Notizen des Alltags
#4
Der andere Weg
Tag der Quelle, der Zehnte Ernting des Jahres 1400.


Noch vor kurzem war mir jedes Leid fremd, außer dem Mitleid. Wenn jemand eine Wunde hatte, so dachte ich zuerst daran, sie zu versorgen, und dann, denjenigen zu trösten, der sie empfangen hatte. Nur zu oft hatte ich einen so kleinen Maßstab, was körperliches und seelisches Leid anbetrifft. Das ist mir jetzt klar geworden. Zuerst durch eine meiner neuen Schwestern - ihre Geschichte war so grausam, dass ich nicht aufhören konnte, sie zu beweinen. Vor meinen Augen sah ich das Mädchen leiden und brennen und bluten - dass eben jenes Mädchen nun als junge Frau in mein Leben eingetreten ist, ist mir noch unfassbar, aber mein Herz weint immer noch, wenn ich sie sehe, und ich möchte sie in die Arme nehmen und ihr sagen, dass es ein Unrecht war. Ein Unrecht.
Doch das mir jemals ein körperliches Leid angedeihen würde, war ein Gedanke, welcher mir bis heute fern blieb. Nie hat mein Vater die Hand gegen mich gehoben; nie haben meine Brüder sich mit mir geprügelt oder mich geschlagen. Auch meine Mutter, die doch meinen Brüdern Albert und Simon hin und wieder eine kleine Ohrfeige verpasste, war Zeit meines Lebens sanft und freundlich, und da ich nie oft mit anderen Kindern spielte, sondern vielmehr mit meinen Büchern im Zimmer blieb, kenne ich auch keine Raufereien unter gleichaltrigen Jungen. Manchmal dachte ich, vielleicht käme ich in einen verwegenen Kampfe, wenn ich ein Buch über Abenteuer und Ritter las.
Nie aber habe ich gedacht, dass ich wegen meines Wissens und meiner Vorstellung, dass Worte alles regeln können, geschlagen werde. Und nie dachte ich, dass ein Priester es sein würde, der letztendlich diese Unschuld von mir nimmt. Ich bin immer noch davon überzeugt, in jener Sache im Recht gewesen zu sein. Hätte ich jedoch gewusst, dass es wirklich zu solcher Züchtigung kommt... hätte ich vielleicht anders gehandelt. Und noch dazu über eine so einfache Sache...
Mehr und mehr bin ich da froh, einen Freund wie seine Ehrwürden zu haben. Mit welchem Verständnis er mir zuhört, mit welcher Geduld er mir meine Lage erklärt, und mir Wege aufzeigt, wie ich damit umgehen kann! Wohl hat er bemerkt, dass mir wieder einmal fast die Tränen hoch gekommen waren. Es beschämt mich doch ein wenig, dass ich nicht einmal dagegen etwas tun kann, doch er ist verständnisvoll, und weiß mich zu beruhigen. Das ich ihm einen Gefallen tun kann, ehrt mich. Und das ich nun weiß, dass ich meinen Weg, Mithras zu dienen, gehen kann, ohne von der Willkür anderer aufgehalten zu werden, verdanke ich nur ihm. Ich bereue also nur eines - mir das Haar selbst geschnitten zu haben. Doch betrachte ich es nicht als Buße. Ich betrachte es als meinen Willen, dem Herrn zur Ehre zu gereichen, und werde mit gutem Gewissen vor ihm niederknien, und wenn es vor den Augen Seiner Gnaden sein muss.

[Bild: manu76vgcez25q.png]
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Notizen des Alltags - von Emanuel Liebrecht - 20.07.2013, 01:23
RE: Notizen des Alltags - von Emanuel Liebrecht - 20.07.2013, 14:39
RE: Notizen des Alltags - von Emanuel Liebrecht - 23.07.2013, 00:37
RE: Notizen des Alltags - von Emanuel Liebrecht - 10.08.2013, 02:58



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste