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Der Friedhof bei Nacht
Tag der Freiung, der Neunzehnte Heuert des Jahres 1400.


Wer hätte gedacht, dass man noch am Abend des Freiungstages solch interessante Gesellen treffen würde? Und noch dazu just nach jener Stunde, die da Acht schlug, an der es mir erlaubt war, meine letzten Schillinge meines monatigen Taschengeldes für eine neue Garderobe auszugeben, bei niemand anderem als den vortrefflichen Schneider Herrn Greiffenwaldt, wenn auch dessen Blässe mir die ein oder andere Sorge bereitet hat. Doch wie sagt man nicht immer? Des Meisters Hand schwächt Krankheit nicht!
Doch war dies nicht jene wunderliche und erfreuliche Begegnung, welche mich auch an diesem Abend so einiges lehrte. Als ich nämlich daraufhin auf den Markt einkehrte, viel mir ein kleiner Stand auf, den ein junges Mädchen mit schwarzem Haar und ohne Schuhwerk betrieb. Ein seltsamer Anblick, wenn auch ein schlichter, dennoch gut ausgearbeiteter Wams mir zu jenem Zeitpunkt mehr ins Auge stich als das Mädchen, welches Cleo heißt, oder ihr Begleiter, ein schlafender Mann auf der Bank neben ihr. So wie ich jedoch den Wams anprobierte - der mir vorzüglich passte, trotz meines doch eher schmächtigen Körperbaues -, da merkte ich, wie ich mich mit einem regen Gespräch mit dem Mädchen vergnügte.
So verstrich die Zeit bis zur Dämmerung, in der der Schlafende, namentlich Herr Lew von der Totengräberei, zu Boden rollte, und nach dessem Erwachen auch ins Gespräch mit einfiel. Und so kam es wohl, dass, ob meines Interesses an dem Beruf der beiden, ich mich bald darauf auf dem Friedhof wiederfand, mit einem Glas Wasser bedient und im regen Austausch mit den beiden.
Wahrhaftig, wer hätte gedacht, dass diese Arbeit soviel Interessantes zu bieten hätte? Und auch wenn ich fürchte, dass es bisweilen morbid erscheinen möge, so hat auch dieser Ort etwas Faszinierendes an sich, vor allem im Licht des Mondes, in dem die verwitterten Grabsteine aufleuchten wie Irrlichter in den Sümpfen nördlich von hier.
Allgemein bewerte ich diesen Tag also als gelungen, vor allem auch daher, da ich endlich bereit bin, einen Brief an die heilige Kirche zu verfassen. Und, was man niemals ignorieren sollte - meine Mutter hat die Kekse nicht gefunden, welche ich bei der Dame Landor erstand. Ein kleiner Jubel meines Herzens und auch ein Teil meines Nachtgebetes geht also auch an ihr.

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Die Rote Robe
Tag der Quelle, der Zwanzigste Heuert des Jahres 1400.


Es ist vollbracht. Endlich halte ich sie in den Händen, und mein Herz geht über vor Freude und Demut, dass ich noch jetzt zur Halle des Altars eilen und ein Dankesgebet vollbringen möchte. Doch das Wissen um das junge Fräulein, welches nun das selbe Gespräch führen dürfte wie ich es noch hatte, hindert mich daran - ungern nur würde ich Seine Seligkeit stören, wo er doch für mich schon seine kostbare Zeit verkürzen musste, und so bete ich nun in dem kleinen Zimmer, welches nur noch eine Woche mein Heim sein wird.
Mutter war ebenso erfreut wie ich, auch wenn sie eine gewisse Trauer empfindet. Ich weiß, dass ich für sie immerzu das Nesthäkchen sein werde, der jüngste ihrer drei Söhne, der belesenste - und der körperlich schwächste, auch wenn diese empfindlichen Kindheitstage, in denen Fieber und Frost meinen Körper durchzog, unlängst der Vergangenheit angehören. Noch vertreibt jedoch meine Freude über die erlangte Anwärterschaft auf das ehrenvolle Noviziat jede Sentimentalität darüber, dass ich bald das Haus meiner Eltern verlassen werde, um der Kirche meine gesamte Aufmerksamkeit zu geben, wenngleich ich meine Mutter jetzt schon damit tröste, dass ich sie nicht vergessen und ausreichend Besuch abstatten werde.
Auch der Aspekt der Besitzlosigkeit, welches mein Großonkel Heinrich schon pflegte, als er zu seiner Zeit ins Noviziat berufen wurde - Mithras sei seiner Seele gnädig, hat er doch schon früh das Zeitliche gesegnet -, scheint in ihr Sorge aufkeimen zu lassen. Aber was wären wir ohne jene Mütter, die selbst dann um die rechte Kleidung und das rechte Essen ihrer Kinder sorgen, wenn diese erwachsen in den Schoß der Kirche treten?

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Dem Sarg entstiegen
Tag des Mondes, der Zweiundzwanzigste Heuert des Jahres 1400.


So manch Verwunderliches kann man beizeiten erhaschen, wenn man nur genügend Aufmerksamkeit zu Tage bringt. Der Gang in den ungewohnten Roben ist noch etwas beschwerlich - sie sind ein Stück zu lang und heute bin ich noch nicht dazu gekommen, sie kürzen zu lassen. Oh, das amüsierte Lachen, wenn man mich erblickte, die Roben gerafft wie die Frau ihre Röcke zu raffen weiß, mit vorsichtigen Schritten jedem Unrat ausweichend, so bin ich durch die Stadt gegangen. Es war zwar schon am Dämmern, doch die weit sichtbaren Farben der Robe machen doch schon auf mich aufmerksam, und ich konnte mir selbst das Lächeln nicht verkneifen, als ich daran dachte, wie komisch ich wohl wirken muss. Der Weg vom Stadttor bis zum Friedhof erwies sich als noch beschwerlicher. Nicht nur Erde war mein Feind, auch der reichlich vorhandene Pferdedung machte das Fortbewegen schwer, weswegen ich sogar über die Wiese lief.
Das Treffen mit den beiden Totengräbern verlief jedoch nicht wie geplant. Irgendwie verwundert mich dies schon gar nicht mehr bei den beiden Gesellen, welche eine erfrischende Andersartigkeit an den Tag legen. Denn anstatt dass ich zweierlei traf, fand ich nur Herrn Lew vor, der die Treppen kehrte und - ich glaube, darüber werde ich noch Tage schmunzeln können - mich mit dem Fräulein Winkel verwechselte.
Sodann jenes Missverständnis aus der Welt geschaffen wurde, riefen wir nach Fräulein Cleo, jedoch ohne Erfolg, und so begannen wir den versprochenen Rundgang ohne Ihr Beisein. Jedoch nicht lange - nachdem ich die gar prächtige Kutsche des Friedhofes und den weniger prächtigen, jedoch tadellosen Handkarren besichtigen durfte, machten wir uns auf zu den Massengräbern, welche eine bizarre und unappetitliche, wenngleich durchaus faszinierende Geschichte bereithielten, nämlich den Tod durch Ertrinken des ehemaligen Totengräbers, Herr Mortimer.
Als mir Herr Lew sodann seine selbst gezimmerten Särge präsentierte, fanden wir das Fräulein Cleo auch schon - in einem der Särge, wohlgemerkt, wo es sich zurückgezogen hatte. Das arme Ding - gerade als wir sie herausholen wollten, obwohl sie darauf bestand, dort gelassen zu werden, kam der ehrenwerte Herr Carl Gustav Jehann vorbei und erblickte sie in dieser Misere. Nicht nur das - ich hoffe, sie bekam später keinen Ärger mit ihm, als er sie zu einem Gespräch mitnahm.

Leider verlief der restliche Abend nicht mehr allzu erfreulich. Ich mache mir wirklich Sorgen - besonders um Herrn Lew. Ihm scheint viel an dem Mädchen zu liegen. Ich hoffe und bete für ihn, dass sie ihre Differenzen beilegen können. Zu schade wäre es, wenn etwas Triviales wie Geld etwas so Zartes wie die Liebe zerstören würde (auch, wenn er es wohl verneint, habe ich doch das Gefühl, dass diese beiden etwas Stärkeres verbindet als nur die Arbeit).

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Der andere Weg
Tag der Quelle, der Zehnte Ernting des Jahres 1400.


Noch vor kurzem war mir jedes Leid fremd, außer dem Mitleid. Wenn jemand eine Wunde hatte, so dachte ich zuerst daran, sie zu versorgen, und dann, denjenigen zu trösten, der sie empfangen hatte. Nur zu oft hatte ich einen so kleinen Maßstab, was körperliches und seelisches Leid anbetrifft. Das ist mir jetzt klar geworden. Zuerst durch eine meiner neuen Schwestern - ihre Geschichte war so grausam, dass ich nicht aufhören konnte, sie zu beweinen. Vor meinen Augen sah ich das Mädchen leiden und brennen und bluten - dass eben jenes Mädchen nun als junge Frau in mein Leben eingetreten ist, ist mir noch unfassbar, aber mein Herz weint immer noch, wenn ich sie sehe, und ich möchte sie in die Arme nehmen und ihr sagen, dass es ein Unrecht war. Ein Unrecht.
Doch das mir jemals ein körperliches Leid angedeihen würde, war ein Gedanke, welcher mir bis heute fern blieb. Nie hat mein Vater die Hand gegen mich gehoben; nie haben meine Brüder sich mit mir geprügelt oder mich geschlagen. Auch meine Mutter, die doch meinen Brüdern Albert und Simon hin und wieder eine kleine Ohrfeige verpasste, war Zeit meines Lebens sanft und freundlich, und da ich nie oft mit anderen Kindern spielte, sondern vielmehr mit meinen Büchern im Zimmer blieb, kenne ich auch keine Raufereien unter gleichaltrigen Jungen. Manchmal dachte ich, vielleicht käme ich in einen verwegenen Kampfe, wenn ich ein Buch über Abenteuer und Ritter las.
Nie aber habe ich gedacht, dass ich wegen meines Wissens und meiner Vorstellung, dass Worte alles regeln können, geschlagen werde. Und nie dachte ich, dass ein Priester es sein würde, der letztendlich diese Unschuld von mir nimmt. Ich bin immer noch davon überzeugt, in jener Sache im Recht gewesen zu sein. Hätte ich jedoch gewusst, dass es wirklich zu solcher Züchtigung kommt... hätte ich vielleicht anders gehandelt. Und noch dazu über eine so einfache Sache...
Mehr und mehr bin ich da froh, einen Freund wie seine Ehrwürden zu haben. Mit welchem Verständnis er mir zuhört, mit welcher Geduld er mir meine Lage erklärt, und mir Wege aufzeigt, wie ich damit umgehen kann! Wohl hat er bemerkt, dass mir wieder einmal fast die Tränen hoch gekommen waren. Es beschämt mich doch ein wenig, dass ich nicht einmal dagegen etwas tun kann, doch er ist verständnisvoll, und weiß mich zu beruhigen. Das ich ihm einen Gefallen tun kann, ehrt mich. Und das ich nun weiß, dass ich meinen Weg, Mithras zu dienen, gehen kann, ohne von der Willkür anderer aufgehalten zu werden, verdanke ich nur ihm. Ich bereue also nur eines - mir das Haar selbst geschnitten zu haben. Doch betrachte ich es nicht als Buße. Ich betrachte es als meinen Willen, dem Herrn zur Ehre zu gereichen, und werde mit gutem Gewissen vor ihm niederknien, und wenn es vor den Augen Seiner Gnaden sein muss.

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