FSK-18 Die Kunst des Lebens
#2
Nur eine Sekunde


[Bild: cktzgmmrtdt39dtkp.jpg]

Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich in den Zinnen des Wachturmes, während hin und wieder eine dunkle Wolke von der nahenden Dämmerung kündete. Die Tore waren geschlossen, die Straßen wie ausgestorben. Es schien, als würde man vor einer Geisterstadt um Einlass bitten. Kein Kinderlachen, nicht einmal das Scheppern der Wagenräder der Händler konnte man vernehmen. Einzelne Schneeflocken tänzelten auf dem steinigen Weg hinter den Stadttoren, schienen sie zu locken, ehe sie sich wirbelnd wieder in die Höhe schraubten. Und so kalt Ihre Hände inzwischen auch waren, lösten sie sich nicht von den metallenen Gitterstäben dort vor Ihr. Noch ein Blick, ein letzter Blick. Nur noch eine Sekunde, dann wollte sie umkehren. Umkehren und verzeihen.

„Sieh' mal.“, mit ausgestrecktem Finger deutete der Soldat von den Zinnen des Turmes hinab, um seinen Kameraden auf die Gestalt dort unten aufmerksam machen zu können. „Sie steht seit Stunden reglos dort unten, starrt einfach nur vor sich hin.“. Tatsächlich schien die verhüllte Person vor den Toren, eher ein Abbild Ihrer selbst zu sein, denn ein lebendes Wesen. Die kupferfarbenen Kleidungsstücke waren dreckig und feucht, vor allem am Saum des Umhanges und Mantels ließ sich verkrusteter Matsch erkennen. Die Gugel war tief in das Gesicht der Person gezogen, ließ aus dem Blickwinkel der Soldaten nicht viel mehr erkennen als den Hauch eines schmalen Gesichts. „Sollen wir uns nach Ihrem Begehr erkundigen?“, er wagte es kaum die Stimme zu erheben, aus Sorge, sie aus Ihren Gedanken zu reißen. Das Bild, das sich Ihnen dort unten präsentierte, war zu ruhig, zu hypnotisch, um es zu stören.

Ein Blitzen, weit draußen auf dem Meer. Ein Leuchtsignal, um die Schiffe trotz der inzwischen vorherrschenden Dunkelheit sicher zurück in Ihre Häfen zu weisen. Ein Licht im Süden, dass sie nun dazu veranlasste, die schmalen Finger von den eiskalten Gitterstäben zu nehmen. Sie sah Ihn nicht, dort, die Quelle weit im Süden und doch war es sein Lichtschein, der diese Regung in Ihren Körper brachte. Einzelne Flocken hatten sich inzwischen auf Ihren Schultern niedergelassen, um dort für eine Weile Ihr Dasein zu fristen und als bald einen feuchten Fleck auf dem Stoff zu hinterlassen. Erstmals seit Stunden drehte sie den Stadttoren nun den Rücken zu, um versonnen das immer wiederkehrende Lichtspiel auf der heute so glatten Meeresoberfläche zu beobachten. Nur noch eine Sekunde, dann wollte sie umkehren. Umkehren und vergessen.

„Ich glaube sie geht.“, inzwischen lehnten die beiden Soldaten ein Stück weit über der Brüstung, um das seltsame Verhalten der Person besser beobachten zu können. Nach Ihrer Drehung in südliche Richtung, konnten sie nun erstmals Ihre Züge betrachten. Gesichtszüge, geprägt von Müdigkeit und Resignation. Es war trotz des vorherrschenden Dämmerlichtes nicht zu übersehen, wie gerötet Ihre Augen und auch die Nase waren. Die ebenmäßige Haut hingegen war blass, von Erschöpfung gezeichnet. Und auch hier konnte man recht schnell den Eindruck bekommen, dass sie bereits seit einiger Zeit trotz der eisigen Kälte durch die Ländereien zog. Der aufkommende Wind zog sanft an der Gugel, ließ den schweren, gefütterten Umhang hinter den Beinen der Gestalt flattern. Noch eine Böe, dann schlossen sich den wallenden Stoffen kupferfarbene Haarsträhnen an, die ungebändigt für einen Moment durch die Abendluft getrieben wurden. „Ist das nicht die Große vom Kaufmann Kylli, eh?“, sein Kamerad bekam den Ellbogen in der Seite zu spüren, während das metallene Scheppern der einzelnen Rüstungsteile sich regelrecht bedrohlich in der vor Kälte schwirrenden Luft ausbreitete.

Und als wäre dieses Geräusch ein Zeichen gewesen, schob sie Ihre Hand in die Höhe, um sich die Gugel wieder über das Haupt zu ziehen. Ein fahriger Blick in Richtung des Wachturmes, dann riss sie sich aber auch schon los, um eiligen Schrittes die Straße zurück in Richtung Waldstück zu nehmen. Nur noch eine Sekunde in der Dunkelheit,...

...

Währenddessen bietet sich in der Altstadt Löwensteins ein sehr seltenes, regelrecht ungewohntes Bild. Die Schneiderstube zum 'Goldenen Schnitt' wirkt seit mehreren Tagen verwaist, kein Licht brennt hinter den Scheiben, kein Schatten bewegt sich tänzelnd und zuckend über die Wand. Wird man um Einlass bitten, dringen keine Schritte durch die Türe hindurch, kein Schlüssel wird im Schloss gedreht.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Die Kunst des Lebens - von Kristin Mia Kylli - 01.09.2013, 18:21
RE: Die Kunst des Lebens - von Kristin Mia Kylli - 09.01.2014, 22:25



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste