Die Nacht ist kalt
#1

Es war etwas falsch. In ihrem Kopf herrschte ein großes Durcheinander und die Ereignisse des vergangenen Abends wollten sich - egal wie sehr sie sich auch anstrengte - nicht zu einer kohärenten Abfolge im Sinne ihrer Wirkursächlichkeit ordnen und ließen sie angesichts ihrer momentanen Situation relativ ratlos zurück. Sie hatte Anlauf genommen und war jubelnd in den Heuhaufen gesprungen, der sich schon während des Sprunges als Schlund eines Ungeheuers erwies.

Jetzt saß sie auf der löchrigen, mottenzerfressenen Matratze und hörte das Klappern von Zähnen, von denen sich bald herausstellte, dass sie zu ihr gehörten. Die Matratze wiederum gehörte dem Müllner, an dessen Tür sie spät in der Nacht geklopft hatte und die von seinem Lehrling geöffnet wurde. "… Und jetzt traut sie sich nicht mehr heim!" hörte sie ihn erklären und dann trat der Müllner persönlich an sie heran und musterte sie streng.
"Sieht mir nach einer Diebin aus!"
- "N-nein, ich bin B-b-eamtin."
"Ist doch fast das gleiche!"

Er hatte ihr einen Schilling abgeknöpft, den einzigen, den sie bei sich trug und ihr die Matratze auf dem Dachboden der Mühle überlassen. Cleo hatte sich im Laufe der vergangenen Monate, die sie bei Lew gewohnt hatte, daran gewöhnt, dass es warm war und dass sie nicht hungern musste. Jetzt war ihr kalt und sie war hungrig und beides veranlasste die düsteren Prognosen für die Zukunft, die sie sich im Dunkel der Nacht auszumalen begann. Was sollte aus ihr werden? Vom Leben auf dem Land wusste sie nur dass es mühsam und nicht ertragreich war.

Als sie dann aus einer kurzen, ruhelosen Nacht erwachte und der Morgen durch die Ritzen der Wand blinzelte, stand sie schnell auf und verließ den Müller und seinen Lehrling in Richtung Löwenstein. Wie so oft löste der Schlaf was ihr das Nachdenken verwehrte …
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