Das Fett eines Erhängten
#3
"Aaaarghh! Verfluchter Dreck, ramm' mir doch gleich ein Messer in den Schädel, dann hab ichs hinter mir!" Der zappelnde Mann mittleren Alters, dessen Gliedmaßen mit festen Lederriemen an den Untersuchungstisch geschnallt waren, zappelte, zuckte, brüllte und schrie. Es war ein faszinierender, wenn auch verstörender Anblick für Reginald, der gerade groß genug war um überhaupt über die Tischkante blicken zu können. Hin und wieder ließ sein Vater ihn bei der Behandlung der Kranken zusehen um ihn, so erklärte er der Mutter, für die Arbeit eines Arztes zu sensibilisieren. "Was hat der Mann, Papa?", erkundigte er sich, ohne den Blick auch nur einen Moment von der schnaufenden und sabbernden Gestalt zu wenden. "Ein Teil seines Schädelknochens wurde zertrümmert, Reginald. Er wird höchstwahrscheinlich nicht mehr lange leben, doch wir werden versuchen, was wir können. Bring mir das kleine Fläschchen aus dem zweiten Regal ganz rechts, aber pass auf, dass du nicht verschüttest!". Der Junge konnte den strengen Blick bohrend in seinem Rücken fühlen, als er das durchsichtige Behältnis zwischen die Finger nahm und neugierig betrachtete.


Das Gemüt des Doktors war immer noch erhitzt, als er sich an diesem Abend in sein Arbeitszimmer zurückzog und einen befüllten Teekessel über die Flammen hängte. Die letzten Tage waren von einigen überraschend erfreulichen Ereignissen gespickt, aber wie es nun einmal seine Art war, erinnerte er sich vornehmlich an die schlechten Situationen. Schwester Marianna, die erfolgreich die Durchsetzung seines Willens verhindert hatte, wäre da als erstes Beispiel aufzuführen und die Erinnerung an das Treffen der Heiler hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Er würde sie schon bald zur Untersuchung bitten und dann würde sie sehen, dass Doktor Reginald Loewi in Fragen der Medizin stets das letzte Wort haben sollte. Als dann aber, einige Tage darauf, auch noch sein Titel von niemand geringerem als Godwin Ganter angezweifelt wurde, war das Fass zum Überlaufen gebracht und er sah sich gezwungen einen Beruhigungstee zu sich zu nehmen. Da die candarische Pflanze, welcher er eben jene besänftigende Wirkung zuschrieb, durch das Sperren der Grenze nicht mehr zu bekommen war und sein Vorrat zur Neige ging, war dieser Genuss wirklich nur den äußersten Notfällen vorbehalten. Das Wasser begann zu kochen.

"Was gibst du ihm da?", wollte Reginald mit hörbarer Neugierde wissen, als der Mediziner die bräunliche Flüssigkeit in den Rachen des gefesselten Patienten schüttete. Es dauerte nicht lang bis das Zucken ein Ende fand und auch die Schrei nahmen ab, bis sie zu einem leisen Stöhnen geschrumpft waren. "Es ist ein wirksames Mittel zur Benebelung der Sinne, Reginald. Es ist einfach herzustellen aus dem Fleisch der Tollkirsche, zerriebenes Bilsenkraut und .. das zeige ich dir, wenn du groß genug bist. Aber du darfst es nur in geringen Dosen einsetzen, denn anderenfalls kann es zur Geisteskrankheit führen und darüber hinaus abhängig machen. Also: Finger weg!".

Ein routinierter Griff in seinen Arztkoffer und wenige Sekunden später befand sich die gewünschte Tinktur in dem gefüllten Becher; oder zumindest dachte er das. In seinem aufgebrachten Zustand vergaß er die Unordnung, die dank dem Zusammenstoß mit Gloria in seinem Werkzeugkasten herrschte, und war darüber hinaus nicht aufmerksam genug um die bräunliche Färbung des Wassers rechtzeitig zu bemerken. Und er konnte fühlen, wie die Kreativität und die Leichtlebigkeit ohne anzuklopfen über die Schwelle seines Bewusstseins traten um sich für die Dauer ihres Aufenthaltes einen gemütlichen Platz zu suchen.
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Nachrichten in diesem Thema
Das Fett eines Erhängten - von Gloria Ganter - 16.05.2013, 15:18
RE: Das Fett eines Erhängten - von Reginald Loewi - 20.05.2013, 17:08



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