Das Fett eines Erhängten
#2
"Na, was ist, Schweinenase? Kommt das kleine Schweinchen nicht den Baum hoch?". Reginald musste fürchterlich lachen - Seitenstechen inbegriffen - und fast wäre er selbst wieder von der breiten Eiche gestürzt, als er Zeuge der ungeschickten Kletter-Versuche seines besten Freundes wurde. So sehr er den Jungen auch mochte, so war es doch eine gewisse Genugtuung zu sehen, wie ihm die Verhätschelung durch seine Eltern nun in dieser Situation einen Stock zwischen die Beine warf. Als Sohn eines Bienenzüchters, und wer konnte candarischem Honig schon widerstehen, und einer Bäckerin sah man ihn fast ständig irgendwelche süße Pastetchen in seinen breiten Mund stopfen. Böse Zungen würden behaupten Reginalds Einfall, mit Hilfe eines Seils den größten Baum im benachbarten Wald zu erklimmen, wäre überhaupt nur dadurch entstanden um seinen übergewichtigen Kameraden in diese Situation zu bringen.

Der beste Zeitpunkt um Gloria zu beobachten zeigte sich, ganz ohne Zweifel, immer dann, wenn sie in ihre Schreibarbeit vertieft war. Sie hatte ihr eigenes Tempo und das nicht auf die Erledigung ihrer Aufträge, sondern viel eher ihr gesamtes Leben bezogen. Auch der Heilkundige hatte sich schon ein ums andere Mal dabei erwischt, sich die Innenwelt ihres Schädels vor seinem geistigen Auge auszumalen - und 'Malen' war das Stichwort. In seiner Vorstellung hatten die Götter schlicht die Schädeldecke des Mädchen geöffnet und den Inhalt zahlreicher Farbtöpfe hineingeschüttet. Jeder Farbton war enthalten, alle Grundfarben, alle Zwischentöne und natürlich auch all jene, die es überhaupt erst noch durch die Forschung zu entdecken galt. Desweiteren, spann man den Gedanken weiter, musste eine Art Ventil zwischen ihrer Mundhöhle und dem Farbraum existieren, das sich immer dann öffnete, wenn sie zu sprechen begann. Der Inhalt(oder Farbton) wäre dabei nicht von der Situation, sondern vielmehr davon abhängig welche Farbe zu welchem Zeitpunkt über dem Ventil kreiste. Eine dünne Schutzschicht um jede einzelne Farbe verhinderte dabei das Vermischen zu einem einzigen Ton, dessen chaotische und abstrakte Beschaffenheit mit großer Wahrscheinlichkeit zur Geisteskrankheit führen würde. Sie war ein faszinierendes Geschöpf und auch aus diesem Grund erhob er nicht das Wort, als sie an einem bestimmten Abend trotz seines Verbotes den Arztkoffer ergriff und sich in Richtung der Treppe aufmachte. Hatte sie ihn übersehen? Ein überstürzter Versuch seine Gehilfin aufzuhalten lief fürchterlich schief und so konnte er nur noch zusehen, wie sie seinem Griff entglitt und die Stufen herunterstürzte.

"Oink! Oink! Oink!" Das Gesicht des pummeligen Jungen war bereits knallrot angelaufen, die Handflächen durch die Reibung aufgebrannt, als er sich die Hälfte des Seiles nach oben gekämpft hatte. Reginald standen die Tränen in den Augen, dermaßen komisch fand er den beschwerlichen Aufstieg seines Gefährten. Das Lachen sollte erst verstummen, als sein Freund den Halt verlor und ein gutes Stück am Seil hinabrutschte, ehe sich dieses unglücklich um seinen Hals wickelte und dem rapiden Fall mit einem lauten Knacksen ein jähes Ende setzte. Es verstrichen mehrere Sekunden bis der Spötter realisierte was da gerade passiert war; und dieses Mal war es nicht der Hohn, der die Tränen in seine Augen trieb. Hilflos und verloren, panisch und erschüttert, kletterte er überstürzt den breiten Baumstamm herab und lief. Lief und lief. Er lief zurück ins Haus und fort von seinem besten Freund, der reglos an dem Strick herabbaumelte und ihm mit aufgerissenen Augen vorwurfsvoll hinterher sah.

Zum Glück war man Lärm auch zu später Stunde im Anwesen der Ganters gewohnt und so war er der Einzige, der den Sturz Glorias überhaupt mitbekommen hatte. Er untersuchte das liegende Mädchen - sie war in einen tiefen Schlaf gefallen - auf bleibende Schäden und insbesondere ihr Schädel genoss, nicht zuletzt auf Grund der vorangegangenen Verletzung, einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit. Sah man einmal von ein paar blauen Flecken ab(ob die Hülle einer der blauen Farbstoffe wohl beschädigt worden war?), schien sie die Situation geradezu irritierend unbeschadet überstanden zu haben und hatte damit der Ordnung seines Koffers, die erbarmungslos zerstört war, einiges voraus. Es schmerzte, beides in dem aktuellen Zustand zurückzulassen und doch war es ein nötiger Schritt, um eventuellen Schuldzuweisungen zu entgehen. Und so verließ er die Szene.

"Wir sagen einfach, dass der Junge fortgelaufen ist. Was macht es schon für einen Unterschied? Reginald wird nicht reden, immerhin hat es drei Tage gedauert bis er gebeichtet hat. Ah, wir sind fast fertig". Es war nicht das erste Mal, dass er seinen Vater und den Mitarbeiter an der Tür belauschte, um Einblick in deren Arbeit zu bekommen. Für sein junges Alter wusste er schon erstaunlich viel über die verschiedenen Stoffe die in der Medizin ihre Anwendung fanden, dafür hatte sein Erzeuger gesorgt. Dieses Wissen war es auch, das ihm verriet warum sein Freund nicht mehr dort war, wo er ihn zurückgelassen hatte. Ein brodelndes Geräusch verhinderte weiteres Lauschen, doch als er Stunden später das Labor seines Vaters betrat, standen dort zahlreiche Gefäße, gefüllt mit schmieriger Substanz, deren Duftnote ihn geradezu höhnisch an Schwein erinnerte.
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Das Fett eines Erhängten - von Gloria Ganter - 16.05.2013, 15:18
RE: Das Fett eines Erhängten - von Reginald Loewi - 18.05.2013, 02:16



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