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Normale Version: Die Familiendecke - Ein Leben in Flicken
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Die Dämmerung war von jeher ein besonderer Moment für sie.

Es hatte etwas für sich, wenn das Zwielicht eintrat. Nichts und niemand wirkte in diesem Licht wie er vorher war und auch nicht, wie er später in der Dunkelheit sein würde. Es war einfach etwas Besonderes. Allerdings nur bis zu jenen Momenten, bis einer der neuen städtischen Tagelöhner kam, um alle Laternen zu entzünden und die Nacht in flackerndes orange-gelbes Licht zu tauchen. Wie schnell und leise doch der Zauber einer kleinen Weile zerbrochen werden kann.

Dann kehrte dieser Augenblick erst zur Morgendämmerung zurück, doch diesmal in einer ganz anders gearteten Faszination. Da war diese winzige Zeitspanne, filigran und zart, nicht länger als ein Minutenlauf…ein paar Sandkörner in der Sanduhr die diesen kleinen Moment außergewöhnlich werden ließ. Dieser Hauch eines Momentes, in dem es so still wurde, dass man es nicht wagte zu atmen und in dem jedes Nachtgetier verharrte und jeder Vogel schwieg. Dann konnte man hören wie die Welt um einen herum tief einatmete um Kraft für den Tag zu sammeln. Man spürte es die Füße hinaufwandern, über die Beine zum Rumpf in die Finger- und auch Haarspitzen. Ein sanftes Beben voller ergiebiger Stille und Kraft, die einen durchströmt und bewies wie das Leben in allem und jeden pulsierte.

Auf diesen Moment wartete sie gerade, hoch oben auf ihrem Balkon. Hier erreichte sie das Licht der Laternenkegel nicht und sie dachte auch nicht daran eine der Laternen, die leise hölzern klappernd, über ihrem Haupte in der nächtlichen Brise schwangen, anzuzünden. Ihre Augen hatten sich an die Nacht gewöhnt, die gar nicht so dunkel war, wie manch einer glauben mochte. Der matte, kalte Glanz der Sterne bedeckte das Firmament und in Vollmondnächten, konnte es schon fast taghell sein, je nachdem wie nah der Mond stand. Sie schloss die Lider und wartete auf ihren Moment. Sie liebte das Einzigartige, das Besondere und vor allem einfach die Augenblicke. Das, was sich von anderen Dingen unterschied, dem ein eigens Lied innewohnte und was niemals gleich sein würde oder zweimal hintereinander geschah.

Allmählich wurde es stiller um sie herum und so tasteten ihre Fingerspitzen nach dem Deckel der großen, schweren und hölzernen Schatulle auf ihrem Schoß. Sie liebkosten die alten, schon ein wenig abgegriffenen und unkenntlichen Schnitzmuster, die diesem innewohnten. Dies' Geschenk ihrer Familie war erst an diesem Morgen eingetroffenund seit dem war sie um die kleine Truhe herumgeschlichen und hatte sie angestarrt ohne sie zu öffnen. Diese Schachtel war etwas Einzigartiges und ihr gebührte einer jeder besonderen Momente, die sie so sehr schätzte. Einer der durch Servano reisenden Trödelhändler hatte sie ihr übergeben. Ihr Vater hatte dafür gewiss ein ordentliches Sümmchen ausgeben müssen und dennoch war sie sich sicher, dass es nur heil ankam, weil der Überbringer nichts mit dem Inhalt anzufangen wusste. Trug es doch keinen materiellen, sondern lediglich einen sentimentalen Wert.

Als sie die Stille in sich vibrieren spürte, klappte sie den Deckel nach oben und ihr Blick fiel auf den Inhalt: Die Familiendecke. Sie hob vorsichtig das weiche Stück aus dem Behältnis und presste es an ihre rechte Wange. Flauschig und duftend, wie sie es von früherer Kindheit in Erinnerung behalten hatte. Ihre Mutter musste sie kurz vorher noch einmal gewaschen haben und das wahrscheinlich, berechnend wie sie war, nur um genau diese Erinnerungen daran aufleben zu lassen.

Es war eine sehr alte Tradition der Schneidersfamilie Tartsonis, die es unbedingt fortzusetzen galt. Flicken um Flicken erzählte die Geschichte ihrer Ahnen über Generationen hinweg und sprachen von Liebe und Leid oder Hass und Glück. Aber auch Mut oder Tränen und die eine oder andere gute und schlechte Eigenschaft, die auch ihr Charakterbild prägte, fand sich in dem Flickwerk wieder. Jetzt, wo Rehan, ihr Bruder, in Indharim weilte und als verschollen galt oblag die Verantwortung ihr allein die Familiengeschichte weiter zu führen. Sie strich mit dem Daumen über die einzigen beiden Flicken, die ihr Vater eingefügt hatte. Einmal jener, der von der Hochzeit mit ihrer Mutter zeugte und der andere, der ein Mädchen zeigte mit einem kleinerem, Jungen an der Hand. Sie blinzelte. Das Stickmuster war so fein und ausgeprägt, dass sie schwören konnte, dass das Mädchen troztzig schaute und der Junge herzlich lachte. Sie und Rehan. Der kleine Flausejunge, den sie ständig zu beschützen versuchte. Sie atmete tief durch und unterdrückte den Drang sich einfach den Tränen hinzugeben, die ihr schon länger in den Augen brannten. Vielmehr sollte sie sich damit beschäftigen, welche Flicken die ihre sein werden und sie schwor sich dabei, nicht so faul zu sein, wie ihr Vater.

Trillernd und ohne Vorwarnung setzte das morgendliche Gezwitscher wieder ein. Der wunderbare Augenblick war gegangen und doch war er wieder etwas ganz besonderes geworden.

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Wie hatte sie jene bewundert, diese hohen Mauern der Stadt, als sie mit Hab und Gut in der Stadt damals eintraf. Machtvoll, grau und so dick, dass sie absolut uneinnehmbar schien. Ihre Fingerkuppen wanderten damals zu allererst über die wuchtigen Löwenfiguren aus dem gleichen harten, dunklen Granit. Sie fühlten jeden noch so kleinen Spalt, einzelne Erhebungen und raue Dellen. Sie schloss die Augen. Sogar die Luft war hier anders als am Weiher. Gegen den Willen ihrer Eltern stand sie dort, lauschte dem klappern der Hufen auf dem Pflaster, dem steinernen Knirschen der Räder und dem lautem Gebrüll der Stadtwachen, dass ihr auf der Straße entgegenschallte. Sie war sofort überwältigt. Sie war vermutlich nur eines von den vielen kleinen Landmädchen vor den riesigen, metallenen Gittertoren, dass mit offener Kinnlade dort verharrte, wo es schon andere taten. Wahrscheinlich gingen deshalb die Menschen achtlos an ihr vorbei oder besser gesagt um sie herum, gestatten ihr kaum ein Blick, wie sie mit ihrem kleinen Bündel mitten im Wege, auf dem Pflaster verharrte. Gleichgültig lief das Leben weiterhin um sie herum ab, während ihres für diesen einen Augenblick ins Stocken geriet.

Ach wie naiv sie doch war. Wohlbehütet aus gutbürgerlichem Hause, aufgewachsen in einem Heim voller Liebe, gar einer Köchin die ihr so großzügig ihr Kochbuch mit auf dem Wege gab, aus Sorge sie würde in der Stadt sonst verhungern. „Als ob man Bücher essen könnte!“ Hatte sie noch gescherzt, doch Zineta blieb dabei, mit dem ungetrübten Ernst, der jener fülligen alternden Maid sonst nur selten innewohnte.

Sie strich durch die Straßen und Gassen, den Blick aus großen, staunenden Augen an die verschiedenen Häuserwände geheftet. Kein Wunder also, dass sie sich ständig verlief und aufs Neue nach dem Weg zur Schneiderzunft fragen musste.

Das war das erste was die Stadt ihr gab. Die Zunft und ein Dach über den Kopf. Auch wenn das Lager karg war, auf den alten gammligen Matten zwischen all‘ den anderen Gesellen, die schnarchten und schmatzten und andere Geräusche von sich gaben, die sie lieber nicht identifizieren wollte. Tagsüber arbeitete sie unermüdlich, bis die Finger von den Näharbeiten bluteten, um dann einfach matt und erschöpft im Obergeschoss einzuschlafen. Manchmal sogar noch mit Kleid und Schuhen. Nein, was die Stadt schenkte, gab sie nicht umsonst her. Auch nicht Ana. So widerwärtig der Umstand war, sie näher kennenzulernen, so wundervoll das Ergebnis. Ihre erste Freundin und die beste für Jahr und Tag. Wäre Umbinor nicht damals auf den Gedanken gekommen, sie könnten seine „Gesellschaftsdamen“ werden, wäre aus dieser Gemeinsamkeit nicht das gewachsen was es heute war. Gemeinsam gelang vieles leichter und man wurde stärker. Das Selbstvertrauen, der Glaube, Erfahrung.

Doch auch das Gift das unsichtbar durch die Gassen waberte. Es war nicht der Schmutz, der Dreck, das Erbrochene an der Ecke oder auch die Ratten, die überall lauerten…es war das Netz aus Intrigen und Lügen, aus Boshaftigkeiten und Machtgier. Dort wo ein Lächeln eben noch gewesen ist, erschien nun eine Grimasse. Besitz und Macht, war das einzige was zählte und man konnte dem Netz nicht entkommen…niemals…nicht einmal Nachts.

Wach lag sie in den weichen Daunen ihrer Laken und klopfte das Wollkissen unter ihrem Kopf zurecht. Leise trommelte der regen die Melodie auf das Dach ihres Hauses. Ja auch das hatte ihr die Stadt gegeben…doch zu welchem Preis? Ja, Löwenstein hat unweigerlich einen Flicken verdient auf der Ahnendecke, als Meilenstein und Sargnagel ihres Lebens. Gleich morgen würde sie es nähen…