Die Familiendecke - Ein Leben in Flicken
#2
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Wie hatte sie jene bewundert, diese hohen Mauern der Stadt, als sie mit Hab und Gut in der Stadt damals eintraf. Machtvoll, grau und so dick, dass sie absolut uneinnehmbar schien. Ihre Fingerkuppen wanderten damals zu allererst über die wuchtigen Löwenfiguren aus dem gleichen harten, dunklen Granit. Sie fühlten jeden noch so kleinen Spalt, einzelne Erhebungen und raue Dellen. Sie schloss die Augen. Sogar die Luft war hier anders als am Weiher. Gegen den Willen ihrer Eltern stand sie dort, lauschte dem klappern der Hufen auf dem Pflaster, dem steinernen Knirschen der Räder und dem lautem Gebrüll der Stadtwachen, dass ihr auf der Straße entgegenschallte. Sie war sofort überwältigt. Sie war vermutlich nur eines von den vielen kleinen Landmädchen vor den riesigen, metallenen Gittertoren, dass mit offener Kinnlade dort verharrte, wo es schon andere taten. Wahrscheinlich gingen deshalb die Menschen achtlos an ihr vorbei oder besser gesagt um sie herum, gestatten ihr kaum ein Blick, wie sie mit ihrem kleinen Bündel mitten im Wege, auf dem Pflaster verharrte. Gleichgültig lief das Leben weiterhin um sie herum ab, während ihres für diesen einen Augenblick ins Stocken geriet.

Ach wie naiv sie doch war. Wohlbehütet aus gutbürgerlichem Hause, aufgewachsen in einem Heim voller Liebe, gar einer Köchin die ihr so großzügig ihr Kochbuch mit auf dem Wege gab, aus Sorge sie würde in der Stadt sonst verhungern. „Als ob man Bücher essen könnte!“ Hatte sie noch gescherzt, doch Zineta blieb dabei, mit dem ungetrübten Ernst, der jener fülligen alternden Maid sonst nur selten innewohnte.

Sie strich durch die Straßen und Gassen, den Blick aus großen, staunenden Augen an die verschiedenen Häuserwände geheftet. Kein Wunder also, dass sie sich ständig verlief und aufs Neue nach dem Weg zur Schneiderzunft fragen musste.

Das war das erste was die Stadt ihr gab. Die Zunft und ein Dach über den Kopf. Auch wenn das Lager karg war, auf den alten gammligen Matten zwischen all‘ den anderen Gesellen, die schnarchten und schmatzten und andere Geräusche von sich gaben, die sie lieber nicht identifizieren wollte. Tagsüber arbeitete sie unermüdlich, bis die Finger von den Näharbeiten bluteten, um dann einfach matt und erschöpft im Obergeschoss einzuschlafen. Manchmal sogar noch mit Kleid und Schuhen. Nein, was die Stadt schenkte, gab sie nicht umsonst her. Auch nicht Ana. So widerwärtig der Umstand war, sie näher kennenzulernen, so wundervoll das Ergebnis. Ihre erste Freundin und die beste für Jahr und Tag. Wäre Umbinor nicht damals auf den Gedanken gekommen, sie könnten seine „Gesellschaftsdamen“ werden, wäre aus dieser Gemeinsamkeit nicht das gewachsen was es heute war. Gemeinsam gelang vieles leichter und man wurde stärker. Das Selbstvertrauen, der Glaube, Erfahrung.

Doch auch das Gift das unsichtbar durch die Gassen waberte. Es war nicht der Schmutz, der Dreck, das Erbrochene an der Ecke oder auch die Ratten, die überall lauerten…es war das Netz aus Intrigen und Lügen, aus Boshaftigkeiten und Machtgier. Dort wo ein Lächeln eben noch gewesen ist, erschien nun eine Grimasse. Besitz und Macht, war das einzige was zählte und man konnte dem Netz nicht entkommen…niemals…nicht einmal Nachts.

Wach lag sie in den weichen Daunen ihrer Laken und klopfte das Wollkissen unter ihrem Kopf zurecht. Leise trommelte der regen die Melodie auf das Dach ihres Hauses. Ja auch das hatte ihr die Stadt gegeben…doch zu welchem Preis? Ja, Löwenstein hat unweigerlich einen Flicken verdient auf der Ahnendecke, als Meilenstein und Sargnagel ihres Lebens. Gleich morgen würde sie es nähen…

...bevor ich gar nichts sage, sag' ich lieber nichts...

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Ein Flicken für Löwenstein - von Leviathana - 26.09.2013, 18:27



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