Statt zu schlafen
#2



























Morgens


"Wüste werde ich jenes Schloss nennen, das Du warst.
Nacht jene Stimme und Abwesenheit Dein Gesicht."


Auf ihrem Weg durch den Dunst des allmorgentlichen Herbstnebels in den Straßen von Löwenstein spürte sie mit jedem Schritt das kalte Metall des Schlüsselbundes in ihrer Rocktasche. Sie beschleunigte den Gang im Versuch dem schlechten Gewissen zu entkommen, das ihr im Nacken saß und immer dann frech in ihr Gesicht glotzte, wenn sie einen kurzen Blick über die Schultern warf. Vor ihrem geistigen Auge sah sie dann das Bild von Lew und beobachtete ihn bei seiner Suche nach dem Schlüssel. Sie war hin und hergerissen vom Mitleid, das der Anblick in ihr hervorrief und der Angst vor den Konsequenzen, die auf sie lauerten, sollte er herausfinden, dass sich der Schlüssel über Nacht nicht in Luft aufgelöst hatte. Bevor sie aufgebrochen war hatte sie noch einen Blick in den Spiegel geworfen und die Augen, die ihre Unschuld bezeugen sollten, ihrer Prüfung unterzogen. Nein, er würde sie nicht verdächtigen. Sie hatte noch nie etwas gestohlen und auch den Schlüssel würde sie wieder auf seinen Platz legen, sobald er ihr die Tür zu dem geheimnisvollen Raum unter der Bibliothek geöffnet hatte.

Gebeut von der Last ihres schlechten Gewissens erreichte sie schließlich die Bibliothek und die Treppe, die sie zu besagter Tür führte. Am Ring hing nur ein Schlüssel, den sie nicht kannte und ein kalter Schauer jagte ihr über den Rücken, als sie ihn im Schloss einrasten hörte. Sie betätigte die Klinke, die - wie jede Türklinke, die zu seinem geheimen Ort führte - quietschte und lauschte in die Dunkelheit. Sie hörte Wasser tropften und der kristallklare Klang verriet ihr, dass der Raum leer war. "Ich bins, Cleo!" flüsterte sie in einem Tonfall, der ihr Mut zusprechen wollte und einer etwaig drohenden Gefahr von den guten Absichten des ungebetenen Gastes berichten sollte.

Die Luft war abgestanden, kühl und feucht. Sie verkeilte die Tür und entzündete die Kerze, die sie für den Fall plötzlicher Dunkelheit immer bei sich trug. Die Mauer war vom Boden aufwärts mit Algen überwuchert und sie verscheuchte mit einem kurzen Kopfschütteln den Gedanken an das Frühstück, das ihr am heutigen Tag vorenthalten gewesen war. Am Rand des Lichtkegels zeichneten sich die Umrisse eines ungemachten Bettes ab. Sie trat näher und wie immer, wenn sie ein Bett traf, drückte sie die Handfläche dagegen, um den Grad seiner Weichheit zu ertasten. Wer schlief hier? Sie roch am Laken und die Löcher entpuppten sich als schwarze Flecken, die eingetrocknet waren und das Gewebe des Stoffes spröde gemacht hatten. Sie leckte daran und mit dem Geschmack von Tinte oder Blut auf dem Gaumen hob sie den Blick schließlich und was ihn verstellte beschleunigte ihren Herzschlag, der ihr die aufkeimende Angst bis in die Fingerspitzen pumpte und sie dazu zwang durch den Mund zu atmen. Im flackernden Licht der Kerze erkannte sie aufgehängte Blätter und gemalte Skizzen. Rann das Gehirn aus dem Kopf? Waren das Haare?

Cleo verließ den Raum erst als die Mittagssonne schon ihr blasses Licht über der Stadt ausgoss. Sie war beim Grübeln auf dem Bett eingeschlafen und als sie erwachte, hatten sich ihre Träume und ihr Nachsinnen zu einem Entschluss gebündelt. Bevor sie den Schlüssel auf den Tisch im Keller unter dem Theater zurücklegte, ließ sie ein Duplikat anfertigen. Vielleicht konnte sie etwas über den Raum herausfinden ...




























Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Statt zu schlafen - von Cleo Graupel - 14.11.2013, 00:23
RE: Statt zu schlafen - von Cleo Graupel - 15.11.2013, 19:33
RE: Statt zu schlafen - von Cleo Graupel - 18.11.2013, 00:07



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste