Scheideweg
#1
Seine Hand war so unendlich kalt. Auch die Kerze, deren Licht den Raum erfüllte, spendete keine Wärme. Wie konnte es auch, war selbst ihr eigenes Herz erkaltet.
Er lag da, wie tot. Vielleicht war er es mittlerweile auch. Sie beugte sich nach vorne, bettete ihr Ohr vorsichtig auf seine Brust. Nein. Sie spürte das kontinuierliche Pochen. Auch die Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Sie drückte seine Hand sanft, um ihre Glieder zu bewegen und ihm womöglich ein Gefühl der Geborgenheit zu spenden.
Sie wusste nicht, ob er wieder erwachen oder für immer einschlafen würde. Wohl aber würde sie es nicht mehr mitbekommen. Morgen würde Lyanna Ennisfree, die Sprecherin des Heilerbundes zu Löwenstein, den Weg in die zweite Zone der Insel der Hoffnung beschreiten, wie sie genannt worden war. Ob sie Hoffnung bringen würde, war fraglich. Sie hatte gesehen, was die Keuche mit den Menschen machte. Jeder Tod war besser als dieses grausame, menschenverachtende Dahinsiechen.
Sanft ruhte Gaius Hand in ihrer. Sie hoffte, dass er aufwachen würde, dass er sein Leben weiterleben konnte - jetzt nachdem er doch wieder die Möglichkeit hatte, zu gehen, nach all den Jahren. Sollte dies alles umsonst gewesen sein? Ein erbarmungsloses Spiel der Mächte.

Ihr Blick glitt auf den Ring an ihrem Finger hinab, der im Licht der Kerze golden schimmerte. Exael. Sie wusste, dass ihn ihre Entscheidung getroffen hatte. Er liebte sie, von ganzem Herzen. Aber sie wusste auch, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Vielleicht würde es ihr auch helfen, einige Gedanken zu ordnen. Gedanken über ihre Familie, Gedanken über die Greifen. Gedanken über die Zukunft des Bundes und des Heilerhauses. Carls Worte hallten seit dem Gespräch immer wieder in ihrem Kopf wider. Und sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Wollte sie nicht ihr Gesicht verlieren, ihren Ruf, ihr Ansehen und ihren Posten, musste sie nach dem Prinzip handeln, was das Beste für den Heilerbund war - und dies war ein neues Haus, ein neuer Anfang. Ohne Familie. Ohne Mitglieder, die einem einfach Briefe öffneten. Die in Behandlungen hineinplatzten und sie ermahnten, die ihre Autorität schwächten, weil sie ihre eigene stärken wollten. Sie würde Exael nicht verlassen, aber sie musste sich lösen. Die Familie zwängte sie ein und nahm ihr die Luft zum atmen.

Wieder hob sie den Blick an und stierte zum Fenster. Der Mond war herausgekommen und spendete zusätzlich sein fahles Zwielicht, welches ab und an durch die Wolken hindurchbrach und den Raum erfüllte.
Auch die Kirche war scheinbar hinter ihr her. Dabei hatte sie nie mehr getan, als helfen zu wollen. Lisbeth. Diese Frau hasste sie wie den Dreck an ihren Füßen, nachdem sie in eine Kuhflade getreten war. Warum, hatte Lyanna nie verstanden. Aber sie nahm es hin. Sie hatte nie Unrecht getan. Und sie würde es auch in Zukunft nicht tun.

Aber, so dachte sie bitte, womöglich würde sie sich in naher Zeit, darüber keine Gedanken mehr zu machen brauchen. Vermutlich würde der kalte und ungemütliche Gefängnisraum ohne Fenster zu ihrem Grab werden. Dann müsste sie sich keinerlei Gedanken mehr über die Ungerechtigkeiten der Stadt machen. Über Colin und Tarrant. Lisbeth und die Kirche. Suluther. Er. Die Greifen. Gaius und sein Überleben oder Sterben. Exael, und die Hoffnungslosigkeit, die seine Brust zusammenpresste, weil sie ihn verließ.
Tief durchatmend erhob sich die junge Frau und schritt an das Fenster, richtete den Blick hinaus.
Eirene würde den Weg ohne Wiederkehr beschreiten. Ihr ganzer Respekt galt der Heilerin, ihrer guten Freundin. Es schnürte ihr den Hals ab, daran zu denken. Manchmal ertappte sich die junge Medica bei dem Gedanken, lieber in ihrer Heimat geblieben zu sein. Nichts glich dem, was ihr hier erfahren war. Sie hatte ihren Großvater finden wollen und hatte stattdessen nichts als Leid in diesen Straßen gefunden. Mord, Betrug, Falschheit, List. Hier und da ein Fünkchen Glück, doch in der letzten zeit schien die Mauer, auf der sie ihr neues Zuhause gebaut hatte, Stück für Stück zu bröckeln und in sich zusammen zu fallen. Morgen war der Tag gekommen, der Tag des Scheidens. Vielleicht war dies eine Prüfung der Götter. Vielleicht hatte es auch keinerlei Bedeutung. Wer vermochte dies schon zu sagen.

Ein Blick hinter sich, dann ließ sie sich wieder sinken und griff erneut nach Gaius Hand. Ein leises Lied begann den Raum zu füllen, Worte einer fremden Sprache und eine Melodie, die von Trauer und Sehnsucht sprach. Stumme Tränen rannten ihre Wangen hinab. Sie war doch eigentlich noch ein halbes Kind. Sie war doch nur erwachsen geworden, weil man es von ihr verlangt hatte. Und nun? Nun stand sie am Scheideweg. Freiheit und Isolation. Leben und Tod. Nur die Zeit würde Zeigen, welchen Weg die Götter für sie bestimmt hatten. Es gab kein Zurück mehr.
All the world knew that a maester forged his silver link when he learned the art of healing - but the world preferred to forget that men who knew how to heal, also knew how to kill
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Scheideweg - von Lyanna Ennisfree - 10.11.2013, 01:38
RE: Scheideweg - von Lyanna Ennisfree - 13.11.2013, 23:27
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