Die Bognerin
#1
Die Gasse entlang, an der Abzweigung rechts , nein doch links. Moment, die Gebäude hier kamen ihr alles andere als bekannt vor. Vielleicht ein Stück weiter vorne? Emily verfiel in einen leichten Laufschritt. Das Klimpern des Beutels an ihrer Seite verstärkte nur noch ihr Unbehagen.
Sie warf gehetzte Blicke zur Seite. Mitten im Armenviertel war sie gelandet. Und schon prallte sie gegen einen Passanten. Emily stürzte rücklings zu Boden und die silbernen Münzen kullerten nur so über die Pflastersteine. Ihr Gegenüber, ein hagerer, schmutziger Mann, interessierte sich offensichtlich stark für das, im Licht der untergehenden Sonne, blitzende Metall. Umso eiliger versuchte sie die Münzen eine nach der anderen einzufangen, während sie ein ‚Verzeihung‘ murmelte.
„Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“
Er wartete die Antwort gar nicht ab, sondern bückte sich bereits, um ihr beim Aufklauben ‚behilflich zu sein‘.
„Nein, nein schon in Ordnung!“ Sie versuchte ihm möglichst im Weg zu stehen, während sie eine Münze nach der anderen auflas und in den Beutel zurücksteckte. Dabei riss der Gurt ihres löchrigen Rucksacks und dessen spärlicher Inhalt ergoss sich ebenso auf die Straße. Mittlerweile waren dem Mann weitere hungrige Gestalten gefolgt, die alle unheimlich bemüht waren ihr zur Hand zu gehen. Emily war zum Heulen zumute. Sie versuchte das Wichtigste in den Rucksack zu stopfen, presste ihn an die bebende Brust und rannte so schnell sie konnte.
Wieder auf der Hauptstraße angekommen, wehte ihr ein eisiger Wind vom Stadttor aus entgegen. Er erinnerte sie an ihr zerschlissenes Gewand, welches sie mit dem Geld endlich austauschen wollte. Und auch an Marcus. Sie wünschte sich er wäre nun hier und würde ihr das Gefühl der Hilflosigkeit nehmen.
Sie schüttelte wütend über sich selbst den Kopf. Wie konnte sie nur an ihn denken? Was würde Mireille davon halten? Mireille!
Der Gedanke an ihre Schwester schoss ihr wie ein brennender Pfeil ins Gewissen. Die ganze Zeit war sie außerhalb der Stadt gewesen – wahrscheinlich suchte sie schon nach ihr. Ein weiterer Windhauch, der vereinzelte Schneeflocken mit sich trieb, umwehte ihre Beine und ließ sie schlottern. Sie stellte sich ihre Schwester vor, wie sie halb erfroren durch die Gassen wanderte und nach ihr suchte. Derweil hatte sie sich bei Marcus den Bauch vollgeschlagen. Was war sie nur für eine entsetzliche Schwester? Aber sie hatte ihr ein Stück des Wildbrets mitgenommen – auch wenn das Stück Fleisch nun mit dem Dreck der Straße behaftet war.
Sie beeilte sich und lief in Richtung Bank, doch rasch wurden ihre Schritte langsamer. Ungewissheit überkam sie. Sie hatte das Geld ehrlich verdient, Geld mit dem sie beide eine Weile über die Runden kommen würden, sich anständige Kleidung würden kaufen können. Aber würde Mireille ihr das glauben? Emily selbst empfand das kuriose Geschäft nach wie vor als mehr als verwirrend. Wahrscheinlich würde Mireille glauben, sie hätte es unredlich erworben, womöglich sogar ihren Körper verkauft.
Wie könnte sie ihr das nur erklären? Natürlich! Sie würde ihr erzählen, sie hätte einen Bogen verkauft. Nicht irgendeinen Bogen, einen ganz speziellen, neuen, eine eigene Kreation! Emilys Zuversicht stieg. Schon damals hatte sie die Freunde ihres Vaters mit allerlei geradezu abstrusem Schusswerkzeug überrascht. Sie holte ihr Schnitzmesser hervor. Das angelaufene Metall spiegelte ihr Gesicht praktisch gar nicht mehr. Aber es würde reichen, um einen zu fertigen.
Sie erwarb sich einige Blatt Papier und ein Stück Kohle und begann mit der Zeichnung eines Rohentwurfs. Irgendein reicher Mann, der so viel Geld hat, dass er sich ein unreifes Modell einer Schusswaffe kaufen würde. Ein Sammler vielleicht, wer weiß. Das war ihr fiktiver Käufer.
Und irgendwann … irgendwann würde die erfundene Geschichte wahr werden. Sie würde exquisite Bögen herstellen und Könige und Fürsten würden sich danach reißen mit ihnen auf die Jagd zu gehen. Ihre Finger wanderten flink über das Papier, langsam ergab sich ein Bild – und es gefiel ihr, es gefiel ihr sogar unheimlich.
Zitieren
#2
‚Ich habe heute ein paar Heller verdienen können. Wir schlafen heute ausnahmsweise einmal drinnen.‘
Die Worte brannten wie Feuer in Emilys Seele. Sie hatte ihr erzählt das Wildbret hätte ihr ein reicher Mann abgegeben. Er hätte Mitleid mit ihr gehabt. Mireille hatte nicht einmal alles davon gegessen, obwohl man ihrem Körper den Hunger deutlich ansah. Sie hatte das Essen mit Emily geteilt. Beinahe hätte es ihr die Tränen in die Augen getrieben.
Den ganzen Tag hatte sie sich im Armutsviertel herumgetrieben. Den Stadtwachen geholfen dort für Ordnung zu sorgen. Eine lebensgefährliche Arbeit für einen Hungerlohn. Wahrscheinlich hatte sie sich von Emily alleingelassen gefühlt. Bisher hatte sie sie immer begleitet – allein schon aus Angst es könnte ihr etwas passieren.
Der Morgen graute und sie hatte fast kein Auge zugetan.
„Begleitest du mich heute?“, fragte Mireille vorsichtig. Man musste es Emily ansehen, dass sie kaum geschlafen hatte.
„Nein, tut mir Leid, ich habe heute noch etwas vor.“
„Was hast du denn bitte vor?“
„Ich bin da an etwas dran … womit wir vielleicht ein wenig Geld verdienen können.“ Auf Mireilles irritierten Blick hin fügte sie rasch hinzu: „Und außerdem brauchen wir Holz für neue Pfeile.“
„Also gut, wie du meinst.“ Sie schien alles andere als glücklich darüber, aber sie kannte Emily gut genug. War sie einmal von einer Idee beseelt, konnte man sie nur schwer davon abbringen.
Am liebsten hätte sie es ihr gesagt. Ihr das Geld hingehalten. Ihr klar gemacht, dass sie das nicht tun musste, sie in einem besseren Zimmer wohnen konnten. Aber die Angst sie könnte es falsch verstehen, schnürte ihr jedes Mal regelrecht die Kehle zu. Sie hatten so viel durchgemacht, sie wollte sie nicht verlieren. Außer ihr hatte sie keinen mehr, nun da ihre Zieheltern tot waren.
Kaum war Mireille von dannen, beeilte sich Emily in den Wald zu kommen. Sie blieb nahe der Stadt, fürchtete sie sich doch allzu sehr vor wilden Tieren. An einem geeigneten Baum entfernte sie ein paar breitere, biegsame Äste und machte sich gleich daran deren Rinde zu entfernen. Mit dem nicht mehr allzu scharfen Messer war es eine regelrechte Plagerei. Stunde über Stunde arbeitete sie emsig am kalten Waldboden. Sie war so darin vertieft, dass sie kaum bemerkte, wie ihre Finger immer tauber wurden.
Endlich war sie soweit, dass sie die Äste beginnen konnte zu kleineren Stücken zurechtzuschneiden. Der Abend graute schon, als sie endlich vier gebogene Holzstücke und einige weitere Holzplättchen zurechtgeschnitten hatte.
„Du hast wieder mit dem Bognern angefangen?“, fragte Mireille sie, als sie ihr Zimmer betrat.
Emily nickte nur geistesabwesend, während sie die vier Holzstücke soweit zurechtschnitzte, dass sie sie ineinanderstecken konnte.
„Du hast das doch nicht alles mit diesem stumpfen Teil da gemacht?“
Emily sah kurz von ihrer Arbeit auf und blinzelte sie verwirrt an.
„Wieso?“
„Du brauchst doch einen Hobel, eine Säge …“ Mireille rang nach Worten. „…ordentliches Werkzeug! Zeig mir deine Hände!“
Sie kam zu Emily rüber und griff grob nach deren Händen. Tatsächlich waren die Handflächen völlig aufgescheuert. Nun als sie es sah, spürte sie auch sogleich den dazu passenden Schmerz.
„Das ist doch verrückt! Wie willst du damit etwas verdienen?!“, herrschte Mireille sie an.
„Es wird sich sicher ein Käufer finden“, entgegnete sie kleinlaut.
„Wenn du jemals damit fertig wirst. Emily, wir haben keine Zeit für solche Spielereien. Wir haben gerade mal genug Geld, um nicht auf der Straße übernachten zu müssen!“
Nein haben wir nicht, wollte sie schon sagen, aber sie schwieg betroffen.
„Vertrau mir!“, sagte sie stattdessen in geradezu flehendem Ton.
Mireille fixierte sie noch einen Moment mit starrem Blick, dann winkte sie ab und legte sich wieder hin. Emily wartete einen Moment ab, ob sie vielleicht noch irgendetwas sagte, aber sie schwieg. Betroffen legte sie ihre Werkstücke beiseite und kuschelte sich von hinten an ihre Schwester. Aber nur eisiges Schweigen beantwortete ihre Geste.
Zitieren
#3
Am nächsten Morgen hatte Mireille darauf verzichtet sich überhaupt zu verabschieden. Langsam fürchtete Emily, es wäre besser gewesen, gleich die Wahrheit zu sagen. Die Arbeit an dem Bogen ging gut voran. Zwar fehlte ihr der nötige Leim und Seil, um die einzelnen Holzstücke fest miteinander zu verbinden, aber sie war zuversichtlich es auch so zu schaffen.
Kurzum entschlossen opferte sie mehrere Strähnen ihres ohnehin schon viel zu langen Haares, und schnürte die verbundenen Teile zusätzlich fest.
Die zusätzlichen Holzplättchen schnitt sie soweit zurecht, dass sie diese als Verstärkung um den Bogen legen konnte und sie sich miteinander verhakten. Ihre Hände hielten der ständigen Belastung endgültig nicht mehr stand und begannen an mehreren Stellen zu bluten. Schweren Herzens opferten sie einen Teil ihres kostbaren, dünnen Gewands und nutzte es als Verband. Ein weiteres Stück Stoff musste zur Umwicklung des Bogens herhalten.
Ihre Nase begann bereits zu laufen und ein leichter Husten machte sich absehbar. Durch das offene Fenster drang ungehindert die Kälte hinein und umwehte ihren nun nackten Bauch. Unter ihrer Decke lugte der Geldbeutel mit den silbernen Münzen hervor. Der Anblick hätte sie beinahe zum Lachen gebracht. Sie war beileibe nicht reich durch dieses Geld, aber sie konnte sich problemlos etwas zum Anziehen kaufen. Stattdessen saß sie hier und würde wohl erfrieren, bevor der Bogen je fertig wurde. Hoffentlich entdeckte Mireille das Geld unter der Decke, wenn sie ihren erfrorenen Leichnam entsorgte. Damit wenigstens sie etwas davon hätte, dachte sie sarkastisch.
Der Bogen nahm langsam Form an, was Emily noch einmal in ihrem Tun beflügelte. Aus ihrem Rucksack beförderte sie einige in Tuch gewickelte Sehnen hervor. Ein regelrechtes Erinnerungsstück an die Zeit, da sie mit Mireille auf der vereinsamten Insel gelandet war. Der Hirsch, den sie am Strand tot aufgefunden hatten, hatte schon damals ihr Leben gerettet. Er hatte ihre hungrigen Bäuche gefüllt und ihnen das Material für einen provisorischen Bogen geliefert. Sie dachte damals, sie würde sich die übrigen Sehnen ewig als Andenken aufheben. Aber nun schienen sie sie erneut aus einer Notlage zu retten.
Die stärkste Sehne spannte sie zwischen den Enden des Bogens ein. Der Rest diente der weiteren Stabilisierung des Holzparts. Nun kam der schwierigste Part des Baus. Nach ihrer stümperhaften Art und Weise die Holzteile miteinander zu verbinden, hatte Emily regelrecht Furcht davor. Zögerlich zupfte sie an der Sehne, um etwaige Stellen auszumachen, an denen sich der Bogen nicht recht biegen wollte. Da sie kein Tierhorn verwendet hatte, konnte sie hier die Verbindungsstücke nur ein wenig lockern. Eine Arbeit, die volles Fingerspitzengefühl verlangte. Einerseits galt es die Stücke nicht zu weit auseinanderzunehmen, andererseits durfte die Konstruktion nicht zu starr sein. Endlich war sie soweit zufrieden, dass sie es wagen konnte den Bogen einer Prüfung zu unterziehen. Sie betete, dass Chronos ihr wiederrum gewogen war, wie an dem Tag, an dem er sie zurück nach Hause geleitet hatte.
Emily nahm das Holzteil in die Linke und griff mit zitternden Fingern nach der Sehne. Jetzt, da sich ihre Arbeit dem Ende zuwendete, spürte sie wieder die Schwäche, die Ausgezehrtheit ihres Körpers. Ein Zittern, sowohl von Kälte, als auch von Aufregung hervorgerufen, durchzog ihren Körper. Millimeter für Millimeter zog sie die Sehne in Richtung ihres Kinns. Alles schien perfekt, sie wollte bereits innerlich aufjauchzen. Nichts knackte oder ächzte unter der Belastung. Der Wurfarm bog sich wie ein einziges Stück dehnbares Holz.
Den großen Bogen zu spannen kostete Emily ungewohnt viel Kraft, viel mehr, als bei ihrem Kurzbogen. Mit einem Ruck schaffte sie es die volle Dehnung zu erreichen. Sie konnte nicht mehr rechtzeitig reagieren, als sich der obere Teil des Bogens plötzlich aus seiner Verankerung löste. Die Sehne schnalzte peitschenartig in ihre Richtung und schlug ihr mit voller Wucht ins Gesicht. Emily prallte zurück und landete brutal auf dem Steinboden des Zimmers. Die Einzelteile des Bogens folgten sogleich als hölzerner Regen. Sie rührte sich nicht, war zu keiner Reaktion mehr fähig. Nur stumme Tränen zeugten davon, dass sie überhaupt noch lebte.

Mireille kam erst spät in der Nacht zurück. Ihr Rücken war gebeugt von dem harten Tag. Das Haar völlig zerzaust und frische Schnittwunden zeugten davon, dass sie sich das tägliche Brot heute schwer verdient hatte.
Emily saß mit gesenktem Blick in der Ecke des Raums; die Überreste des Bogens vor sich ausgebreitet. Sie erwartete eine Standpauke, die sich gewaschen hatte.
„Heute gibt es leider nichts zum Essen“, sagte Mireille in sachlichem Tonfall. Sie stellte ein tönernes Gefäß vor ihr ab, aus welchem es stark nach Fisch roch.
„Mach es dieses Mal ordentlich“, fuhr sie fort, lehnte daraufhin ihren Bogen an die Wand und legte sich ins Bett.
Zunächst reagierte Emily gar nicht, lehnte einfach weiter stoisch an der Wand. Aber der Geruch war derartig intensiv, das sie einfach nachsehen musste. In dem Behälter befand sich eine schwerflüssige Masse. Vorsichtig tauchte Emily den Finger hinein. Emilys Atem stockte, während ihr Herz, im Takt eines wütenden Crescendos gleich, gegen ihre Brust schlug. Es war Leim!
Trotz ihrer harten Schale hatte Mireille immer noch ein weiches Herz. Egal, was sie von ihr halten sollte, es war Zeit das Richtige zu tun. Emily nahm den klimpernden Beutel unter ihrer Bettdecke hervor. Mireilles Atem ging schon in regelmäßigen Stößen. Sie legte ihn direkt neben ihr Gesicht und legte sich dann selbst schlafen.
„Morgen kannst du endlich mal wieder ausschlafen Schwesterherz“, murmelte Emily in die Dunkelheit.
Und morgen, ja morgen würde sie den Bogen bauen. Einen ganz besonderen. Einen Bogen für Könige und Fürsten. Aber den ersten, den würde ihre Schwester bekommen!
Zitieren




Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste