringelschwanz, warum sollte er sonst so heißen? Da ich auf den Buchrücken starren muss, um mich an die Namen zu erinnern geb ich ihnen realistische Namen, wie Rahel und Aki.

Die Geschichte – Rahel beschreibt sie in ihrem Aushang als 'romantische Erzählung' – beginnt mit einem typischen 'Es war einmal...' und endet mit '... und lebten lange vergnügt zusammen.' Wie kann diese Frau so etwas lesen und nachts an einen wie mich denken? Ich glaube ich hab es mit einem wahrhaftigen Märchen zu tun, also eine Geschichte der Sorte, die kleine Mädchen von ihren Vätern vorgelesen bekommen und dann mit 'Lies nochmal vor Papa, biiiiiitte!' quittiert werden. Was tut man als Vater von einer kleinen Prinzessin? Man schließt das Buch, um es vorne wieder zu öffnen und liest es nochmals vor.

Kommen wir zum Kern der Sache. Es geht um eine böse Hexe, die Jungfrauen sammelt. Sie ist Erzzauberin, sogar in Märchen gibt es eine Lisbeth Winkel. Wenn jemand ihrem Schloss zu nahe kommt erstarrt derjenige und kann sich erst wieder bewegen, wenn Lisbeth ihn los sagt. Außgenommen Jungfrauen, die werden zu Vögeln und gesammelt.
Natürlich war Jorinde also Rahel die schönste Jungfrau von allen und bereits in den festen Händen ihres Aki's. Trotzdem, obwohl sie es sich hundertmal vorhalten und wissen wie gefährlich das Schloss ist, kommen sie so nah, das Rahel ein Vögelchen wird und Aki sich nichtmehr bewegen kann. Sie wird zu einer Nachtigall und von der bösen Lisbeth eingesperrt. Als die Hexe den traurigen und verzweifelten Junge von seiner Schmach befreit fleht der auf Knien um seine Angetraute.
Warum hat er die Alte nicht einfach grün und blau geprügelt und sein Mädchen mit nach Hause genommen? Nun es ist ein Märchen, es braucht eine wahnsinnig romantische Wendung.
Aki geht also nach Hause, quält sich in Sehnsucht an Rahel durch seine Tage und träumt schließlich von der Lösung des Problems. Er sieht eine magische rote Rose, die den Zauber rund um das Schloss brechen kann und seine Nachtigall zurück verwandelt. Er sucht also nach dieser Blume und da es eine Geschichte ist findet er eben jene. Rot und wunderschön. Wie erwartet öffnet ihm die Rose alle Türen und er gelangt zur Hexe, die sich mit seiner Nachtigall aus dem Staub machen will. Mit der Macht der Rose kann er nicht nur seine Jorinde sondern auch all die anderen gefangenen Jungfrauen (glücklicher Mann, im Buch waren es siebentausend) zurück in ihre menschliche Gestalt verwandeln.

Ich versteh es nicht. Wo ist die Lehre dahinter? Jorinde ist die Schönste unter all den anderen Mädchen, natürlich weil es die Seine ist. Er lässt sich von Sehnsucht leiten und konzentriert sein ganzes Sein darauf sie zu finden und zu befreien. Aufopferungsvoll stellt er sich den Gefahren und nicht mal die siebentausend anderen Jungfrauen können ihre Liebe stören.
Warum muss immer erst alles in die Brüche gehen und man einen Verlust erleiden, bevor man begreift was der Andere für einen bedeutet? Geht es um Verzweiflung oder Unvollständigkeit?

Vielleicht ist es auch eher bildlich gemeint, der Liebende wird starr und funktionsunfähig ohne seine Geliebte und findet das Symbol seiner Liebe in der Rose. Scheinbar ist es eine typische Symbolik, Rahel hat einen anderen Schmöker namens 'Die Rose'.
Die alte, einsame und grausame Hexe wird also von der Liebe überwältigt. Einer alles verzehrenden Liebe. Das ist schön und gut, aber es bringt mich keinen Schritt weiter an die eigentliche Bedeutung des Wortes.
Je länger ich darüber nachdenke desto eher seh ich eine sexuelle Interpretation der Geschichte. Die beiden gehen alleine in den Wald und vielleicht wäre ja etwas gelaufen, wenn die alte, neidische Hexe Jorinde nicht eingesperrt und ihren Kerl mit ihrem Zauber gefesselt hätte? Vielleicht ist es eine Art abstraktes Zöllibat, wenn auch nur kurzzeitig. Und die Rose (im Märchen mit einem Tautropfen versehen, der als Perle beschrieben wird – klingt eindeutig sexuell) ist ein Zeichen für die Befreiung.
Dann gibt auch das Ende '.. und sie lebten lange vergnügt zusammen.' einen ganz anderen Sinn. Ich muss zugeben, das geht eher in Richtung 'Liebe machen', wobei das auch so eine Wortnutzung ist die irreführend ist.
Was ich daraus aber wieder einmal lerne ist, dass Rahel genau die Frau ist die ich sehe. Auf ihrem Einband steht 'romantische Geschichte' aber wenn man zwischen den Zeilen liest sind ihre Gedanken ganz andere.
Anscheinend beschäftige ich mich etwas zu offensichtlich mit dem Thema. Ich kam mit Rahel ins Gespräch was Märchen angeht und wenn sie so redet wirkt meine Sicht fast schon festgefahren. Noch ist es mir ein Rätsel wie ich ihr entgegen kommen kann, aber sie hat mich auf ein weiteres Märchen gebracht, das auf den ersten Blick wie die Faust aufs Auge passt: Die Schöne und das Biest.

Ich kenne das Märchen flüchtig, aber ich musste mich erst schlau machen, um die Zusammenhänge aufzugreifen. Die Geschichte beginnt damit, dass ein reicher Kaufmann all seinen Besitz verliert und seitdem recht bescheiden mit seinen Kindern lebt. Sein Reichtum wurde bei einem Sturm zerstört, doch Wochen später hört er davon, dass eines seiner Schiffe noch intakt sei und er macht sich auf zum Hafen. Er macht sich also auf dden Weg und erkundigt sich bei seinen Töchtern, was er ihnen von der Reise mitbringen soll. Bis auf die schöne 'Belle' begehren die Mädchen Schmuck und edle Kleider, sie jedoch möchte eine Rose.
Der Kaufmann muss aber feststellen, dass am Hafen nichts auf ihn wartet. Auf dem Rückweg verläuft er sich und entdeckt ein menschenleeres Schloss, das jedoch eine gedeckte Tafel für ihn bereit hält. Er verbringt die Nacht dort und pflückt am nächsten Tag im Rosengarten eine Blume für seine Tochter Belle. Der Bewohner des Hauses zeigt und das angsteinflößende Biest fordert einen Tribut für die Rose, die sein wertvollster Besitz ist. Dennoch lässt es dem Kaufmann sein Leben, fordert aber dafür eine seiner Töchter ein. Als der Vater zurück kehrt ist es Belle, die sich dazu bereit erklärt. In gewisser Weise war ihr Wunsch ja der Ausschlag für die Situation.

Belle reist in das Schloss und bleibt mehrere Monate. Das Biest begegnet ihr freundlich, großzügig und sie lernt seine Gesellschaft zu schätzen. Als die Schöne Heimweh bekommt gewährt ihr das Biest einen einwöchigen Besuch bei ihrer Familie. Es gibt ihr einen Spiegel, der sie zum Schloss sehen lässt und einen Ring, der sie in Windeseile zurück bringen würde.
Zuhause sind die Schwestern eifersüchtig auf Belle, der es beim wohlhabenden Biest prächtig ergeht. Unter dem Vorwand falscher Liebe erbitten sie, dass Belle länger bleibt. Die gutmütige Schöne lässt sich erweichen, aber sieht wegen der aufsteigenden Schuldgefühle in den Spiegel. Sie sieht das Biest, wie es vor Trauer zerrissen im Rosengarten liegt, da die Schöne ihr Versprechen gebrochen hat rechtzeitig zurück zu kommen.
Sie benutzt den Ring um zurück zu kehren und findet das Biest fast tot. Belle weint um es und gesteht ihm ihre Liebe. Ihre aufrichtigen Tränen brechen den Fluch, der auf dem Biest lastet und verwandeln es zurück in seine menschliche Gestalt. Der schöne Prinz wurde von einer Zauberin belegt und nur wahre Liebe konnte den Fluch brechen. Natürlich heiraten die zwei und leben glücklich bis an ihr Lebensende.

Im Gegensatz zur Jorinde und Joringel ist dieses Märchen viel verständlicher für mich. Schrecklich geschrieben – Rahel nennt es wunder-wunderschön – sind die Geschichten meistens aber der Sinn in dieser ist schlüssiger. Ich muss zugeben, dass Rahel Recht hat. Bei uns Beiden war es nicht viel anders. Wenn sie nach dem Hörensagen gegangen wäre oder nach Äußerlichkeiten, dann hätt ich nicht ein Gespräch mit ihr führen können. Nur mangelt es bei mir blöderweise an einem Fluch, der mich eines Tages in einen passablen Kerl verwandelt.
Was ich Bestens kenne ist die Verzweiflung, die das Biest gespürt hat als seine Schöne weg war. Wenn ich Rahel's Haus verlasse will ich am Liebsten direkt wieder umdrehen. Natürlich ist das ein Zeichen von Sehnsucht, aber mein Kopf verschleiert es als Verlust von Kontrolle und Fürsorge. Ich befürchte, dass ihr in meiner Abwesenheit etwas passiert, dass ich verhindern könnte.
Vielleicht hat sie wirklich Recht und sie ist mein Anker. Anstatt den einfachen Weg zu nehmen und meiner Zerstörungswut nachzugehen ruf ich sie zu mir und sie muss nichtmal ein Wort sagen, um mich zu beruhigen. Mein Mangel an Selbstbeherrschung ist wohl mein Fluch. Wenn sie ihn aufheben kann bedeutet es eigentlich, dass sie zu mir durch dringt. Nur ist das was hinter der Fassade steckt genauso hässlich wie das, was ich nach außen zeige?

Die Geschichte lässt mich nicht los. Ich hab die halbe Nacht darüber sinniert, während ich neben -meiner- Schönen lag und sie beobachtete. Wie auch zuvor und vermutlich noch weitere Male spielt die Rose eine symbolische Rolle. Sie ist der Auslöser der ganzen Geschichte, zeigt aber sogleich auch Belle's Charakter auf. Am Schluss ist es eine Art Ermahnung, vielleicht auch Erinnerung.

Die Essenz der Geschichte ist, dass Belle mit Ehrlichkeit, Vertrauen und Einfühlungsvermögen bis ins Innere sehen kann. Es ist diese typische Entwicklung, an die keiner mehr glauben will, obwohl es sich jeder wünscht. So akzeptiert und geliebt zu werden wie man eben ist. Aber ich bin nicht besser. Ich denke ich hab die Fähigkeit verloren überhaupt daran zu glauben. Wenn man nicht daran glaubt das Ende eines steinigen Pfades erreichen zu können, dann kann man sich den Weg auch gleich sparen.

Dennoch macht es mich unsicher, lässt mich Dinge hinterfragen, die mir bisher egal waren. Das Einzige worüber ich Gewissheit hab ist, dass es mich zerstören wird, wenn ich sie verliere. Wie ist es möglich, dass ich mein ganzes Leben in Einsamkeit verbracht hab und nie eine feste Beziehung anstreben wollte und jetzt so denke? Gut ich hab auch Somberlie ausgelacht, als sie Priesterin werden wollte und jetzt bin ich selbst Teil der Kirche, aber das ist wieder eine andere Geschichte. Vermutlich hatte bisher keine Frau den Mut und es braucht erst eine brave, bodenständige Buchbinderin, die bereit ist ein Wagnis einzugehen. Übrigens ist sie werde brav noch unsicher. Man sollte sich nicht nur von dem Äußerlichen beeinflussen lassen.

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Rahel Goldblatt

Sie hämmerte sich die Fingerknöchel gegen die Schläfen. Es waren keine festen Schläge, es war eher so, als wolle sie dort etwas unliebsames ver- oder etwas anderes hineintreiben. Endlich ließ sie die Hände wieder sinken und betrachtete ihr Antlitz im Spiegel. Sie sah blass aus und müde. Wirklich keine Schönheit, nein. Der Griff zur Bürste kam automatisch und in Gedanken versunken, begann sie ihr Haar zu bürsten, so wie sie es jeden Tag morgens und meist auch noch einmal abends machte. Wenn es schon nicht blond war, so sollte es dennoch glänzen und sie mochte das Gefühl, wenn sich die Wellen über ihrem Rücken ausbreiteten.

"Warum nur?" dachte sie. "Warum nur habe ich wirklich alles falsch gemacht, was ein Mensch falsch machen konnte?"

Sie hatte anfangs nicht gewusst, auf was sie sich einließ, auch wenn sie ahnte, dass es nicht leicht werden würde. Alles war so komplett anders, als sie es kannte. All diese sinnlose Wut, dieser Drang nach Zerstörung und dann wieder die pure Leidenschaft. Aber hatte sie sich nicht genau das gewünscht? Leidenschaft? Animalisch und pur seinen Trieben nachgeben, das Dunkle der Seele an die Oberfläche kommen, sich treiben lassen ...

Und doch, war es so grauenhaft anstrengend, mit diesem Mann. Ein einzelnes Wort, wenn es das falsche war, konnte ihn zum Berserker mutieren lassen; eine einzelne, unbedachte Geste konnte ihn zu einem Eisberg erstarren lassen, der mit kühlen Augen bis auf den Grund ihres Seins zu blicken schien.

Und war es nicht gerade diese Herausforderung gewesen, die sie immer weiter hatte gehen lassen? Bis aus dieser Herausforderung etwas anderes entstanden war ...

Und diese Worte, dieser Satz, diese Gefühle hatten alles zerstört, was sie bis dahin sicher geglaubt hatte. Dabei war ihr klar, dass sie viel mehr Möglichkeiten besaß, als er. Und doch war sie unvorsichtig geworden, hatte sich gehen lassen, hatte das gesagt, was sie niemals hätte sagen dürfen und so zog ein Wort das nächste nach sich.

Als der Strom ihrer Gedanken an diesem Punkt angekommen war, hielt die Bürste inne und sank in ihrer Hand auf den Oberschenkel.

Was war nun zu tun? Wie könnte sie das retten, was ihr mittlerweile so wichtig geworden war? Sie erinnerte sich an die Worte ihres Vaters: "Wenn du einen Fehler gemacht hast, dann erkenne ihn. Gehe zurück und beginne von vorn. Und beim zweiten Mal wirst du diesen Fehler nicht noch einmal machen." Nicht immer bekam man die Chance aus seinen Fehlern zu lernen, manchmal war es auch einfach zu spät.

Aber dies Risiko musste sie eingehen. Sie erhob sich, wusch sich und kleidete sich an. Sie wählte die Arbeitskleidung, die sie trug, wenn sie draussen nach Kräutern suchter. Erst einmal musste sie raus, an die frische Luft, durchatmen. Dann würde sie die nächsten Schritte sehr genau überlegen müssen und sie betete stumm zu Mithras, dass sie nicht noch einen weiteren, größeren Fehler begehen würde.
Sie hat eine Mauer errichtet. Nicht nur bildlich indem sie die Schlösser zu ihrem Haus ausgetauscht hat sondern auch emotional. Anstatt sich ihren Gefühlen zu stellen zieht sie den Kopf ein und rudert zurück. Ich bin wahnsinnig wütend aber gleichzeitig auch unwissend, was diese Reaktion wirklich ausgelöst hat.
Aber von vorne. Rahel sagte die drei 'magischen' Worte. Direkt, aufrichtig und irgendwie einfach.
Wir wollten aufbrechen und sie hält mich mit ihren Worten kurz zurück und sagt es. Vermutlich weil es sich in dem Moment richtig angefühlt hat. Das Problem daran ist, ich bin nicht annähernd so weit. Weder versteh ich den Auslöser noch die Überstürzung des Ganzen, immerhin kennen wir uns erst wenige Wochen. Ganz zu schweigen davon, dass ich ratlos bin wie ich darauf reagieren soll. Anscheinend nicht so wie ich es getan hab. Sie hat geweint und ich kann es nicht ertragen wenn sie weint also bin ich gegangen und hab ihr etwas Zeit gegeben. Ich frage mich nur ob nicht ich etwas Zeit gebraucht hab und sie dafür Nähe. Auf jeden Fall hab ich jetzt einen Scherbenhaufen und das kurz bevor ich das Gefühl hab hinter die ganze Sache zu kommen.

Immerhin hab ich das Buch 'Die Nachtigall und die Rose' gelesen, bevor sie mich von meiner Recherche ausgeschlossen hat. Das Buch wirkt abgenutzt, viel gelesen und ist demnach ihr Lieblingsbuch. Sie riet mir es zu lesen und beschrieb es als 'wunder-wunderschön'. Natürlich hätte ich nicht zugegeben, dass ich das Buch schon längst gelesen hab. Für mich ist das aber erdenklich schwere Kost, weswegen die Interpretation alles andere als leicht fällt.
Zumindest – ich hatte nichts anderes erwartet – haben wir wieder die übliche Symbolik. Eine Rose und eine Nachtigall. Der Vogel steht ebenso wie die Rose für Liebe aber auch Klage, Sehnsucht und Melancholie. Sie ist eine Nachtsängerin, die mit ihrem süßlichen Gesang die Dunkelheit vertreiben will.

Die Geschichte handelt um einen liebeskranken Studenten, der um die Aufmerksamkeit eines Mädchens buhlt. Sie sagte ihm, wenn er eine rote Rose bringt tanzt sie mit ihm. Doch mangelt es dem Jungen daran. Eine Nachtigall hört das Klagen und will dem Jungen helfen, denn er ist so aufrichtig und ehrlich verliebt wie einer der Liebhaber aus ihren Liedern.
Der Student sehnt sich danach seine Geliebte auf dem kommenden Ball für sich zu gewinnen, aber ohne die Rose befürchtet er, dass sie ihn nicht beachtet und ihm damit das Herz bricht.
So macht sich die Nachtigall auf den Weg, um dem bekümmerten Studenten zu helfen. Nach langem Suchen besucht die Nachtigall den Strauch unter dem Fenster des Studenten. Jener beklagt, dass der Winter seine Rosen gestohlen hat und der Frost die Knospen zerstört hat. Die Nachtigall gab nicht nach und nicht einmal die Antwort lies sie davon abbringen.
"Wenn du eine rote Rose haben willst", sagte der Baum," dann mußt du sie beim Mondlicht aus Liedern machen und sie färben mit deinem eigenen Herzblut. Du mußt für mich singen und deine Brust an einen Dorn pressen. Die ganze Nacht mußt du singen, und der Dorn muß dein Herz durchbohren, und dein Lebensblut muß in meine Adern fließen und mein werden."
Der Preis für die Rose und damit die Liebe des Studenten bedeutete also den Tod der Nachtigall.

Als der Mond aufging flatterte die Nachtigall zum Strauch und presste einen Dorn in die Brust und sang die süßesten Töne, bis ihr Lebenssaft floss. Eine Rose wuchs, jedoch war diese noch blass. Der Strauch sagte ihr sie müsste fester drücken und so tat sie es. Sie sang vom Erwachen der Leidenschaft und die Rose färbte sich zart rot. Doch das 'Herz' der Rose war noch blass, weswegen sie den Dorn bis ins eigene Herz drückte. Der Schmerz wird als bitter beschrieben und ihr Lied wird wilder. Sie singt von einer aufrichtigen Liebe, die sogar den Tod überdauert. Die Nachtigall starb mit einem Schluchzen, das die Rose erzittern lies.

Trotz Rose endet die Geschichte damit, dass der Student von seiner Geliebten verschmäht wird, denn ein anderer Mann hat ihr Juwelen geschenkt, die in ihren Augen viel mehr wert sind als die Rose. "Wie dumm ist doch die Liebe", sagte sich der Student, als er fortging, "sie ist nicht halb so nützlich wie die Logik, denn sie beweist gar nichts und spricht einem immer von Dingen, die nicht geschehen werden, und läßt einen Dinge glauben, die nicht wahr sind."

Fern jeder Logik. Wie zutreffend das doch war, wenn es um seinen derzeitigen Zustand geht. Langsam glüht sein Kopf und er ist es leid über das Thema nach zu denken. Immerhin ist es auch nicht mehr relevant oder doch?
Komischerweise wird sein Zustand jeden Moment, den er darüber nachdenkt logischer und verständlicher. Seit er gegangen ist, weil er ihr Heulen nichtmehr ertragen konnte fühlt er sich kränklich. Aber er kennt seinen Körper zu gut und weiß, dass die Sympthome nichts mit einer Erkältung oder ähnlichem zu tun haben. Das Stechen in seiner Brust und die ungewohnte Übelkeit sind weder Krankheit noch Verlustängsten zu verschulden, sondern Sehnsucht. Er empfindet solchen Schmerz, als würde ein Bolzen in seinem Torso stecken. Das unwohle Gefühl im Bauch beduetet viel eher, dass er sich sorgt und ihm bewusst wird, dass er für ihr Leid verantwortlich ist. Vermutlich ist es ein Anflug von Reue und Schuldgefühlen, etwas das er sehr lange nicht mehr zugelassen hat.
Es bedeutet Schwäche und er hat mit seinem Verstand versucht dieses Zustand zu verhindern. Nun hat es dazu geführt, dass er untätig in der angemieteten Kammer in der Taverne hockt, die Fenster verhangen, die Türe verbarrikadiert. Sein Körper streikt und gaukelt ihm Mangelerscheinungen vor. Er möchte sich nicht bewegen und kann es auch nicht. Egal womit er seine Gedanken umzulenken versucht, sie schweifen immer wieder zurück. Sein Kopf formt unlogische Gedanken, ersehnt sich die buntesten Träume, als hätte er über den Durst getrunken. Tatsächlich ist das Gefühl mit Trunkenheit vergleichbar.

Vielleicht ist eben dieser Schmerz die Lösung des Rätsels. Er würde für sie leiden und sterben, sie mit seinem Leben beschützen, um sie vor allem Schlechten zu bewahren. Bisher hat er sich eingeredet, dass er 'das Schlechte' in ihrem Leben ist, aber wie kann das sein wenn sie zusammen geführt wurden? Viel eher tut er ihr Schlechtes mit seinem Verhalten. Wie kindisch ist die Erwartung, dass sie ihn leitet und lehrt, wenn sie doch selbst überfordert ist?
Um weiter zu kommen muss er das Vertrauen stärken anstatt es zu zerstören. Zulassen ist das Zauberwort. Und wohlmöglich nicht immer alles tot reden. Wenn sie es wirklich will, muss er sie deuten lernen. Er versteht sie doch auch auf die leidenschaftliche Art und Weise, wenn er sie verführt, warum dann nicht auch emotional?
Wo liegt der Unterschied? Vermutlich da, dass sie die Frau mit der Schaufel ist, die in der Erde gräbt. Dort liegt ein zaghaft pochender Fleischklumpen, der sein Herz darstellt. Warum ist die Angst so groß, sie könnte zu harsch zustechen, wenn die Befürchtung wieder eingegraben zu werden genauso schwer wiegt?

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Am Ende war es doch so trivial und einfach. Liebe ist Schmerz und Schwäche.
Es ist so wie er es in Erinnerung hatte und wenn er ein gesundes Gewissen hätte, würde es ihm wohl sagen 'Ich hab dich gewarnt'.

Rahel's Reaktion war wie ein plötzlicher Regenguss im Sommer, der einen bis auf die Knochen durch nässt. Er weiß nicht warum oder wieso, aber sie hat es schlicht und ergreifend beendet. Und das mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass er sich fragt, ob er überhaupt noch etwas an der Entscheidung hätte ändern können.
Was bleibt ist Resignation. Im Grunde hatte er jeden Tag damit gerechnet. Er ist kein Mann, der eine Frau wie sie halten kann. Aber die Bereitschaft zum Versuchen war da gewesen und das was sich zwischen ihnen Beiden entwickelt hat war ehrlich.
Auf Resignation folgt Schuldzuweisung, die in seiner Welt wie von selbst zu Wut führt. Die vertreibt er am effektivsten mit animalischer Gewalt, weswegen er regelrecht fluchtartig die Neustadt verlassen hatte, um in die nächstbeste Höhle zu gelangen. Das ist es was er jetzt braucht. Stickige Luft, Blut und Schmerz, um den emotionalen Schmerz mit körperlichem zu übertönen oder zumindest kombinieren. In der stetigen Dunkelheit des Stollens gibt es keine Zeit und keine Pflichten, nur das Töten. Auf Anzeichen von Erschöpfung oder Schwäche folgt Schmerz. Ein klares, ungeschriebenes Gesetz nach dem er funktionieren kann.

Während der Jagd hat er die Zeit vergessen und als er wieder an die frische Luft gelangt und dem Schwefelgestank entkommt, spitzt bereits die Sonne über den Berg. Er sinkt auf den Baumstamm und wagt es erst jetzt auf seinen Körper zu hören, als der Großteil seiner Kraft heraus gesogen wurde. Jeder einzelne Muskel brennt dank der langen Verausgabung. Hier und da spürt er Schnitte und blutige Kratzer, die das Gambeson mit etwas Lebenssaft tränken. Die Rüstung hat das gröbsten Verletzungen fern gehalten, weswegen sie blutverschmiert ist. Er stinkt vermutlich nach Schweiß und Dreck, auch wenn ihm das im Moment recht einerlei ist.
Aber dieses Zusammenspiel aus Erschöpfung und Schmerz betäubt seine Wut und lässt ihn zugleich Lebendigkeit fühlen. Er genießt diesen Moment Ruhe, als sich das Hämmern seines Herzschlags beruhigt und das Zucken in den Fingern nachlässt. Für einen Augenblick hat er die Kraft den Gedanken an Rahel weit weg zu drängen. Sie wird dich nicht vermissen. Weil du sie wie Dreck behandelt hast. Aber immerhin hast du ihr nichts zum Abschied hinterlassen. Ausnahmsweise keine würdelose Botschaft.
Verbissen klammert er sich an den Gedanken, dass Distanz die richtige Medizin ist. Abgesehen davon gibt es keine Alternative. Seine Selbstbeherrschung ist dahin. Wenn er sie Lächeln sieht oder ihr Lachen hört würde er die Kontrolle verlieren. Ihm ist bewusst, dass sie einen anderen Kerl finden wird, aber solange er es nicht mit an sehen muss kann er es ignorieren. Er weiß viel zu gut was sonst passiert.

Um die Ruhe aufrecht zu erhalten, die er im Moment verspürt klimpert er den Berg hinab in Richtung Flusslauf. Einige Schritte von der Straße entfernt löst er die Schnallen und Riemen und schält sich aus dem Metall. Auch wenn die Sonne langsam den Frühling einleitet ist das Wasser noch immer eiskalt. Seine Haut scheint sich zusammen zu ziehen und bildet spürbare Gänsehaut. Das Gefühl des eisigen Wassers dominiert sein Denken und er wünscht sich diesen Zustand erhalten zu können. Nach einem kurzen Untertauchen steigt er wieder aus dem Wasser, wirft sich ein wärmendes Fell über und schürt ein Feuer gegen die Kälte.
Langsam nimmt die Last auf seinen Schultern ab. Rahel hatte so viele Erwartungen an ihn. Bis zu einem gewissen Grad war es in Ordnung, dass sie ihn zu zähmen versucht und Bedingungen an ihre Beziehung stellt, aber er lässt sich nicht in einen Käfig sperren. Vielleicht braucht er die Freiheit mehr, als er zugeben will. Streitereien und Diskussionen erscheinen ihm sinnlos. Irgendwo ist es nur Zeitverschwendung und sie führten nie zu einem Ergebnis mit dem beide Seiten einverstanden waren.
War es das alles wert? Er hat sich an ihre Nähe gewöhnt, die Berührungen und ihren Geruch. Dadurch, dass sie ihn gestern weggeschickt hat wurde wieder diese unsichtbare Mauer hoch gezogen und er fragt sich, ob er sie jemals wieder zerschlagen will. Es ist gefährlich sich an Menschen zu gewöhnen, weil man sie mit einem Fingerschnippen einfach verlieren kann.
Rahel ist fort und es ist als hätte sie ihm einen Dolch in die Brust gerammt. Touché
Er erwacht recht plötzlich, als hätte es irgendwo ein Geräusch gegeben wegen dem er zusammen gezuckt ist. Bereits nach dem Hochschrecken begrüßt ihn sein Kopf mit heftigem Hämmern. Mit einem bemühten, rasselnden Atemzug unterdrückt er den Drang sich zu übergeben – mal wieder. Sein Arm schmerzt immernoch, aber etwas Erleichterung macht sich breit, als er die Finger bewegen kann.

Immerhin erwacht sein unfreiwilliger Wächter nicht von Aki's Bewegungen. Marek hockt auf dem Stuhl dicht neben seinem Krankenbett, die grüne Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Nimmt er die überhaupt noch ab? Die Arme sind leicht verschränkt und er scheint trotz Lederrüstung und Bewaffnung seelenruhig im Sitzen zu schlafen. Aki wiedersteht dem Drang die Kapuze zurück zu streifen, immerhin müsste er sich dafür umdrehen und das würde Marek aufwecken. Der Junge hatte etwas Schlaf verdient nach der Nacht. In gewisser Weise ist es auch nicht nötig die Kapuze zurück zu werfen. Er kann die Gesichtszüge ohne Vorlage abzeichnen von den verbissenen Wangenknochen bis zu den tiefgrünen Augen. Niemand würde abstreiten, dass das Grünhäubchen ein wirklich schöner Kerl ist. Ganz abgesehen von der charmanten Art. Aki würde töten, um nur einen Funken von Marek's Geschick zu erlangen. Ganz gleich ob für Worte, Bewegungen oder im Kampf.
Scheißkerl, er wollte ihn hassen aber das konnte er nicht mehr. Marek hat ihn zweimal in kurzen Abständen verraten und dann zweimal gerettet. Vermutlich sind sie damit quit. Abgesehen davon könnte er seinem Freund niemals ernsthaft verletzten, dafür rennen sie schon zu lange gemeinsam in eine Richtung. Zwar die falsche, aber wen interessiert das?

Aki erinnert sich an die Nacht, als wäre es ein Tagtraum gewesen. Langsam fallen ihm auch die Worte wieder ein und er besinnt sich der Verzweiflung, die darin mitschwang. Oder war es Sturheit? Vermutlich von Beidem etwas. Verdammtes Arschloch. Atme schon, du Scheißkerl. Sonderlich charmant war das ja nicht, vor allem in der Kombination aus heftigen Pumpbewegungen auf seinem Brustkorb. Man sieht es dem jungen Mann nicht an, aber er hat Kraft. Genug, um in einem verzweifelten Moment seinen Rippen zu zeigen, was gerade wichtiger ist.
Aki bewegt sich etwas auf dem Bett und schnauft auf. Guten Morgen, Rippen. Seltsamerweise ist die Fehlstellung oder der angehende Bruch – so genau will er es gar nicht wissen – wie Balsam. Sein Herzschlag beruhigt sich unter dem pieksenden Schmerz und er atmet langsamer aus. Sein Verstand funktioniert wieder normal und nicht mehr auf dem hitzigen Schnelllauf, den das Fieber ausgelöst hat. Schütteltfrost und Fieber, das hatte er das letzte Mal als kleiner Junge. Wenn überhaupt. Dein Körper verhöhnt dich.

Zum Glück war Rahel nicht da und weigert sich das Heilerhaus zu betreten. Scheinbar hat sie wirkliche Wut auf Eirene oder ihn, vielleicht auch auf Beide. Es wär sicher nicht angenehm gewesen, wenn mitten im Gespräch sein Herz keine Lust mehr gehabt hätte. Dann lieber Marek, auch wenn er ihm jetzt etwas schuldet. Das Gefühl war befremdlich und zugleich angenehm. Wie die Wärme eines Kamins in nächster Nähe, wenn man gerade durchgefroren ist. So greifbar und einfach, man musste nur einen Schritt in die richtige Richtung machen.

Seitdem ist alles viel klarer und intensiver. Was wären seine letzten Worte an Rahel gewesen? »Nein .. verdammt?« nachdem sie vor ihm geflohen ist. Zuvor die Behauptung er hätte ihr wieder einmal bewiesen, dass sie unfähig ist und nur zum ficken gut.
Wieder einmal? Anscheinend hat sie öffters dieses Gefühl. Warum sonst die Wortwahl? Und er hätte das einfach so stehen gelassen, woraufhin seine dramatische Rahel ihr ganzes Leben davon gezehrt hätte. Vermutlich bis sie einen Anderen findet und ihn vergisst. Aki kann es sich bildlich vorstellen wie sie in einem schlichten, schwarzen Kleid – in dem sie dennoch verdammt schön aussehen würde – auf seiner Beerdigung sagt 'Ich hab ihn geliebt und er fickte mich sehr gern.' Ende der Geschichte.

Erst die wundersame Wiedervereinigung und dann das. Benutz einmal deinen verdammten Verstand! Es war so einfach, so lächerlich einfach. Sie war zu ihm zurück gekommen, demütig und bereit sich im Zweifel erneut weh tun zu lassen, schlichtweg weil die guten Momente den Schlechten überwiegt haben. Hat sich jemals irgendwer so für dich aufgeopfert, außer vielleicht deine Mutter, die wohlgemerkt dafür verstoßen wurde?
Ihm fallen ihre Worte ein vom Tag bevor er einige Schläge auf den Schädel bekommen hat. Sie hatte es einfach auf ihre selbstverständliche Art definiert. Liebe und Glück. In gewisser Weise hat sie ihm auch auf charmante Weise einen Strich durch die Rechnung gemacht, als er es abstreiten wollte.
»Du machst mich stärker, Aki. Weil ich weiß, da ist ein Mensch, dem ich nicht egal bin. Der mich beschützen würde und sich um mich kümmern wenn es mir schlecht geht.«
Vielleicht wollte sie ihn einfach nur etwas bemuttern und war deswegen so aufgewühlt. Irgendwie war es auch egal, er erbricht hier die Weidenrinde genauso wie bei ihr. Vielleicht ist sein Herz aus Rebellion stehen geblieben? Hör auf darüber nachzudenken und beweg deinen Hintern und bieg es wieder gerade.
Er stubst Marek an und versucht ihn aufzuwecken. Mal sehen, ob er ihn überreden kann ihn zu Rahel zu schleppen. Wenn ihn jemand wieder gerade biegen kann dann sie. Warum? Weil er ihr vertraut. Sie würde ihn auffangen so wie er es für sie tun würde.

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Er hat das Gefühl, dass sein Kopf platzt.
So viele Gedanken, Lügen, Erwartungen und Unstimmigkeiten. Alle erdenklichen Dinge gehen durch seinen Kopf, wollen von seinem übermüdeten Verstand zerpflückt und aufgearbeitet werden, während er nur Gleichgültigkeit verspürt. Was würde es schon ändern?
Obwohl er körperlich erschöpft ist von der schlaflosen Nacht zieht es ihn dennoch in die Mine. Es gibt Arbeit zu verrichten.. Das Einzige worauf immer Verlass ist. Wenn der Staub in seinen Lungen brennt und der Dreck von seiner Haut ab bröckeln ist alles beim Alten. Das ist sein Zuhause und sein Rückzugsort.
Er vertieft sich in die Routine bis das Leder der Fingerlinge reibt und er spürt wie sich leichte Schwielen an den Fingern bilden. Heute führt er die Hacke verbissener und kraftvoller als Üblich. Eine höchst effektive Methode um Druck abzulassen. Als der Erzsack sich füllt wirft er die nächstbesten Brocken in die Tonne, nur um den Rückweg hinaus zu zögern.

Die Stadt macht ihn krank. All die Manierlichkeiten, Konversationen und Vorschriften. Warum musste das alles so kompliziert sein? In Ravinsthal war man froh, wenn einem bei den täglichen Pflichten nicht der Goldbeutel abgeschnitten wurde. In dem Lehen kommt keiner auf die Idee über das Wetter zu fantasieren oder übertriebene Liebesgedichte zu schreiben. Und wenn waren sie realistisch und grau. Es ist nicht immer alles gut oder böse, schwarz oder weiß.
Manchmal fragt er sich wo die Wut gründet. An manchen Tagen empfindet er Abscheu gegen fast alles. Dann will er einfach nur bis zur Erschöpfung arbeiten oder in der Taverne einen Heben gehen, vielleicht gepaart mit einer anständigen, erfrischenden Prügelei. Gelegentlich spürt er einfach nicht die Lust zu reden. Vor allem nicht über Banalitäten. Wie viel Frauen doch reden können. Wann holen sie Luft?
Aber nicht Reden zu wollen kommt in einer Beziehung nicht in Frage. Genauso wenig wie eine Tavernenschlägerei. Er hat kein Problem mit einer Nacht in der Ausnüchterungszelle, Rahel aber ganz bestimmt. Sie würde wieder ihren Katalog an Vorwürfen auspacken. 'Benimm dich, Aki. Lass das, Aki.' Bis es irgendwann zu 'Es läuft gerade nicht so gut zwischen uns' führt. Leider ist in diesen Momenten die Argumentation, dass es ihm schlichtweg egal ist keine gute Idee. Er mochte seine Freiheit nicht nachdenken zu müssen, obwohl er sich bisher nicht mal bewusst war, wie sehr er sie zu schätzen weiß. Manchmal muss man etwas aufgeben, um den Wert zu kennen.

Warum muss man immer über alles reden? Des Öffteren will er Rahel einfach nur im Arm halten oder sie beobachten. Zuhören wie sie atmet, zusehen wie sie mit ihren Gedanken beschäftigt ist. Aber es funktioniert nicht. Im Gegensatz zu ihm will sie darüber reden was ihn beschäftigt und worüber er nachdenkt. Ab einem gewissen Punkt wird ihre Stimme unangenehm für ihn, gar nervtötend. Meistens hilft es sie zu küssen und darauf zu hoffen, dass sie erwiedert und ihre Gedanken ganz von selbst in eine gänzlich andere Richtung umschlagen.
Nicht selten hört er weiterhin ihre Worte auch wenn sie nicht mehr sprechen kann. Als würde jeder Atemzug ihn verhöhnen. 'Es läuft gerade nicht so gut zwischen uns. Außer im Bett.' Ab dem Moment ist sie sowieso in seinem Kopf. Nur ist es damit meist nicht überstanden. Die Gedanken an hre Worte kommen ihm vor wie eine Mücke, die nachts um einen schwirrt. Immer wenn man sie vergisst nimmt man wieder das nervtötende Surren wahr.
Auch wenn er sie auffordert still zu sein oder sie knebeln würde wäre es nur ein Aufschub. Er kann es in ihren Augen sehen, er kann es spüren. Sie will sich mitteilen, vielleicht muss sie es sogar?

Gestern hat sie ihn zu sehr provoziert, auch wenn sie es bestimmt nicht bewusst getan hat. Trotzdem weiß sie ganz genau was sie tun und sagen muss, um ihn über die Grenze zu bringen.
Wie schön der Moment doch war, als sie plötzlich ganz still da lag. Natürlich hatte auch das panische Gebären und der Versuch ihn abzuschütteln etwas an sich aber der Moment als ihre Kraft wich war nahezu Heilig. Erst so fassungslos und dann so friedlich. Er wollte den Blick aus den aufgerissenen Augen am Liebsten festhalten.
Es ist seltsam zu denken, dass Stille aufschlussreich sein könnte aber das war sie. Wie schön die zierliche Frau doch war, die er immernoch an der Kehle gepackt hielt. Wieso war das so schwer zu verstehen? Wenn es nach ihm ginge muss sie nicht reden und ihr Herz muss nicht für ihn schlagen. Nur dummerweise war es nicht die Variante von Atemlosigkeit, die er angedachte hatte. Zumal es nicht seine Entscheidung ist. Sie ist nicht sein Besitz und er hat kein Recht ihr Leben so mutwillig zu zerstören.

Trotzdem blieb – nachdem er sie zurück geholt hat und sich bereits ausmalen kann welche schönen, aufschlussreichen Hämatome er ihr hinterlassen hat – nur der zwanghafte Gedanke von Distanz. Er schert sich nicht darum, dass sie verletzt sein wird oder um die Vorwürfe die folgen sondern um die Enttäuschung. Es wird immer ein Hauch von Furcht in ihren großen, schönen Augen hängen. Hatte er ihr das nicht von Anfang an vorher gesagt? Und immer wenn sie ihn ansieht wird er sich danach sehnen noch einmal diesen endgültigen, resignierenden Blick zu erhaschen.
Wie verkommen kann ein Mensch nur sein? Auch wenn er versucht es beharrlich abzustreiten ist er keinen Strich besser als sein Vater. Vermutlich liegt die Grausamkeit tatsächlich in der Familie. Die einzige Beziehung die er zu führen vermag beruht auf Unterdrückung.

Die Momente vergehen und er lockert weiter das Gestein und fokussiert sich auf das scharrende Geräusch der Spitzhacke. Er fragt sich, ob Rahel sich mittlerweile im Spiegel betrachtet hat und wie die Reaktion ausgefallen ist. Vermutlich würde er es früh genug erfahren.

Rahel Goldblatt

Der Ring

Eine Tür öffnete sich und mit Schwung wurde ein zierlicher, silberner Ring, dessen Oberseite mit feinen Rosenblättern und einem dunkelroten Rubin geschmückt war, gen Stadtmauer geworfen. Er trudelte einige Mal durch die Luft und bei seinem kurzen Flug funkelte der Rubin tiefrot im Sonnenlicht, ehe er weich auf einem Graspolster landete.

Eine Elster flog vorbei und dies rote Funkeln erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie landete auf einer Zinne der großen Mauer und spähte mit scharfen Augen hinunter, als sie es auch schon im Gras blitzen sah. Einen Flügelschlag später landete sie neben dem Ring.

"Du bist mal ein feiner Kamerad", krächzte sie leise zu dem Ring und legte dabei den Kopf auf ganz elsterliche Weise schief, um ihn besser beäugen zu können.

"Hau ab und lass mich in Ruhe!" knurrte der Ring mit feinem Stimmchen zurück. Zu gerne hätte er die Rosenblätter geschlossen, um die Elster noch besser ignorieren zu können, doch so sehr er sich auch anstrengte, sie bewegten sich keinen Millimeter.

"Ach, der Herr bildet sich wohl ein, etwas besseres zu sein", keckerte die Elster amüsiert und stupste ihn mit dem schwarzen Schnabel an.

"Lass mich in Ruhe!" ertönte das leise Stimmchen erneut. "Sie wird sicher wiederkommen, um mich zu suchen."

Die Elster krächzte einige Mal in hohen Tönen vor sich hin, dass sogar der Wachmann auf seinem Gang über die Mauer herunterschaute, in der Meinung, er hätte dort unten jemanden lachen gehört. Dabei hüpfte die Elster mit gezierten kleinen Hüpfern um den Ring herum und stupste ihn erneut an.

"Warum hat sie dich denn erst weggeworfen, häh? Sie wird sicher nicht wiederkommen, Herr Ring, oder sollte ich euch besser Herr Rosenblüten-Ring nennen?" keckerte es erneut in so hämischem Tonfall, wie sie nur Elstern zueigen ist.

"Ach, du dummer Vogel hast ja keine Ahnung!" antwortete die leise Stimme missmutig. "Ich bin ein Verlobungsring!" und der Stolz in seiner dünnen Stimme war unverkennbar. "Ich bin ein Zeichen von wahrer Liebe! Aber davon verstehen dumme Vögel wie du nichts. Pah, geh nur weg und lass mich hier liegen." Zu gern hätte er sich mit einer theatralischen Geste von der Elster abgewandt, aber da er ein Ring war, blieb er im grünen Gras liegen. Nur sein rotes Auge funkelte zornig, als ihn ein sanfter Strahl der Frühlingssonne traf.

"Liiiiieeeeebe!" krächzte die Elster nun vergnügt auf und pickte einmal kräftig in die Mitte des Ringes, so dass die Grashalme unter ihm knickten und er in den Schatten fiel. "Liiieeebe ist von den Menschen gemacht. Menschen sind dumm! Ich liebe die Liiiiebe!" Fröhlich hüpfte sie auf und ab und schlug zweimal mit den Flügeln, dass es um den Ring nur so rauschte.

"Hach, die Liiiebe!" krächzte sie erneut auf. "Nichts beschert uns soviel Gutes, wie die Liiiebe. All die Glitzerdinge, die wir finden, weil sie enttäuscht wurde, die Liiebe! All die Kriege, die uns fette Beute hinterlässt, wenn die Schlacht vorüber ist, geführt im Namen der Liiebe!" jubilierte sie. "Ich beginne immer mit den Augen." Und sie klapperte einige Male mit dem scharfen Schnabel, als sei sie voller Vorfreude auf kommende Genüsse. "Sie geben eine ganz ausgezeichnete Vorspeise ab, musst du wissen", sprach sie zu dem Ring, ihn wieder auf ihre eigentümliche Weise mit schräg gelegtem Kopf betrachtend. "Aber davon verstehst du nichts, denn du bist nur ein Ring. Auch wenn ich zugeben muss, dass du ein besonders schönes Exemplar bist." Und der Kopf ruckte zur anderen Seite, damit sie ihn auch mit diesem Auge betrachten konnte.

"Ich werde dich mitnehmen in mein Versteck, wo ich noch andere feine Glitzerdinge habe. Ich liiiebe Glitzerdinge!" wieder keckerte sie in höchsten Tönen, ehe sie den Ring in den Schnabel nahm, mit zwei kräftigen Flügelschlägen vom Boden abhob und gen Burg flog, wo sie hoch oben unter dem Dach eines Turmes in einer kleinen Nische all ihre Schätze versteckt hatte.

Der Ring aber schwieg fortan beleidigt, denn immerhin war er ein Verlobungsring und ein Zeichen wahrer Liebe und dazu auserkoren, an dem zarten Finger eines Fräuleins eines Tages die Hand zu wechseln und dort ein feines Leben zu führen, anstatt nun mit unahnsehnlich gewordenen Knöpfen, kleinen Perlchen und anderem Glitzertand einer Elster zur Ausschmückung ihres Nestes zu dienen. Vor Enttäuschung und Wut über diesen unerwarteten Verlauf seines kurzen Lebens lief er mit der Zeit schwarz an und wenn man genau hinhörte, so konnte man ihn in dunkelster Nacht die leisen Worte:

"Liebe wird überbewertet" säuseln hören.

[Bild: ring1i7ybz.png]
Ein knorriger, von der Sonne schrumpliger Skorpion klackert unbedacht durch die Nacht. Er achtet nicht sonderlich auf seinen Weg, denn er hat Kummer.
Eine Eule hört das Rascheln im Gebüsch und stürzt sich auf ihre Leibspeise. Grazil landet sie neben dem Tier und beäugt es, als sich das Spinnentier weder aufbäumt noch wappnet. Neugierig geworden starrt sie ihren Mitternachtsimbiss an und wartet was passiert. Als sich dieser nicht rührt hakt sie nach.
'Ich werde dich verspeisen, meine Köstlichkeit! Du bist außen knusprig aber hast innen einen leckeren, weichen Kern.' verkündet die Eule hungrig.

'Nur zu. Was hindert dich?' klappert der Skorpion gleichmütig.
'Warum wehrst du dich nicht? Du schmeckst nur halb so gut, wenn du nicht gekämpft hast.'
'Du hast Recht. Das Opfer schmeckt besser wenn es vorher gelitten hat. Aber ich möchte dir nichts vor spielen.'
Die schlauen, großen Augen der Eule bewegen sich abwägig bis sie gierig mit dem Schnabel klappert. 'Das klingt als würde ich dir einen Gefallen tun. Wie langweilig.'
Mit schwindendem Interesse breitet sie die Flügel aus und schlackert ein paarmal, bis das Geklapper sie nochmals aufmerksam macht.

'Flieg nicht weg, Eule. Du bist doch ein schlaues Tier...?'
'Deswegen fliege ich ja! So niedergeschlagen wie du klapperst hattest du bestimmt Streit mit deinem Weibchen. Ich kenne das und es schmeckt nicht gut.'
Der Skorpion scharrt nur ertappt mit der Zange im Dreck.
'Habt ihr Nachwuchs? Die Kleinen sind ganz exquisite Leckerbissen. Wo finde ich dein Weibchen? Sag es mir.'

Bei den verächtlichen Worten der Eule bäumt sich der Skorpion plötzlich doch auf und lässt die Zange in ihre Richtung schnappen. Der schlaue Vogel weicht aber zurück und flattert kurzerhand auf einen Ast. Auf den Skorpion hinab blickend verkündet sie.
'Ich finde sie schon. Sie kann nicht weit sein. Was willst du sie noch beschützen? Sie wird leichte, leckere Beute sein.'
'Nein, Eule. Bitte friss mich!'
Verhöhnend schaut die Eule auf den Skorpion hinab. 'Nichts da, von Liebeskummer verderb ich mir immer den Magen.' schließt sie und fliegt dem Mond entgegen.


Die Gedanken kreisen
immer nur um eins
wie es dir jetzt geht
und ob du mir verzeihst

Alles in mir ist so leer
die Sehnsucht will nicht weichen
seh und hör von dir nichts mehr
kann dich nicht erreichen

Gar zu gerne würd ich
noch einmal vor dir stehn
dir mit einem Lächeln
in die Augen sehn

Und auch du sollst lächeln
bei deinem Blick zurück
dann wär für mich vollendet
mein Märchen vom Glück

....

Und wenn sie nicht gestorben sind
das weiß heute jedes Kind
so ein Märchen enden muss
deshalb jetzt ein neuer Schluss

Das Märchen war beendet
beim allerletzten Blick
Hoffnung war verschwendet
kein Lächeln kam zurück

Der Mann ist gestorben
befürchtet lange schon
am Leben, doch verdorben
der unversöhnliche Skorpion
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