Notizen des Alltags
#3
Dem Sarg entstiegen
Tag des Mondes, der Zweiundzwanzigste Heuert des Jahres 1400.


So manch Verwunderliches kann man beizeiten erhaschen, wenn man nur genügend Aufmerksamkeit zu Tage bringt. Der Gang in den ungewohnten Roben ist noch etwas beschwerlich - sie sind ein Stück zu lang und heute bin ich noch nicht dazu gekommen, sie kürzen zu lassen. Oh, das amüsierte Lachen, wenn man mich erblickte, die Roben gerafft wie die Frau ihre Röcke zu raffen weiß, mit vorsichtigen Schritten jedem Unrat ausweichend, so bin ich durch die Stadt gegangen. Es war zwar schon am Dämmern, doch die weit sichtbaren Farben der Robe machen doch schon auf mich aufmerksam, und ich konnte mir selbst das Lächeln nicht verkneifen, als ich daran dachte, wie komisch ich wohl wirken muss. Der Weg vom Stadttor bis zum Friedhof erwies sich als noch beschwerlicher. Nicht nur Erde war mein Feind, auch der reichlich vorhandene Pferdedung machte das Fortbewegen schwer, weswegen ich sogar über die Wiese lief.
Das Treffen mit den beiden Totengräbern verlief jedoch nicht wie geplant. Irgendwie verwundert mich dies schon gar nicht mehr bei den beiden Gesellen, welche eine erfrischende Andersartigkeit an den Tag legen. Denn anstatt dass ich zweierlei traf, fand ich nur Herrn Lew vor, der die Treppen kehrte und - ich glaube, darüber werde ich noch Tage schmunzeln können - mich mit dem Fräulein Winkel verwechselte.
Sodann jenes Missverständnis aus der Welt geschaffen wurde, riefen wir nach Fräulein Cleo, jedoch ohne Erfolg, und so begannen wir den versprochenen Rundgang ohne Ihr Beisein. Jedoch nicht lange - nachdem ich die gar prächtige Kutsche des Friedhofes und den weniger prächtigen, jedoch tadellosen Handkarren besichtigen durfte, machten wir uns auf zu den Massengräbern, welche eine bizarre und unappetitliche, wenngleich durchaus faszinierende Geschichte bereithielten, nämlich den Tod durch Ertrinken des ehemaligen Totengräbers, Herr Mortimer.
Als mir Herr Lew sodann seine selbst gezimmerten Särge präsentierte, fanden wir das Fräulein Cleo auch schon - in einem der Särge, wohlgemerkt, wo es sich zurückgezogen hatte. Das arme Ding - gerade als wir sie herausholen wollten, obwohl sie darauf bestand, dort gelassen zu werden, kam der ehrenwerte Herr Carl Gustav Jehann vorbei und erblickte sie in dieser Misere. Nicht nur das - ich hoffe, sie bekam später keinen Ärger mit ihm, als er sie zu einem Gespräch mitnahm.

Leider verlief der restliche Abend nicht mehr allzu erfreulich. Ich mache mir wirklich Sorgen - besonders um Herrn Lew. Ihm scheint viel an dem Mädchen zu liegen. Ich hoffe und bete für ihn, dass sie ihre Differenzen beilegen können. Zu schade wäre es, wenn etwas Triviales wie Geld etwas so Zartes wie die Liebe zerstören würde (auch, wenn er es wohl verneint, habe ich doch das Gefühl, dass diese beiden etwas Stärkeres verbindet als nur die Arbeit).

[Bild: manu76vgcez25q.png]
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Notizen des Alltags - von Emanuel Liebrecht - 20.07.2013, 01:23
RE: Notizen des Alltags - von Emanuel Liebrecht - 20.07.2013, 14:39
RE: Notizen des Alltags - von Emanuel Liebrecht - 23.07.2013, 00:37
RE: Notizen des Alltags - von Emanuel Liebrecht - 10.08.2013, 02:58



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