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Normale Version: Scheideweg
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Seine Hand war so unendlich kalt. Auch die Kerze, deren Licht den Raum erfüllte, spendete keine Wärme. Wie konnte es auch, war selbst ihr eigenes Herz erkaltet.
Er lag da, wie tot. Vielleicht war er es mittlerweile auch. Sie beugte sich nach vorne, bettete ihr Ohr vorsichtig auf seine Brust. Nein. Sie spürte das kontinuierliche Pochen. Auch die Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Sie drückte seine Hand sanft, um ihre Glieder zu bewegen und ihm womöglich ein Gefühl der Geborgenheit zu spenden.
Sie wusste nicht, ob er wieder erwachen oder für immer einschlafen würde. Wohl aber würde sie es nicht mehr mitbekommen. Morgen würde Lyanna Ennisfree, die Sprecherin des Heilerbundes zu Löwenstein, den Weg in die zweite Zone der Insel der Hoffnung beschreiten, wie sie genannt worden war. Ob sie Hoffnung bringen würde, war fraglich. Sie hatte gesehen, was die Keuche mit den Menschen machte. Jeder Tod war besser als dieses grausame, menschenverachtende Dahinsiechen.
Sanft ruhte Gaius Hand in ihrer. Sie hoffte, dass er aufwachen würde, dass er sein Leben weiterleben konnte - jetzt nachdem er doch wieder die Möglichkeit hatte, zu gehen, nach all den Jahren. Sollte dies alles umsonst gewesen sein? Ein erbarmungsloses Spiel der Mächte.

Ihr Blick glitt auf den Ring an ihrem Finger hinab, der im Licht der Kerze golden schimmerte. Exael. Sie wusste, dass ihn ihre Entscheidung getroffen hatte. Er liebte sie, von ganzem Herzen. Aber sie wusste auch, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Vielleicht würde es ihr auch helfen, einige Gedanken zu ordnen. Gedanken über ihre Familie, Gedanken über die Greifen. Gedanken über die Zukunft des Bundes und des Heilerhauses. Carls Worte hallten seit dem Gespräch immer wieder in ihrem Kopf wider. Und sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Wollte sie nicht ihr Gesicht verlieren, ihren Ruf, ihr Ansehen und ihren Posten, musste sie nach dem Prinzip handeln, was das Beste für den Heilerbund war - und dies war ein neues Haus, ein neuer Anfang. Ohne Familie. Ohne Mitglieder, die einem einfach Briefe öffneten. Die in Behandlungen hineinplatzten und sie ermahnten, die ihre Autorität schwächten, weil sie ihre eigene stärken wollten. Sie würde Exael nicht verlassen, aber sie musste sich lösen. Die Familie zwängte sie ein und nahm ihr die Luft zum atmen.

Wieder hob sie den Blick an und stierte zum Fenster. Der Mond war herausgekommen und spendete zusätzlich sein fahles Zwielicht, welches ab und an durch die Wolken hindurchbrach und den Raum erfüllte.
Auch die Kirche war scheinbar hinter ihr her. Dabei hatte sie nie mehr getan, als helfen zu wollen. Lisbeth. Diese Frau hasste sie wie den Dreck an ihren Füßen, nachdem sie in eine Kuhflade getreten war. Warum, hatte Lyanna nie verstanden. Aber sie nahm es hin. Sie hatte nie Unrecht getan. Und sie würde es auch in Zukunft nicht tun.

Aber, so dachte sie bitte, womöglich würde sie sich in naher Zeit, darüber keine Gedanken mehr zu machen brauchen. Vermutlich würde der kalte und ungemütliche Gefängnisraum ohne Fenster zu ihrem Grab werden. Dann müsste sie sich keinerlei Gedanken mehr über die Ungerechtigkeiten der Stadt machen. Über Colin und Tarrant. Lisbeth und die Kirche. Suluther. Er. Die Greifen. Gaius und sein Überleben oder Sterben. Exael, und die Hoffnungslosigkeit, die seine Brust zusammenpresste, weil sie ihn verließ.
Tief durchatmend erhob sich die junge Frau und schritt an das Fenster, richtete den Blick hinaus.
Eirene würde den Weg ohne Wiederkehr beschreiten. Ihr ganzer Respekt galt der Heilerin, ihrer guten Freundin. Es schnürte ihr den Hals ab, daran zu denken. Manchmal ertappte sich die junge Medica bei dem Gedanken, lieber in ihrer Heimat geblieben zu sein. Nichts glich dem, was ihr hier erfahren war. Sie hatte ihren Großvater finden wollen und hatte stattdessen nichts als Leid in diesen Straßen gefunden. Mord, Betrug, Falschheit, List. Hier und da ein Fünkchen Glück, doch in der letzten zeit schien die Mauer, auf der sie ihr neues Zuhause gebaut hatte, Stück für Stück zu bröckeln und in sich zusammen zu fallen. Morgen war der Tag gekommen, der Tag des Scheidens. Vielleicht war dies eine Prüfung der Götter. Vielleicht hatte es auch keinerlei Bedeutung. Wer vermochte dies schon zu sagen.

Ein Blick hinter sich, dann ließ sie sich wieder sinken und griff erneut nach Gaius Hand. Ein leises Lied begann den Raum zu füllen, Worte einer fremden Sprache und eine Melodie, die von Trauer und Sehnsucht sprach. Stumme Tränen rannten ihre Wangen hinab. Sie war doch eigentlich noch ein halbes Kind. Sie war doch nur erwachsen geworden, weil man es von ihr verlangt hatte. Und nun? Nun stand sie am Scheideweg. Freiheit und Isolation. Leben und Tod. Nur die Zeit würde Zeigen, welchen Weg die Götter für sie bestimmt hatten. Es gab kein Zurück mehr.
Lyanna hatte sich in den einzigen Raum zurückgezogen, der durch seine Fackelbewährten Wände und seine geringe Größe genügend Wärme gegen die klirrende Kälte bot, die sich im restlichen Trakt des Gefängnisses breit gemacht hatte. Wie so oft, war sie alleine und ihre Beistände ausgeflogen. Gestern hatten sie eine Kranke in Zone drei verfrachtet. Die Gefahr, sich anzustecken bestand jeden Tag. Sie hoffte, dass sie lange genügend durchstehen würde, bis eine Lösung gefunden worden war. Bevor die halbe Stadt ausgerottet war.

Vor ihr lag ein Stück Pergament, noch unberührt. Sie wusste nicht wie sie anfangen sollte, ob sie anfangen sollte. Doch schließlich nahm sie den Kohlestift auf und begann über das Papier zu kratzen.

Liebster Exael,

ob du mich wohl schon vergessen hast? Keine Briefe erreichen mich. Keine Kunde über deinen Verbleib. Ich hoffe, dass es um deinen Zustand wohl bestellt ist.
Es ist einsam hier. Einsam. Kalt. Feucht. Die Krallen der Ratten, die über den Boden scharren, rauben mir den Verstand. Irgendwo tropft es und der ständige Regen macht die Situation nicht besser. Der eisige Wind, der durch jede Ritze pfeift, singt sein schauriges, trostloses Lied. Wie gerne würde ich diesen Platz hier gegen deine Nähe tauschen. Was würde ich dafür geben, oh, was würde ich dafür geben. Aber es soll nicht sein. So bleibt mir nur so hoffen, dass ich dich nicht irgendwann hier antreffe, auf einem der Betten, blass und hustend, als würde sich dein Leib von innen nach außen stülpen. ...
Sie hält inne. Ihr Blick gleitet über die paar Zeilen. Dann schüttelt sie nur den Kopf, knüllt den Zettel zusammen und hält ihn in die Fackel, wo das Pergament sofort Flammen fängt und auflodert, bevor es als glimmender Haufen auf dem kalten Steinboden zum erliegen kommt.
Sie würde nicht seine Hoffnungen schüren wollen. Wer wusste schon, was morgen kam. Vielleicht war es besser, wenn er sie vergaß.

Gleich darunter setzte sie nun ihr Testament auf, besagend, dass, wenn sie hier den Tod finden würde, ihr Ring zu ihm zurückgesandt werden sollte. Das letzte, was von ihrem gemeinsamen Band übrig bleiben würde.
Der Wind zerrte an ihrer Robe und verzsuchte ihr die Gugel vom Kopf zu reißen. Er war unbarmherzig, ebenso wie die klirrende Kälte, vor allem hier oben. Ihr neuer Rückzugsort, den sie auserkoren hatte. Seit einigen Tagen zog sie sich immer wieder hier hinauf zurück - und wenn es auch nur ein paar Augenblicke waren. Es waren ein paar Augenblicke, welche sie ihrer neu gewonnenen Heimat weider näher brachten.
Sie konnte die Insel nicht verlassen, sie hatte es geschworen. Aber hätte sie gewusst, was auf sie zukommen würde, hätte sie sich vieleicht umentschieden - nicht etwa, weil die Angst davor, die Keuche selbst zu bekommen, sie tagtäglich zerfraß, denn das tat sie ohnehin, sondern weil sie sich nutzlos und untätig fühlte. Draußen auf den Straßen wurden Menschen überfallen, es begannen sich derlei Vorfälle zu häufen. Es mochte an der aufkeimenden Panik liegen, welche die Seuche verbreitete. Vielleicht war es auch nur subjektive Wahrnehmung ihrerseits. Aber wie viel mehr vermochte sie wohl dort draußen auszurichten, anstatt untätig in ihrer Kammer zu sitzen und zu warten? Warten und dem Knistern der Fackeln lauschend. Ein endloser, trostloser Kreislauf.
Die Zone zwei hatte sich mehr oder weniger, zumindest bislang, als Reinfall herausgestellt. Die Leute waren entweder nicht krank genug um hier her zu kommen oder bereits so fortgeschritten, dass sie gleich in die dritte Zone geschickt wurden. Vermutlich sollte sie froh sein - immerhin blieb die Ansteckungsgefahr auf diese Art und Weise gering. Und dennoch...es brachte keine Befriedigung.
Sie seufzte schwer auf und versuchte einen Blick von ihrer alten Heimat zu erhaschen: der Heilerstube zum Greifen. Dort wo Gaius darniederlag und darauf wartete, dass sein Körper stark genug war, um heimzukehren. Sie hoffte, ihn niemals hier begrüßen zu müssen.
Langsam begann zu dämmern. Man erkannte es in diesen Tagen nur daran, dass es einfach dünkler wurde, denn eine Sonne war kaum auszumachen. Es war grau in grau und das schon seit Tagen. Wenigstens regnete es nicht. Wärmer wurde es dadurch aber auch nicht.
Und wie als wären ihre Gedanken das ersehnte Stichwort gewesen, frischte der Wind wieder auf und heulte um die Mauern des Tores. Eine Windböe erfasste den dunklen Umhang, in den sie sich zusätzlich gehüllt hatte und wirbelte ihn auf. Für einen Moment wirkte es, im Zwielicht des immer schneller schwindenden Tages, als würde ein riesiger, schwarzer Greifvogel seine Flügel zur Seite ausstrecken, unheilvoll und drohend. Dann verebbte das Schauspiel so schlagartig wie es gekommen war und der Mantel wurde wieder um ihren Körper gewickelt, als sie ihn zu fassen bekam. Schaudernd wandte sie sich um und verbarg das Gesicht tiefer in Gugel. Dann eilte sie hinab und verschwand wieder im Inneren des Gebäudes.

[Bild: 2drdmyd.jpg]
Es hatte der Tag wohl kommen müssen, unausweichlich, wie er war. Hatte sie sich darüber wahrlich noch Illusionen gemacht? Die Keuche wr in der Stadt angekommen. Erst langsam, wie die Nacht zur Dämmerung langsam die Wände hochkroch, schleichend und vorsichtig - nur um dann schlagartig alles zu verschlucken. So war es auch jetzt gekommen. Die Betten in der dritten Zone wurden knapp. Sie würden nicht mehr lange ausreichen, die Kapazitäten waren längst strapaziert. Und dann? Was würde dann kommen?
Sie hatte mit Eirene gesprochen. Die Ärmste klang bar jeglicher Kräfte. Sie war wohl auch langsam an ihrem Ende angelangt - aber was wollte man auch anderes erwartet? Es waren 4 Helfer in der dritten Zone. Aber würde es ausreichen? Waren es nicht bereits zu wenig? Vor allem nun, wo der Ansturm kam?
Eirene hielt es für das Beste, die dritte Zone auszuweiten, die zweite Zone darin zu integrieren. Wenn sie ehrlich war, dann stimmte sie dem zu - hatten sie doch auch keine anderen großartigen Wahlmöglichkeiten. Doch was bedeutete das für sie? Sie konnte nicht einfach dann der Insel den Rücken zukehren, gehen, als wäre nie etwas gewesen. Würde sie den Mut aufbringen, zu bleiben? Eirene nach bestem Wissen und Gewissen unterstützen? War dies überhaupt eine Option? Sie war die Sprecherin der Zunft, Eirene ihre Stellvertretung. Hatte es einen Sinn, beide leitenden Personen des Bundes einfach so leichtsinnig der Keuche zu überlassen? Zählte es in diesen Tagen noch etwas? Würde es ein danach überhaupt geben?
Schwer aufseufzend stemmte sich die junge Medica hoch und trat an das Gitter heran, wo das neu angekommene Mädchen sanft schlummerte. Sie hoffte, dass ihr das alles erspart bleiben würde. Wenn es nur endlich eine Lösung geben würde.
Da saß sie wieder, alleine und einsam im Gemeinschaftsraum der zweiten Zone. Sie hatte zu viel Zeit zum Nachdenken, zu viel Zeit mit sich selbst. Eigentlich hatte sie gedacht, dass mit der Ruhe der Insel, auch die Ruhe ihrer Gedanken sich einstellen würde - oh, noch nie hatte sie sich mehr getäuscht. Die Gedanken wurden lauter, je stiller es um sie herum wurde. Und es war still. Das kontinuierliche Tropfen, welches den Gang erfüllte oder die Füße der Ratten, das Knistern der Fackeln konnte man nicht als großartige Geräusche zählen - an sie hatte man sich rasch gewöhnt. Aber es war die Abwesenheit von normalen Gesprächen, die Abwesenheit vom Treiben und Leben der Straßen der Stadt. Sie hatte sich so schnell gewöhnt und nun? Wenn sie Rielaye traf, so schwiegen sie sich oftmals an. Was gab es auch noch großartiges zu reden? Das Leben hier unten war trostlos und sie zweifelte an ihrem Wert für diese Zone. Sie zweifelte an der Zone selbst. Die meiste Zeit saß sie untätig herum, während Eirene und alle anderen in der dritten Zone alle Hände voll zu tun hatte. Genauso wie Sam in der ersten. Und hier...
Die junge Frau schob den Becher Saft von sich und massierte die Nasenwurzel. Vor ihr, lag der Ring in Form eines Greifen, welcher im Licht der Fackel düster aufloderte. In den letzten Tagen hatten ihre Gedanken begonnen, unablässig um eine einzige Thematik zu kreisen. Exael. Exael und ihre Verlobung. Die Familie Greifenfels. Suluther. Es war immer dasselbe. Sie drehte sich im Kreis - einem verdammten Dämonenkreis. Aber vielmehr um Exael. Warum schrieb er nicht, kam nie vorbei? Hatte er sie vergessen? Versuchte er sie zu verdrängen, um seinen eigenen Schmerz zu kompensieren? Rechtfertigte das die Absenz jeglicher Aufmerksamkeit seinerseits?
Sie nahm den Ring auf und drehte ihn zwischen den Fingern, legte ihn wieder ab und verbarg das Gesicht in den Händen, schwer aufseufzend. Dann löste sie die verkrampfte Haltung erneut und griff nach Pergament und Tinte, zog beides zu sich her. Wenig später kratzte die Feder über das Pergament.

"Ehrenwerter Patriarch des Hause Greifenfels ... "

[Bild: 2qwea88.jpg]
Aurora scheint es nun auch getroffen zu haben. Es war wohl nur eine Frage der Zeit. Sie hat sich überarbeitet und ist nahe daran, ihren Verstand zu verlieren. Wen wundert es, bei diesem gottlosen Ort.
Leise kratzte die Feder über das Pergament, welches im Schein der Fackel düster erleuchtet wurde. Die schwarze Tinte glitzerte noch matt. Kurz hob die junge Heilerin ihren Blick an und musterte die im Bett an der gegenüberliegenden Wand schlafende Frau.
Ich habe ihr eine leichte Dosis von Schlafmohn und Weidenrinde gegeben. Es wird ihren Geist und Körper beruhigen und sie schlafen lassen. Schlaf, den sie dringend braucht. Warum hat sie sich jenen nicht genommen? Es ist nicht so, als ob wir in dieser Zone mit Arbeit überschüttet würden. Was raubt ihr den Schlaf? Sind es ebenso Gedanken, die auch mich heimsuchen? Stimmen, die nicht schweigen wollen?
Für einen Moment wurde die Feder ruhend zur Seite gelegt. Mit leerem Blick starrte die Medica vor sich hin, keinen bestimmten Punkt anvisierend.
Sie hatte vor einigen Tagen ein Tagebuch angefangen. Es half ihr, den unzähligen Gedanken, welche ihr keine Ruhe ließen, einen Platz zum Ausdruck zu verschaffen. Zudem vertrieb es die Zeit, welche mit jedem fortschreitenden Tag immer zähflüssiger dahinzuwandern begann.
Sich die Nasenwurzel reibend, griff die Heilerin wieder nach der Feder und tunkte sie in das Glas. Sie wirkte müde und gealtert. Ihre geröteten Augen wiesen darauf hin, dass sie wohl geweint hatte.
Dann begann die Feder erneut über das Pergament zu kratzen.
Ich habe Gaius den Brief für Exael mitgegeben. Den Brief und den Ring. Es zerreißt mein Herz, dass ich es auf diesem Wege tun muss – aber wer weiß schon, ob und wann ich jemals diese Insel wieder verlassen werde. Und Exael hat mich weder besucht, noch mir einen Brief zukommen lassen. Ich hoffe, dass es ihm gut geht und ich hoffe, dass er den Brief angemessen aufnehmen wird. Aber wem will ich etwas vormachen. Es wird ihm das Herz brechen. Es hat auch meines gebrochen. Und ein Teil von mir liebt ihn immer noch. Aber ein anderer ist über uns beide hinausgewachsen. Ich war jung und naiv, als ich in diese Stadt kam. Ich flüchtete in seine Arme und lernte zu lieben. Das erste Mal in meinem jungen Leben. Und ein Teil von mir wird ihn immer lieben. Der andere hat sich verloren und muss sich wieder finden. Die Stadt hat mich zu schnell wachsen lassen
Abermals wurde die Feder beiseite gelegt. Sie hätte ein Greif werden sollen, aber die Stadt hatte ihre Flügel gebrochen. Sie war gefallen. Und nun versuchte sie mühsam wieder hochzukommen. Aber wie, wenn alles, was sie um sich herum hatte, die Trostlosigkeit dieses Gemäuers war? Das Flüstern des Windes. Die Kälte, die unter die Kleidung kroch und den Leib schaudern ließ. Das Wimmern der Patienten. Tod. Krankheit. Leid.
Alina ist heute Nacht gestorben. Ich hatte gehofft, sie genesen zu sehen. Eine der vielen Hoffnungen, die hier unten keinen Platz hatte. Hier, auf der Insel der Hoffnung. Ein grausames Paradoxon. Ich trauere um sie. Sie war ein herzensguter Mensch gewesen. Ich habe sie nicht lange gekannt und auch nicht gut, aber das, was ich kennen lernen durfte, war, dass sie voller Stolz und Einsatzbereitschaft war. Mögest du in Frieden ruhen.
Sie rieb sich die Nasenwurzel und schloss für einen Moment die Augen. Wieder glitt der Blick im Raum umher – der einzige Raum der so etwas wie Wärme und Frieden bot. Die Brust von Aurora hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Wenigstens einer, der heute Nacht Schlaf finden würde.
Lautlos erhob sich die Heilerin und steckte das Pergament in die Tasche und verschloss das Tintenfass. Dann erhob sie sich und begann wieder, ihre endlosen, schlaflosen Runden zu drehen.
War Mithras ein gerechter Gott? Es wurde ihr eingebläut, Tag für Tag, aber irgendwie könnte sie nicht mehr hinhören. Wenn er so gerecht und so liebenswürdig war, warum musste man ihn den Menschen dann erst mit Gewalt näher bringen? Sie konnte sich nicht erinnern, dass man dies auch in Galatien versucht hatte. Aber die Alten Götter waren wohl auch nicht so. Und es gab ja viele, man konnte aussuchen. Und man hatte sie teilweise von Geburt an.
Mit Mithras war es seltsam. Er war ein seltsamer Gott. Oder waren nur seine Kinder seltsam? Sie alle sprachen von Gerechtigkeit und Liebe, Hoffnung und derlei Dingen. Aber sie spürte sich nicht geliebt, wann immer die Priesterin zu ihr kam und ihr vorbetete und sie zwang, mitzubeten. Sie betete nicht mit, weil sie Mithras als liebenden und gerechten Gott anerkannt hatte, sondern weil sie schreckliche Angst davor hatte, wieder im Kerker der Kirche zu landen, wenn Sie es nicht tat. Aber was blieb dann übrig, von den Attributen des großen Sonnenkönigs? Wie konnte sie diese ernstnehmen, wenn nicht einmal seine Kinder, seine Priester sich daran zu halten schienen?
Ja...Zerline war entgegenkommend gewesen. Aber wer wusste, warum? In ihren Augen war sie eine wertlose Hexe, der Abschaum. SIe war wohl nicht besser als die Keuchenratten, die überall herum lagen. Und Lisbeth. Auch sie hatte ihr ein einziges Mal Gnade gezeigt...aber war es Gnade gewesen? Machte diese eine Gnade all die anderen Misstaten von ihr weg? Konnte sie einfach so vergessen?
Und die junge Anwärterin. Sie betete, ja. Sie betete immerzu und sie schien sehr euphorisch dabei. Aber versuchte sie nur ein einziges Mal, ihr Mithras näher zu bringen? Ihr zu erklären, WARUM er gerecht und liebevoll sein sollte, wenn er es offenbar nicht war? Und würde Sie ihr doch nur die Frage beantworten, warum zumindest seine Kinder es nicht waren. Vielleicht war er es doch aber...mussten sich dann nicht auch seine Kinder daran halten? Vielelicht wusste Mithras gar nicht, was seine Kinder taten. Vielleicht interessierte es ihn nicht?
Seufzend drehte die junge Frau den Kopf zur Seite und starrte wieder aus dem Fenster. Seit man sie geschnappt und eingesperrt hatte, schien sie die Welt nicht mehr zu verstehen. So viele Fragen und keine Antworten. Und niemand war bei ihr. Nur die gute Sam.
Sie konnte nicht mehr tatenlos rumhocken und nichts tun. Eirene war gestern ein Durchbruch gelungen, vielleicht sogar DER Durchbruch und sie war dabei gewesen. Auch Aurora würde in die Geschichte eingehen. Sam. Sie hatte einiges aufzuholen, wollte sie überhaupt jemals wieder irgendetwas erreichen. Die Leute schienen Sie bereits vergessen zu haben. Gaius kam nicht. Greta. Nicht einmal Briefe. Hatten sie sie schon vergessen? Aber sie wusste, an wen sie sich zu halten hatte.
Vor ihr auf dem Tisch lag ein kleines Metallplättchen und spiegelte den Kerzenschein wider. Um ihren Hals eine Kette, an dessen Ende ein hübscher, roter Stein hang. Ja. Sie wusste auf wen Sie vertrauen konnte.
Also nahm Sie Tinte und Feder an sich und begann zu schreiben. Es war nur noch eine Frage der Zeit.

[Bild: 303d383.jpg]
Da war sie wieder, hatte nie für möglich gehalten, dass sie sich über die Neueröffnung dieser Zone jemals derart freuen würde. Und eigentlich gab es keinen Grund zur Freude - alle Zellen waren besetzt. Die Hochedle selbst war einer ihrer "Gäste". Und es stand nicht gut um sie. Wenn sie nicht bald eine Lösung finden würden, würde sie womöglich all den anderen unschuldigen Opfern nachfolgen. Da würde auch kein Lavendelquell auf lange Zeit helfen.
Garion war auch einer von ihnen, aber er war nur zur Beobachtung hier. Von ihm ging keine ernsthafte Gefahr aus. Genausowenig wie von dem Anwärter in roter Robe. Aber um Saskia machte sie sich Sorgen. Immer wieder strich die Heilerin, gleich einer Raubkatze um ihre Beute, um die Zellen der Schlafenden herum. Immer wieder verharrte sie vor den Gitterstäben und lauschte, ob sie noch das Atmen vernehmen konnte. Ob ihre Schützlinge nur schliefen und nicht schon den Göttern oder Mithras oder an wen auch immer sie glauben mochten, einen Besuch abstatteten. Das wäre höchst unvorteilhaft.
Aber nichts geschah und sie war froh. In den letzten Stunden hatte sie Kraft gesammelt - eigentlich seit Eirene die Zone 2 für neu eröffnet erklärt hatte. Nun hatte ihr Dasein wieder einen Sinn, hier auf dieser Insel - wenn auch einen höchst bedrückenden. Doch, gleichwie die Lage war, die Heilerin erfüllte sie mit Elan und Energie. Zu lange hatte sie die Zeit untätig verstreichen lassen müssen. Viel zu viel Zeit hatte die Kirche sie gekostet. Nun war die Zeit gekommen, an dem sie erneut beweisen konnte, was für ein Mensch sie war und dass sie nichts wollte, als anderen helfen. Und vermutlich würde sie dann, wenn die Keuche endlich geheilt war, sie, zusammen mit Eirene und all den anderen, das Leben der Hochedlen gerettet hatten, dafür dann als Dank am Scheiterhaufen verbrannt. In dieser Stadt war schließlich alles möglich. Hoch möge die heilige Mutter Kirche leben, eine liebevolle Mutter, die nichts lieber wollte, als ihre Kinder in Leid und Pein zu sehen! Was wohl der Vater dazu sagen würde?
Als sich der Blick zur steinernen Decke anhob, schwieg Mithras bedrückt. Kopfschüttelnd wandte sich die junge Medica ab und begann wieder ihre Runden zu drehen.
Beinahe hätten sie ihn gehabt. Sie war sich SO sicher gewesen. Alles sprach dafür: 180 Gulden für Gift! Wer hatte 180 Gulden? Außer vielleicht dieser Kerl, der König und natürlich der fette Silberberg. Gift, welches angeblich der Heilung der Keuche dienen sollte, bestellt von Aurora Drakenquell höchstpersönlich. Sie schüttelte nur den Kopf und zog das Fell enger um ihren Körper. Der Blick war unermüdlich auf den Platz der Insel gerichtet. Ob sie heute ein Auge zubekommen konnte? Sie hatte alles hermetisch abgeriegelt, um zumindest die Sicherheit der Hochedlen zu garantieren, so wie auch ihre eigene.

[Bild: mrvc7s.jpg]

Warum sie sich verfolgt fühlte, wusste sie nicht. Vermutlich gehörte das dazu. So wie Eliska. Sie hoffte nur, dass sie nicht wie Eliska enden würde.
180 Gulden. Für Gift. Zum Glück war sie vor Ort gewesen um dem Spuk gleich ein Ende zu setzen. Warum sollte Aurora derlei bestellen? Der Heilerbund hatte eine solche Lieferung nicht in Auftrag gegeben und Aurora würde niemals etwas tun, ohne den Heilerbund zu verständigen - vor allem wenn es um ein Heilmittel der Keuche ging, an dem sie alle gemeinsam arbeiteten. Und zudem - 180 Gulden! Die horrende Summe spukte ihr immer noch im Kopf herum. Lisbeth hatte es auf den Punkt gebracht. Die beiden mächtigsten Familien der Stadt brachten kein solches Vermögen zusammen zustande. Silberberg tat es. Das hatte dieser Kerl selbst gesagt.
Silberberg. Welche Rolle spielst du in alle, du fetter wertloser Säufer? Du bist nicht der Kopf. Du bist nur eine Marionette. Doch wer, wer mochte dahinter bloß stecken?
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