Sie hatte eine Zeichnung vom Inneren eines Menschen gesehen. Dort war alles so geordnet. Hier war alles durcheinander. "Bitte, Morana, hol es raus, sie dürfen es nicht erfahren!". Ich bin keine richtige Heilerin. Ich reagiere nur auf das, was ich sehe und handle nach Gefühl. "Du hast dem Mann das Leben gerettet!" Aber ich kann nicht einfach in dich hineingreifen und es rausholen. Bitte Morana. Bitte. Ich flehe dich an. Tu es! Wenn ich dich verliere... Ich hätte es nie... Bitte Morana. "Du weißt nicht, wie es ist." Ich habe Angst. All das Blut. Morana! Mach, dass es aufhört. Nun habe ich es doch getan. Von jetzt an bete ich für meine Seele.
Morana schreckt aus dem Schlaf hoch. Dabei kann sie am Friedhof doch immer so gut schlafen...
Blut ist Leben. "Auch wenn es weh tut, am Ende hat es alles besser gemacht." Wenn man Pech hat, sickert es nur so aus einem heraus. "Es war doch notwendig!" Es hatte nicht viel Leben. Doch es hatte so viel Blut. "Jetzt ist alles gut. Jetzt kann mein Leben von vorne beginnen." Blut, das nun an meinen Händen klebt. Und übrigens auch auf dem Teppich. Meine Seele gehört in den Abyss und ich werde sie niemals zurückbekommen. Egal wie viel ich beichte. Egal wie viel ich bete. Es wird niemals genug sein. Du bist dein Problem los. Nun trage ich den Sohn an meiner Brust.
Ich wollte doch nur mal etwas Schönes sehen. Man kann sich nicht aussuchen, wer Hilfe braucht. Die Leute unterschätzen die Macht eines schönen Anblicks. Nein, das kann man nicht. Sonst hätte ich nicht immer diese schrecklichen Männer und Frauen um mich herum. Ich will doch nur eine schöne Erinnerung, bevor ich sterbe. Wenn sie die Kinder wollen, dann gehen sie woanders hin. Wenn sie nicht gerade verbluten und halb aufgefressen sind, gehen sie zu den anderen, aber nicht zu mir. Nein. Ich habe nur die hoffnungslosen Fälle. "Morana, bitte lass mich gehen." "Morana, wie konntest du nur?" Warum bleibst du nicht eine Weile hier bei mir? Ich meine, dein Kind, das könnten du und ich doch... "Morana, bitte. Ich flehe dich an." Und doch warst du ein zweites Mal hier. Und nun ein drittes. Mal keinen toten Blutkumpen in den Händen halten, der kaum an ein menschliches Wesen erinnert. Ein Kind. Ein echtes Kind. Morana...bitte... Eine schöne Erinnerung nur.
"Vergib mir, oh Herr", haucht Morana leise, während sie in einem Stall in Ravinsthal kniet und betet. Ravinsthal. Einem Lehen, das so kalt ist durch die Abwesenheit des wahren Glaubens. Dass sie hier auf ihre Worte achten muss und allen vorspielt, eine Mondwächterin zu sein, ist ihr persönlicher Frevel. Sie spricht keine Worte, die andere wissen lassen, sie sei Anhängerin des falschen Glaubens; viel eher lässt sie die richtigen Worte unausgesprochen, in ihrem Herzen eingeschlossen, um ihr Leben zu retten.
"Ist mein Leben wichtiger als mein Glaube? Und was ist mein Leben wert ohne Mithras?"
Sie japst nach Luft, als sie sich den Riemen umlegt. Eine Beichte, vier Gebete am Tag, eine Spende - all das würde nicht ausreichen, dass man ihr vergebe. So legt sie sich die Schlinge um den Hals, um die Atemlosigkeit und den Überlebenswillen zu spüren, den auch ihr Glaube fühlt. Sie will sich strafen, denn sie kann nicht tatenlos zusehen. Ihre Luft wird knapp. Wenn der Galgen sie nicht durch den Ruck tötet, so wird er sie würgen, wie sie es gerade selbst tut. Sie muss nur rechtzeitig aufhören. Denn einige Momente zu viel und sie würde erst vor Glück frohlocken und dann sterben. Einen Augenaufschlag vor dem seligen Glück lockert sie den Riemen um ihren Hals und fällt röchelnd auf die Hände. "Oh Mithras, habe Gnade mit dieser Sünderin..."
Morana saß im Gras und hatte eine neue Freundin auf der Hand. Beide streckten ähnlich elegant ihre langen Glieder aus.
"Mach dir keine Sorgen", sprach Morana sanft, "der Richtige wird schon noch kommen und einen wunderschönen Faden an dein wunderschönes Netz knüpfen."
Es war Paarungszeit und ihre neue Freundin würde sich bald sekundenlang, aber dafür öfter, vergnügen. "Ich glaube auch, er wird ganz lecker sein.", fügte sie schmunzelnd hinzu. Irgendwie beneidenswert.
"Was bei mir so ansteht? Ach, nur noch eine wilde Flucht."
Schade, dass sie sich an diesem Abend wieder von ihrer kleinen Freundin verabschieden musste. Hach. Sie würde so schöne Kinder haben, wenn sie mehr nach ihrer Mutter kämen...