Die Familiendecke - Ein Leben in Flicken
#1
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Die Dämmerung war von jeher ein besonderer Moment für sie.

Es hatte etwas für sich, wenn das Zwielicht eintrat. Nichts und niemand wirkte in diesem Licht wie er vorher war und auch nicht, wie er später in der Dunkelheit sein würde. Es war einfach etwas Besonderes. Allerdings nur bis zu jenen Momenten, bis einer der neuen städtischen Tagelöhner kam, um alle Laternen zu entzünden und die Nacht in flackerndes orange-gelbes Licht zu tauchen. Wie schnell und leise doch der Zauber einer kleinen Weile zerbrochen werden kann.

Dann kehrte dieser Augenblick erst zur Morgendämmerung zurück, doch diesmal in einer ganz anders gearteten Faszination. Da war diese winzige Zeitspanne, filigran und zart, nicht länger als ein Minutenlauf…ein paar Sandkörner in der Sanduhr die diesen kleinen Moment außergewöhnlich werden ließ. Dieser Hauch eines Momentes, in dem es so still wurde, dass man es nicht wagte zu atmen und in dem jedes Nachtgetier verharrte und jeder Vogel schwieg. Dann konnte man hören wie die Welt um einen herum tief einatmete um Kraft für den Tag zu sammeln. Man spürte es die Füße hinaufwandern, über die Beine zum Rumpf in die Finger- und auch Haarspitzen. Ein sanftes Beben voller ergiebiger Stille und Kraft, die einen durchströmt und bewies wie das Leben in allem und jeden pulsierte.

Auf diesen Moment wartete sie gerade, hoch oben auf ihrem Balkon. Hier erreichte sie das Licht der Laternenkegel nicht und sie dachte auch nicht daran eine der Laternen, die leise hölzern klappernd, über ihrem Haupte in der nächtlichen Brise schwangen, anzuzünden. Ihre Augen hatten sich an die Nacht gewöhnt, die gar nicht so dunkel war, wie manch einer glauben mochte. Der matte, kalte Glanz der Sterne bedeckte das Firmament und in Vollmondnächten, konnte es schon fast taghell sein, je nachdem wie nah der Mond stand. Sie schloss die Lider und wartete auf ihren Moment. Sie liebte das Einzigartige, das Besondere und vor allem einfach die Augenblicke. Das, was sich von anderen Dingen unterschied, dem ein eigens Lied innewohnte und was niemals gleich sein würde oder zweimal hintereinander geschah.

Allmählich wurde es stiller um sie herum und so tasteten ihre Fingerspitzen nach dem Deckel der großen, schweren und hölzernen Schatulle auf ihrem Schoß. Sie liebkosten die alten, schon ein wenig abgegriffenen und unkenntlichen Schnitzmuster, die diesem innewohnten. Dies' Geschenk ihrer Familie war erst an diesem Morgen eingetroffenund seit dem war sie um die kleine Truhe herumgeschlichen und hatte sie angestarrt ohne sie zu öffnen. Diese Schachtel war etwas Einzigartiges und ihr gebührte einer jeder besonderen Momente, die sie so sehr schätzte. Einer der durch Servano reisenden Trödelhändler hatte sie ihr übergeben. Ihr Vater hatte dafür gewiss ein ordentliches Sümmchen ausgeben müssen und dennoch war sie sich sicher, dass es nur heil ankam, weil der Überbringer nichts mit dem Inhalt anzufangen wusste. Trug es doch keinen materiellen, sondern lediglich einen sentimentalen Wert.

Als sie die Stille in sich vibrieren spürte, klappte sie den Deckel nach oben und ihr Blick fiel auf den Inhalt: Die Familiendecke. Sie hob vorsichtig das weiche Stück aus dem Behältnis und presste es an ihre rechte Wange. Flauschig und duftend, wie sie es von früherer Kindheit in Erinnerung behalten hatte. Ihre Mutter musste sie kurz vorher noch einmal gewaschen haben und das wahrscheinlich, berechnend wie sie war, nur um genau diese Erinnerungen daran aufleben zu lassen.

Es war eine sehr alte Tradition der Schneidersfamilie Tartsonis, die es unbedingt fortzusetzen galt. Flicken um Flicken erzählte die Geschichte ihrer Ahnen über Generationen hinweg und sprachen von Liebe und Leid oder Hass und Glück. Aber auch Mut oder Tränen und die eine oder andere gute und schlechte Eigenschaft, die auch ihr Charakterbild prägte, fand sich in dem Flickwerk wieder. Jetzt, wo Rehan, ihr Bruder, in Indharim weilte und als verschollen galt oblag die Verantwortung ihr allein die Familiengeschichte weiter zu führen. Sie strich mit dem Daumen über die einzigen beiden Flicken, die ihr Vater eingefügt hatte. Einmal jener, der von der Hochzeit mit ihrer Mutter zeugte und der andere, der ein Mädchen zeigte mit einem kleinerem, Jungen an der Hand. Sie blinzelte. Das Stickmuster war so fein und ausgeprägt, dass sie schwören konnte, dass das Mädchen troztzig schaute und der Junge herzlich lachte. Sie und Rehan. Der kleine Flausejunge, den sie ständig zu beschützen versuchte. Sie atmete tief durch und unterdrückte den Drang sich einfach den Tränen hinzugeben, die ihr schon länger in den Augen brannten. Vielmehr sollte sie sich damit beschäftigen, welche Flicken die ihre sein werden und sie schwor sich dabei, nicht so faul zu sein, wie ihr Vater.

Trillernd und ohne Vorwarnung setzte das morgendliche Gezwitscher wieder ein. Der wunderbare Augenblick war gegangen und doch war er wieder etwas ganz besonderes geworden.

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...bevor ich gar nichts sage, sag' ich lieber nichts...

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Die Familiendecke - Ein Leben in Flicken - von Leviathana - 07.09.2013, 10:15
Ein Flicken für Löwenstein - von Leviathana - 26.09.2013, 18:27



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