Spitzfindigkeiten
#2

Müdigkeit.




Müdigkeit schien jede einzelne seiner Fasern im Leib im Griff zu halten. Das Fieber war verschwunden, und mit ihm sein Appetit. Er zwang sich, noch einmal einen Bissen vom Brot zu nehmen, ehe er den Teller dann mit einer fahrigen Bewegung beiseite schob. Auch ein Glas vom Rotwein vermochte ihm nicht mehr Farbe ins Gesicht zurückzubringen. Leichenblässe hätte es wohl am ehesten getroffen.

Was hatte er nicht alles getan. Prinzipien über Bord geworfen. Frieden zu stiften versucht. Die Hand gereicht. Und doch gab es im Handwerk immer die, die Straßenkötern gleich nach der fütternden Hand bissen. Was erwartete er von den Einwohnern einer Stadt, die sich selbst stets die Nächsten waren, die das Wort eines Mannes nicht zu schätzen wussten, einander offen ins Gesicht logen und schlichtweg zu dumm waren, um ihre eigene Bigotterie zu begreifen? Hatte er ehrlich geglaubt, er könne sie im Handwerk einen? Jene, die noch nicht einmal im täglichen Leben einen roten Faden sahen?


* * *


Mit hängenden Schultern erhob er sich und trat an den Schreibtisch am Fenster. Das Haus auf der anderen Bachseite lag ruhig da. Er legte den Kopf einen Deut schief. Dort gab es noch halbwegs vernünftige Menschen.
Als er sich auf den Schemel nieder ließ, fiel der Blick kurz auf das Lagerfass im Regal, in dem ein buntes Sammelsurium an Schneiderbedarf lag - obenauf zwei oder drei Wolfsfelle, ein Leinenkissen.

Wem wollte er eigentlich etwas recht machen? Die Einen kamen nur, wenn sie etwas brauchten; die Anderen kamen nur, wenn sie etwas wollten; und Eine blieb sogar. Doch wofür genau?

Ein Dach über dem Kopf, eine Ladentheke zum Verkauf, eine Werkbank - nicht genug.
Schnitte erläutern, nachzeichnen, aushändigen - nicht genug.
Kostbare Kleider, aufwändig gefertigt - nicht genug.
Ein Spaziergang, gutes Essen, teurer Wein - nicht genug.

Hatte er sich jetzt sogar noch den Feind ins Haus geholt? Er schlug die Hände vors Gesicht und verharrte einen Moment.


* * *


[Bild: aderlass.jpg]


Ein paar Minuten später hinkte er fast wie in Zeitlupe auf die Tür des Heilerhauses zu, nur um wenig später nach dem neuerlichen Aderlass das vernichtende Urteil über sein Blut zu hören:


"Nicht genug."


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Spitzfindigkeiten - von Kuno Greiffenwaldt - 20.05.2013, 12:48
RE: Spitzfindigkeiten - von Kuno Greiffenwaldt - 27.07.2013, 13:01
RE: Spitzfindigkeiten - von Kuno Greiffenwaldt - 03.08.2013, 21:07
RE: Spitzfindigkeiten - von Kuno Greiffenwaldt - 18.08.2013, 11:48
RE: Spitzfindigkeiten - von Kuno Greiffenwaldt - 18.08.2013, 22:07



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