Jugendsünden 1393
#1
Inhaltsverzeichnis
Akt 1: Einleitung Akt 2: Begnungen Akt 3: Rot wie Hagebutten
Akt 4: Die Feste feiern wie sie fallen
  • 4.1 Wer andren eine Grube gräbt (Viktor)


    Der lange Weg nach Silendir

    Er hoffte wirklich, dass dieses endlose Wandern bald ein Ende finden würde. Jeden Tag wurden die Schmerzen in seinem Bein schlimmer, zu Beginn der Reise konnte er noch darauf hoffen nach jeder Rast zumindest für eine halbe Stunde von Krämpfen verschont zu bleiben. Doch seit zwei Tagen begann das Bein schon beim Aufstehen zu krampfen und Abends dauerte es bis lang in die Nacht ehe die Schmerzen abgeklungen waren. Dazu kam eine unerträglich schwüle Hitze an den Tagen. Aber zumindest hatte Vater Joachimus gesagt, dass sie vermutlich am heutigen Abend ihr Ziel, das große Herrenhaus des Stellmacherzweigs der Familie Veltenbruch in Silendir, erreichen würden.

    Und wozu ertrug er das Ganze überhaupt? Eigentlich war diese Frage recht einfach zu beantworten: Sein Onkel Linhart würde heiraten, also erwartete man sogar von ihm, dass er zu Besuch kommen würde, also würde er dort seine Familie nach 6 Jahren wieder treffen. Und dann war die Frage wiederum doch nicht so einfach zu beantworten, denn zum einen kannte er seinen Onkel Linhart kaum, zum anderen den Rest seiner Familie noch viel weniger und also war ihm gar nicht so recht klar, was man denn nun von ihm erwartete. Vor allem würde er seine Mutter Zerline dort wiedertreffen. Das bereitete ihm die größten Sorgen. Wie verhält man sich einer Frau gegenüber die einen, wohl für einen guten Preis, an die Kirche verkauft hatte? Wobei, streng genommen musste man wohl davon ausgehen, dass diese Entscheidung von seinem Vater Ludovig getroffen wurde. Dennoch, seit diesem Unfall hatte er auch kein Wort mehr mit seiner Mutter gewechselt. Würde das nun von ihm erwartet werden? Wahrscheinlich und das belastete ihn mehr als alles andere. Er würde es auf sich zukommen lassen und genau das hasste er wie kaum etwas anderes in der Welt: Nicht im Vorfeld analysieren zu können was das Richtige zu tun sei.

    Unwillkürlich erschien ihm das lächelnde Antlitz seiner Mutter vor Augen und aus diesem Bild nahmen die Gedanken ihren weiteren Gang. Furchtbar fröhliche Gedanken, ja, seine Mutter konnte damals durchaus liebevoll sein. Er vertraute ihr, er liebte sie. Wann immer sein Vater ihn am Tage zu sehr gegängelt hatte, ihn zu weit treiben wollte, von ihm Dinge verlangte, welche er schlicht und ergreifend nicht tun konnte, dann war sie für ihn da. Damals verstand sie es vortrefflich ihn aufzufangen, er fühlte sich als ihr Sohn und das fühlte sich gut und richtig an. Das war natürlich alles vor dem Unfall.

    Als er merkte, dass ihm eine Träne die Wange hinablief schlug er sich selber einmal auf sein rechtes Bein. Der Schmerz war mehr als ausreichend solche furchtbar unnötigen und dummen Gedanken aus seinen Kopf zu vertreiben. Das hatte er sehr schnell gelernt. Wer sich in seinem Schmerz badet, bietet ihm zu viel Raum und verschwendet Zeit, besonders wenn es um Vergangenes ging. Deshalb war es nötig sentimentale Anwandlungen möglichst schnell bei Seite zu schieben. Denn diese waren viel tückischer als der körperliche Schmerz in seinem Bein. An diesen konnte man sich beinahe schon gewöhnen, natürlich war es unangenehm und natürlich schränkte er ihn ein, aber immerhin nur den Körper und sein Körper war klein und schmächtig, und mit diesem Bein ohnehin beinahe gänzlich nutzlos. So war es leichter und klüger den körperlichen Schmerz zu ertragen und dafür den Kopf und den Verstand freizuhalten. Außerdem, kam ihm nun, nachdem er auch von den Schmerzen nicht mehr so sehr abgelenkt wurde, in den Sinn, dass es sich für ihn ja ohnehin ganz trefflich gefügt hatte. Der Tempel war sein zu Hause. Dort war er noch nützlich auch wenn er außer seinem Kopf kaum etwas anzubieten hatte. Noch war er zwar kein Novize, denn dies konnte man ja erst nach der kleinen Indoktrination werden, doch war es sich heute schon sicher einer zu werden, sobald er die Möglichkeit dazu hatte.

    Er musste nur auf Mithras Führung vertrauen und es würde sich auch alles Kommende fügen. Er war gespannt auf seine Vettern und seine Kusine. Er konnte sich kaum mehr an sie erinnern und sie waren allesamt im gleichen Alter wie er. Sicher würde es interessant mit ihnen zu sprechen, denn er es gar nicht mehr gewohnt mit Menschen seines Alters zu sprechen. Soweit er es überblicken konnte, und das konnte er nach 6 Jahren im Tempel sehr gut, war er mit Abstand der Jüngste im Tempel. Wobei dieser Abstand immer geringer wurde je mehr er sich seiner kleinen Indoktrination näherte, aber in jedem Fall gab es außer ihm im Moment niemanden im Tempel dem es gegeben war seine Bestimmung schon in so jungen Jahren zu erkennen. Er war gespannt darauf wie es seinen Vettern und seiner Kusine diesbezüglich ergangen ist. Ob sie schon alle wussten, was mal aus ihnen werden würde? Man könnte sich sicherlich trefflich mit ihnen unterhalten und dabei viel Spaß haben. Zumindest hoffte er das. Vater Joachimus meinte, dass wohl zumindest sein Vetter Viktor gute Anlagen zeigte und sich gerne Geschichte aus der Kirche, vor allem der Legion anhörte. Deshalb dachte Albert sich, dass Viktor wohl in Vergleich zu ihm viel größer und stärker sein musste, denn sonst fände er wohl die Legion nicht so spannend. Gewisslich aber wäre er sehr klug und vernünftig, mit ihm würde er sich wohl am besten verstehen.

    Vielleicht könnte er ihm sogar noch helfen etwas an seinem Traktat etwas zu verbessern. Dieser war das Geschenk, welches er seinem Onkel zur Hochzeit überreichen wollte. Er hatte sich viel Mühe gegeben und zwei ganze Wochen nur darüber nachgedacht wie gut eine Ehe doch im Sinne der mithrasischen Ordnung ist, deshalb hatte er ihn auch „Über die mithrasgefällige Ordnung in der Ehe“ genannt. Er hatte ein besonders gutes Papier gewählt und sich beim Schreiben viel mehr Mühe als sonst gegeben. Das war ja eigentlich ein großer Blödsinn, aber irgendwie wurde das wohl erwartet und es hatte ihm tatsächlich auch Spaß gemacht. Sicherheitshalber hatte er aber noch ein paar Bögen Papier dabei, damit er, wenn ihm noch etwas Besseres einfallen sollte, es sogleich niederschreiben konnte. Möglicherweise würden seine anderen Vettern und seine Kusine auch noch eine gute Idee haben? Er konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken als er sich vorstellte, wie er mit seinen Altersgenossen zusammensaß und sie den Traktat noch verbesserten, das würde sicher ein großer Spaß werden.

    Dieser Moment des relativen Optimismus sollte jedoch nur recht kurz währen. Vor ihm erhob sich ein sachter Hügel, der die meisten Wanderer nicht im Mindesten interessiert hätte für ihn jedoch eine höchst unangenehme Herausforderung darstellte. Kurz überlegte er ob er Vater Joachimus um eine kurze Rast bitten sollte. Er entschied sich dagegen, die Krämpfe würde noch lange nachhallen, sodass eine kurze Rast ohnehin nicht zielführend gewesen wäre und so war es gewisslich am Klügsten diese Gelegenheit zu nutzen um sich weiter im Ertragen von Unabänderlichem zu üben, so war die Chance auch größer, dass sie ihre Reise tatsächlich noch heute beenden würden. Und wie richtig es ist, solcherlei Unbill zu ertragen wenn ohnehin wenig oder nichts daran geändert werden kann, zeigte sich, als sie am Ende der Steigung ankamen und in der Ferne schon das Herrenhaus zu sehen war.
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