Journal: Jurenstunde
#1
Geehrte Frau Mutter!

Sicherlich fragst du dich, wie das Leben in der großen Metropole Amhrans so sein mag. Da es schwer ist, solcherlei mannigfaltige Eindrücke in Worte zu fassen, ohne unflätig oder gar häretisch zu werden, habe ich beschlossen, dir hin und wieder Auszüge aus meinem Journal zu überstellen, die dir selbst ein Bildnis Löwensteins schaffen sollen. Angemerkt sei hierzu allerdings, dass die interessantesten Dinge wohl in der Nacht passieren, vor allem um den Tageswechsel. Diese Uhrzeit, die wir nur banal die Nullte Stunde nennen, wird hierzulande "Jurenstunde" genannt, und um gerade diesen seltsamen Ausdruck etwas näher zu erklären, entsende ich dir anbei einen Auszug dessen, was schon viele Menschen in besagter Jurenstunde am Wochenende erlebt haben.
Sei versichert, liebste Frau Mutter, es geht mir ausgezeichnet, trotz der wohl verschreckenden Schilderungen, die nun folgen mögen.

Einen züchtigen Gruß entsende ich auch an den Herrn Vater, und bitte sieh nach ob Hanna, die Hausdienerin, meinen Philodendron auch brav gießt!

Es verbleibt fromm und in bittersüßem Heimweh,

Dein geliebter Sohn
~Orestes Caetano~


PS: Hier folgen nun die Berichte. Sei unbesorgt, liebste Mutter. Alles wird gut.

02. Nebelung 1400, Jurenstunde

Es ist wieder einmal soweit. Der Mann mit der Sense zieht durch die Gassen, wie er es schon so oft getan hat. In wallende Gewänder gehüllt, einsam und stetig, auf der Suche nach jenen, deren Stunde geschlagen hat. Man konnte seine Schritte schon von weitem hören, das leise Pochen der beschlagenen Stiefel auf Stein und Holz, und es war mir, als könne ich seinen eiskalten Blick an meinem Nacken spüren. Mir gruselte, und der Eierkuchen, den ich gerade noch mit Genuss benagt hatte wie ein Feldhamster, wurde mir schier zu Asche im Munde. Noch während ich überlegte, welche Untat ich in meinem Leben vollbracht haben konnte, womit ich ein solches Schicksal verdient hatte, da war er auch schon über mir. Verlangte. Forderte, was ich mit meinem jungen Leben noch nicht geben wollte.
Der Schnitter jedoch kennt keine Gnade, und keine Rücksicht auf Jung oder Alt, und so sehr ich auch laufen mochte, und so sehr ich kämpfte, am Ende erlag ich doch seiner Sense. Der Sense die jedermann eines Tages mal holen kommt. Und jetzt, zurückblickend auf jene fatale Nacht, vermag ich immer noch mit einem gar angewiderten Schaudern seine Stimme zu hören. Die Stimme, wie er dahin schreitet, und seinen Beutegesang anhebt. Die Stimme, die nur in der Jurenstunde zu hören ist, wenn der Geist mit der Sense und er wallenden Robe seine Runden dreht. Der Schnitter, dessen Ruf "AMHRANER HUND!" ist.
[Bild: OrestesCaetanoSignatur2017.png]
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Journal: Jurenstunde - von Orestes Caetano - 03.11.2013, 07:20
RE: Journal: Jurenstunde - von Orestes Caetano - 05.11.2013, 00:19
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RE: Journal: Jurenstunde - von Orestes Caetano - 17.11.2014, 00:40



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