FSK-18 Tagebuch eines Monsters
#3
III.                 Episode – Kraft

Die Wandlung bringt viele Vorteile mit sich, welche die Nachteile zwar nicht ausgleichen können, aber den Fluch erträglicher machen. Die Eindrucksvollsten sind die Stärke, die Selbstheilung, die Zähigkeit und die scharfen Sinne. Jede einzelne davon wird mit jedem Vollmond ausgeprägter.
Ich hatte bisher schon einiges an Kraft aufzuweisen, was an meinem Beruf liegt, sowie der Muskelmasse die ich, dank den Genen meines menschlichen Vaters, bemerkenswert gut aufbaue und halte. Aber die Verstärkung durch den Fluch ist dennoch eindrucksvoll. Ich kann ohne große Mühen Möbelstücke durch die Gegend hieven, weswegen ich ein beliebter Kandidat für Umzüge bin. Aber Möbelrücken ist lange nicht so auffällig wie die Tatsache, dass ich einen Mann von meinem Kaliber einhändig an der Kehle packen und von den Füßen heben kann. Ich kann ein Genick brechen, als wäre es ein Zweig, mit blanken Händen Knochen brechen oder sogar jemanden das Herz aus der Brust reissen.
Klingt unglaublich? Es ist nicht alles. Zur Kraft kommt die Geschwindigkeit, die ich durch Konzentration auf meine Wolfssinne abrufen kann. Mein Wolf ermöglicht es mir sogar in menschlicher Gestalt doppelt so schnell wie ein Sterblicher zu laufen, mich zu bewegen und zu agieren. Die Freude darüber verblasste schnell, denn nicht immer lässt sich die Kraft kontrollieren. Wut ist ein effizienter Auslöser, ebenso wie Erregung. Im ersten Moment klingt es nach dem Hauptgewinn, beim Geschlechtsakt das Tempo zu erhöhen, aber der menschliche Körper ist nicht unbedingt mit der gleichen Zähigkeit wie ich gesegnet. Zumal es dem Liebesspiel einen recht unschönen Abbruch gibt, wenn aus einem anheizenden Würgen ein Genickbruch wird.
Dieser Tage ist es für mich nicht mehr so leicht unauffällig zu bleiben. Wenn jemand Verdacht schöpft hilft meist nur eine Beseitigung. Ich kann nicht riskieren, dass die Kirche Wind davon bekommt, denn das würde meinen sicheren Tod bedeuten. Oder den meiner Kammeraden. Immerhin war ich in meinen jungen Tagen nicht nur für mich selbst verantwortlich. Das mag sehr Verantwortungsvoll klingen, ich wünschte nur es würde der Wahrheit entsprechen. Denn mein Verhalten ist oftmals alles andere als selbstlos. Dafür sind die Versuchungen viel zu groß und die Möglichkeiten zu vielfältig.

[Bild: khsewow5.png]

Der Frühling hat vor Kurzem Einzug in Amhran gehalten, als ich der Straße Richtung Südwald nehme. Die Veränderung der Gerüche zerrt mich regelrecht nach draußen. Ich kann und möchte mich dem nicht entziehen, dafür sind die Veränderungen, die mein Körper und Geist durch machen zu interessant. Auf den ersten Blick wirke ich wie ein einfacher Spaziergänger, denn es gelingt niemanden in meinen Kopf zu schauen, zu meinem Glück.
Meine Sinne arbeiten Hand in Hand. Die Gerüche um mich herum sprechen in Farben. Wenn ich die Nasenflügel blähe und tief die Luft einziehe, sehe ich Bilder. Pollen erzeugen Bilder der dazugehörigen Pflanze. Meine Finger zucken sensibel, denn ich habe sogar das Gefühl die Blätterstruktur zu fühlen. Und Vogelzwitschern verrät mir nicht nur den genauen Standort des Vogels, sondern auch ob er gerade über die Balz nachdenkt, oder bereits voll und ganz mit dem Nestbau beschäftigt ist.
Ich muss ziemlich benommen vor mich hingestarrt haben, denn plötzlich erklingt eine Stimme sehr nah. Mein Trommelfell hallt nach, als mich die Frau anspricht, denn eben war ich noch auf die entfernten Laute fokussiert. Ich muss erst den imaginären Trichter von meinem Kopf ziehen, bevor ich überhaupt aufnahmefähig für sie bin. Ehe ich so weit bin, fuchtelt sie bereits mit einer Hand vor meinem Gesicht herum.
„Bemerkenswert! Ihr seid im Gehen eingeschlafen? Haaalloh?“
Recht dicht vor mir steht eine zierliche Frau. Ich schnappe mühelos ihre Hand, die immer noch in meinem Blickfeld hin und her winkt und halte sie fest. Sie bläht entrüstet die Backen auf, dann entfährt ihr die Luft recht plötzlich, als mein Blick den ihren findet. Ihre grünen Augen weiten sich und werden so groß, dass ich das Weiße sehen kann. Ich drehe rasch den Kopf und blinzle einige Male. War meine Iris noch gelb? Verdammte Konzentration auf meine Wolfssinne.
Sie blinzelt ebenfalls und lächelt verlegen. Dann murmelt sie etwas in sich hinein, was keine menschlichen Ohren vernehmen können. Waren seine Augen eben gelb? Unmöglich…
„Muss an der Sonne liegen“, antworte ich zu schnell. Der Ausdruck in ihrem Gesicht ändert sich. Mir steigt ein kurzer, markanter Geruch in die Nase. Unsicherheit, sie schwitzt einen Hauch mehr.
„Grell … und blendend“, versuch ich die Situation zu retten, „oder es liegt an deiner strahlenden Schönheit.“
Sie prustet los und der unbehagliche Moment ist dahin. Die junge Frau sieht an mir hinab und mustert mich eingehend. Ich spüre meine Haut regelrecht prickeln unter ihrem Blick. Sie hat schlaue und intensive Augen, aber im Moment überlegt sie vielmehr, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe.
„Habt ihr einen Clown gefrühstückt, Meister? Ich dachte mir erst, gut, gib ihm einen Moment. Aber dann seid ihr nur dort gestanden und ich hab heute noch andere, zahlende Kunden…“
Verstärkte Sinne zum Teufel, endlich erinnere ich mich an ihr Gesicht. Aber ihr Geruch ist so anders. Nein, falsch ich habe die Frau schlichtweg nicht mehr gesehen seit meiner Verwandlung. Sie muss mich für einen dementen Vollidioten halten. Aber das tut sie nicht. Viel mehr spüre ich Interesse und … Wiedersehensfreude. Und ihre Hand liegt immer noch in meinem Griff, da ich sie nicht losgelassen habe. Ihre Augen weiten sich ein weiteres Mal, als ich ihre Hand an mein Gesicht ziehe und möglichst unauffällig – wer‘s glaubt – daran rieche. Ich spüre in meinem Griff, wie sich ihr Puls leicht beschleunigt. Sie riecht verdammt gut. Aus der einen Geruchsnuance, die ihre weiche Haut am Handrücken verströmt kann ich so viel lesen. Sie riecht gesund. Ihr letztes Bad war gestern Abend. Sie benutzt Rosenöl. Um sich etwas Entspannung zu verschaffen sind ihre Finger im Wasser abgetaucht. Ich weiß wie sie riecht. Mein Wolf bäumt sich auf. Riechen reicht nicht mehr aus, er will den Geschmack selbst kosten. Jetzt. Hier. Ich schlucke ein Grollen herunter.
Sie wartet weiterhin auf eine Antwort meinerseits. „‘Tschuldige, dass ich dich warten lassen hab. Gehen wir zum Hof, dann nehm ich dir die Waren ab.“ Und deine Kleidung, füge ich unbewusst hinzu. Mein Wolf ist ein Perverser.
 
Wie grausam richtig ich mit meiner Vermutung lag, wurde mir erst ein paar Tage später ersichtlich. Ich hatte die junge Bäuerin schon wieder vergessen, aber meine animalische Seite nicht. Als ich meinen Wolf voller Vertrauen laufen ließ, nutzte er die Gelegenheit und riss die Kontrolle an sich. Mir wurde erst bewusst, wie sehr ich mein Tier unterschätzt hatte, als ich meinen Namen hörte, wieder und wieder, mit wachsender Verzweiflung.
Es stellte sich heraus, dass mein Wolf der Versuchung nicht wiederstehen konnte und alle Hemmungen fallen ließ. Er hatte den Geruch des Mädchens nicht aus dem Kopf bekommen und eine Besessenheit entwickelt. Als er des Nachts nahe des Hofes jagen war, trug der Wind einen Hauch Rosenöl zu seiner Nase. Mein Wolf fand den Ursprung des Geruchs mühelos und durfte geschmeichelt feststellen, dass die junge Magd ein Bad genoss, wobei sie ihren Körper erkundete und meinen Namen murmelte. Mit lächerlicher Leichtigkeit wandelte mein Wolf meine Gestalt, ohne mir die Kontrolle zurück zu geben. Er verschaffte sich Zutritt in das Gemach der Magd und verführte sie mit allen mir bekannten Mitteln.
Aber die Frau war der ungezügelten, animalischen Kraft nicht gewachsen. Als ich ihr nach dem zehnten Aufschrei meines Namens den Mund zuhielt und sie mir in die Hand biss, war ich wieder bei Sinnen und entriss meinem Wolf die Kontrolle über meinen Körper. Mit übermenschlicher Geschwindigkeit taumelte ich von ihr weg und verschwand so schnell in der nächtlichen Dunkelheit, wie ich gekommen war.
Von dem Moment an war mir nicht nur bewusst, dass die meisten Menschen meinen neuen Kräften nicht gewachsen waren, sondern auch, dass ich dringend meine Selbstbeherrschung schulen musste. Dazu gehörte auch zu lernen, meine monströse Seite in die Schranken zu weisen oder ganz aus meinem Kopf zu verbannen. In dem Moment noch ein Ding der Unmöglichkeit, aber mir würde nichts anderes übrig bleiben, wenn ich verhindern wollte, jemanden zu verletzen, der mir etwas bedeutet.
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Tagebuch eines Monsters - von Narbenauge - 22.03.2020, 10:44
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