FSK-18 Siubhail / Reisender
#4
Kapitel 4: Die große Leere
Die nächsten Tage flossen in den sich an der Ard-Aynlinn brechenden Wellen flüchtig vorüber und trieben hinter uns südwärts gen Heimat, während sich das Schiff der Freibeuter, auf dem ich zu Gast war, weiterhin steil gen Norden schraubte. Ruathan hatte mir verraten, dass wir uns mittlerweile in einem Bereich befanden, den man nur “die große Leere” nannte, weil man tatsächlich um uns herum nichts anderes als die weite See beobachten konnte. Das Gefühl, kein rettendes Stück Land in Sichtweise zu wissen - und sei es auch noch so weit entfernt - rief ein Stück Unsicherheit in mir hervor. Ich war nun auf Gedeih und Verderb auf dieses prachtvolle Schiff angewiesen. Denn bei aller Pracht war es eben vor allem eins: Ein schwimmendes Stück Holz, von Menschen erbaut und gepflegt. Fehlbaren Menschen. Ich hatte, seit ich auf das Schiff gekommen war, wenig Gelegenheit gehabt, mich mit Ruathan zu befassen und ihm vor allem auch dafür zu danken, dass er gewartet hatte. Ich wusste, dass es keine Selbstverständlichkeit war - und er wusste, dass ich das wusste. So funktionierte unsere Freundschaft schon seit vielen Jahren. Es ging nicht darum, wie oft man sich sah oder wieviel man miteinander redete. Nein. Ruathan und ich verstanden uns blind und jeder Tag den wir zusammen verbrachten, fügte sich nahtlos an, als hätten die Tage zwischen unseren gemeinsamen Erlebnissen gar nicht erst existiert. Chloe trug mittlerweile einen alten Säbel zur Schau, der mit ziemlicher Sicherheit schon geraume Zeit in der Zeugkammer des Schiffes gelegen hatte. Der Belag und die Rostflecken waren zumindest deutliche Anzeichen für das gediegene Alter der Waffe, gaben ihr jedoch auch etwas verwegenes. Die Tage an Deck verbrachte Chloe nun damit, beigebracht zu bekommen, wie man als Pirat kämpft, wobei es für mich in der Hauptsache so aussah, als würde man sie auf jede erdenkliche Weise vorführen und einen schmutzigen Trick nach dem anderen anwenden, nur um die Truppe zu erheitern. Beachtenswerterweise ließ sich meine Gefährtin davon nicht beeindrucken und lernte zudem so unglaublich schnell und mit einer Verbissenheit, dass ich mir sicher war, dass sie den Männern auf der Ard-Aynlinn zukünftig gehörig auf den Geist gehen würde.

Es gehörte einiges dazu, sich als einzige Frau in so eine raubeinige Truppe einzufügen und ich bin mir sicher, dass Chloe sich darüber keine Gedanken gemacht hatte. Seltsamerweise beobachtete ich aber keinen einzigen Annäherungsversuch der Mannschaft an die Galatierin - genau genommen wurde sie wie ein Kerl behandelt, was ihr das Leben deutlich vereinfachte. Dass man ihre fraulichen Reize ignorierte, stimmte mich dennoch nachdenklich aber beruhigte mich auch im gleichen Atemzug. Bei den Aufgaben an Deck machte sie indes eine besonders guter Figur und es zeigte sich, dass Chloe mit ihrem Vater oft genug auf See gewesen war, um problemlos die täglichen Arbeiten und Abläufe auf dem Schiff zu verinnerlichen - etwas wofür ich, zu meiner Schande, gänzlich ungeeignet war und mich dementsprechend regelmässig zum Küchendienst bei Uevve melden durfte, der zu Beginn nicht wirklich begeistert über die “Aushilfe” war. Nachdem ich meine Kompetenzen als Smutje jedoch durch besonders fleißiges Kartoffeln schälen unter Beweis gestellt hatte, begann sich Uevve auch etwas zu entspannen und duldete mich zumindest in seinem Reich, wenn ich brav seinen Anweisungen folgte.

Die Zeit außerhalb meines Küchendienstes verbrachte ich, wenn ich nicht gerade in meinen Pergamenten wühlte, an Deck. Auf einem Schiff konnte man, wenn man praktisch keine Erfahrung auf dem Gebiet der Hermetik hatte und nicht wusste, ob ein unbedachter Versuch nicht einen unerwünschten Effekt hervorrief, nur begrenzt seinen Wissensdurst stillen. Und so kam es dazu, dass ich bei ‘Ratte’, wie er von allen genannt wurde, in die Schule ging - hauptsächlich um mir die Zeit zu vertreiben, während meine Freunde wichtigeres zu tun hatten, als mich zu unterhalten. Welche Aufgaben Ratte in der Mannschaft hatte, habe ich nie so genau feststellen können, kann aber sagen dass seine am stärksten herausragenden Kompetenzen darin bestanden, sich über den Gestank seiner eigenen Fürze zu freuen, grundsätzlich immer betrunken zu sein und Wasser an seinem Körper aus Prinzip ablehnte - was ich bis zum Schluss für eine sehr großartige Leistung gehalten habe, da die Wahrscheinlichkeit, auch unfreiwillig eine Dusche abzubekommen, auf einem Schiff doch recht hoch ist. Ratte aber, war offenbar ein Meister darin, auch dem kleinsten Trocken Feuchtigkeit zu entgehen - was ihm ein unverwechselbares Aroma verlieh. Neben all’ diesen wirklich sympathischen Eigenschaften, hatte Ratte aber tatsächlich auch ein Talent, das mich tief verblüfft hat: Nachdem er gehört hatte, dass ich nach Amhran segeln würde, um die Hermetik zu studieren, weihte er mich nämlich in sein eigenes Geheimnis ein, indem er mir erzählte, dass er selber Magie praktizierte. Damit schaffte er es zumindest, mein ungeteiltes Interesse auf sich zu ziehen und umso enttäuscher war ich, als sich herausstellte, dass Ratte damit eine Vielzahl von Münztricks, Hütchenspielen, Kartentricks und dergleichen meinte. In meiner endlosen Hochnäsigkeit, die ich mir irgendwo zwischen den Pergamenten meiner kleinen Sammlung angeeignet haben musste, hielt ich derlei nämlich mittlerweile für ausgemachten Unfug, den jeder “richtige” Zauberer sofort durchschauen könnte. Und auch wenn ich selbst noch keiner war, ich kam auf diesem Schiff zumindest dem am Nächsten und fühlte mich somit berufen, Ratte zunächst mit der Hochnäsigkeit des Einäugigen zu strafen - bis er mir auf eindrucksvolle Weise zeigte, dass ich keinen einzigen seiner Tricks entlarven konnte. Egal wie sehr ich mich anstellte, es wollte mir einfach nicht gelingen - was Ratte natürlich sichtbar freute.
Es würde noch eine Weile dauern, bis wir die große Leere durchquert hatten und auch der Wind hatte zu diesem Zeitpunkt etwas abgeflaut, so dass die Ard-Aynlinn nicht mehr volle Fahrt machen konnte, weshalb ich mich entschlossen hatte, Ratte mit heimlich eingesteckten Mitbringseln aus der Kombüse zu bestechen, damit er mir ein paar Tricks zeigte. Es verzehrte mich, dass dieser Strauchdieb mit seinen Taschenspielertricks ein scheinbar unerschöpfliches Repertoire vorweisen konnte, dessen Feinheiten ich nicht zu entschlüsseln in der Lage war und dementsprechend gab es für mich keinen Zweifel daran, dass ich die Gefahr, von Uevve mit dem Schlachterbeil über das Schiff gejagt zu werden, in Kauf nehmen musste. Zugegebenermaßen verlor ich bei den Münztricks, die Ratte mir beibringen wollte, nicht nur das Bestechungsbrot oder den Schnaps, den ich zu meinem Lehrer geschmuggelt hatte, sondern auch eine Unzahl an Hellern, von denen Ratte sich absolut sicher war, dass er sie in die “Münzwelt” gezaubert hatte und sie nicht mehr zurückbringen konnte. Es war ein kurzweiliges Vergnügen, sich von Ratte zeigen zu lassen, wie leicht man sein Gegenüber geschickt ablenken konnte, um dann scheinbar aus dem Nichts mit allerhand alltäglichen Gegenständen für allseitige Verblüffung zu sorgen. Tatsächlich vergaß ich einige Tage lang alles andere vollständig und verbrachte mit dem stinkenden, besoffenen Ratte Stunde um Stunde - sehr zum Leidwesen von Chloe, die der festen Überzeugung war, dass ich langsam genauso roch wie Ratte. Sie hatte die Proviatsäcke mittlerweile als “ihren” festen Schlafplatz in Beschlag genommen, so dass wir die Nächte regelmässig gemeinsam verbrachten - manchmal auch so gemeinsam, dass wir hofften, dass niemand bei Nacht in diesen Teil des Schiffes vordringen würde. Glücklicherweise schienen die bei uns gelagerten Dinge derart uninteressant zu sein, dass auch das nie geschah. Der Reiz, entdeckt zu werden, schien jedoch zumindest für Chloe die Attraktivität unserer “Zusammenkünfte” noch einmal zu steigern. Dementsprechend war es verständlich, dass Chloe gesteigerten Wert darauf legte, dass ich nicht wie abgestandenes Distillat stank.

In jedem Fall brachte mir die Durchquerung der großen Leere eine ordentliche Portion an Taschenspielertricks, die ich für meinen weiteren Lebensweg allerdings auch für völlig irrelevant hielt. Aber es half, die Mannschaft zu erheitern, die immer wieder die aberwitzigsten Zaubertricks von mir sehen wollten und von denen ich natürlich keinen erfüllen konnte. Der häufigste Wunsch war natürlich das Herbeizaubern von Schnaps oder anderen Alkoholika und vermutlich habe ich es Orm zu verdanken, dass sich bis zum Schluss der Aberglaube hielt, ich sei tatsächlich dazu in der Lage, so etwas zu bewerkstelligen. Zu den kreativeren Wünschen zählte da schon, “Ratte sauber zu zaubern” und die Ard-Aynlinn in eine riesige Seeschildkröte zu verwandeln. Da kam es mir ganz gelegen, zumindest ein paar Kleinigkeiten bewerkstelligen zu können und das allgemeine Gelächter auf mich zu ziehen, wenn Ratte mir einmal mehr zeigte, dass ich “alles falsch gemacht” habe und er den Trick dann noch eindrucksvoller vorführen konnte. Man konnte sagen was man wollte, aber auf diesem Gebiet war der Gaukler unschlagbar.

Meine Begeisterung für die Welt der zauberhaften Schummelei unter erprobten Trinkern führte fortgesetzt dazu, dass auch die letzten Freibeuter, die noch Vorbehalte gegen mich hatten, langsam aufzutauen begannen - bis auf einen. Ich hatte Frin, den ersten Maat auf der Ard-Aynlinn, bisher gemieden und hatte auch kein gesteigertes Interesse daran, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Etwas an ihm wirkte nicht nur unheimlich, seltsam und irritierend, sondern auch ausgemacht böse. Ich benutze Generalisierungen wie solche nur selten, insbesondere da sich bei genauer Betrachtung meist zeigt, dass hinter der unspezifischen Bezeichnung des “Guten” oder “Bösen” meist lediglich eine noch nicht erschlossene Motivlage zeigt, die den jeweiligen Begriff am Ende mit viel greifbareren Begriffen wie Leid, Elend, Misstrauen, Neid, Missgunst, Freude, Leidenschaft, Gottestreue oder Liebe füllen könnte. Und interessanterweise finden sich diese Begriffe auch regelmässig in beiden Extremen wieder. Von derlei hochtrabenden und abstrakten Gedankenkonstrukten hätte ich auf der Ard-Aynlinn allerdings vermutlich keinem erzählen können - die einen hätten sie schlicht und ergreifend nicht verstanden, während andere sich nicht für sie interessiert hätten. Am Ende blieb in jedem Fall übrig, dass Frin eine der Personen war, von denen man einfach wusste, dass sie irgendwann mit gezücktem Dolch hinter einem stehen würden, weshalb ich beschloss, ihm diesen Vorteil nehmen zu wollen. Man fand ihn meist an Deck auf einer erhöhten Position stehen, in einen dunklen Kutschermantel gehüllt, auf die See hinausblicken oder einzelnen Mitgliedern der Mannschaft Befehle erteilen. Dabei bediente er sich nicht der Standard-Kommunikationswege, die vor allem aus Schreien, Brüllen und derben Sprüchen bestanden, sondern stach besonders dadurch hervor, dass er stets mit gesenkter Stimme und äußerst beherrscht sprach, was für sich genommen schon ein Gefühl der Beklemmung in mir hervorrief, da man permanent damit rechnete, dass er gerade dabei war, eine Verschwörung zu planen.

Als der Wind der Ard-Aynlinn einige Zeit später einmal mehr in ihrem Rücken stand - was erstaunlicherweise häufiger als das Gegenteil der Fall war - und Frin sich am Bug des Schiffes befand und den Blick in die Ferne schweifen ließ, witterte ich meine Gelegenheit. Um zu vermeiden, dass er mich in Erwartung eines überallartigen Angriffs mit einem seiner zahllosen Messer umbringen würde, die er angeblich unter seinem Mantel trug, gab ich mich bereits auf einige Schritt Entfernung zu erkennen. “Können wir einen Moment reden, Frin?” war meine besonders kreative Einleitung, in die ich besonders viel Stärke zu legen versuchte, um insbesondere meine Paranoia was ihn betraf, nicht allzu offensichtlich zu zeigen. Der Mann vor mir drehte den Kopf leicht zur Seite, musterte mich mit dem einen Auge was mir nun zugewandt war und offenbarte die Hälfte seiner Gesichtszüge, in denen man auch ohne das Gesamtbild einen unerschöpflichen Brunnen der Verachtung vorfand. “Du kannst reden. Ich höre zu.” war die schlichte Antwort der dunklen Eminenz der Ard-Aynlinn. Ich war überzeugt, dass wir nach diesem Gespräch beste Freunde sein würden. “Also es ist so, Frin.” Ein guter Start, befand ich. Gleich die Fakten klarstellen. Ich befand mich nun etwa auf einer Höhe mit ihm, wagte es aber nicht, mich ganz neben ihm zu platzieren. “Ich weiss dass ich hier nur Gast bin. Und wenn ich irgendetwas getan haben sollte oder tue, was hier nicht den … Gepflogenheiten entspricht. Lass’ es mich einfach wissen, ja? Ich will mich einbringen, wenn ich kann.” Auf den letzten Satz hin ruckte der Kopf des Seemanns in meine Richtung und zog erneut diese Grimasse, die zeigte, dass er genau das nicht wollte. Vermutlich wäre das einzige Anzeichen einer gütlichen Einigung erzielt worden, wenn ich mich selbst vom Schiff gezaubert hätte oder wahlweise vom Schiff gesprungen wäre. Augenblicke vergingen, ehe er mir vor die Füsse spuckte. “Du bist eine Belastung, Galatier. Deine Freundschaft zu Ruathan ist eine Belastung und Ablenkung, dass unser Neuzugang und du auf unserem Proviant rammeln wie frisch geschlüpfte Karnickel ist eine Belastung und dein ganzes Hermetiker-Zeug ist nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Gefahr.” Mir wurde schlecht. Chloe und ich hatten uns stets unbeobachtet gewähnt - und selbst wenn nicht, wenn ein Mitglied der Mannschaft im Schlaftrunk in eine solche Situation gestolpert wäre, wäre es auch nicht weiter schlimm gewesen. Das aber klang danach, als wenn Frin uns beinahe jede Nacht beobachtet und vermutlich auch in meinen Sachen gewühlt hatte. Ich merkte, dass es naiv gewesen war zu glauben, dass er all’ das nicht tun würde und mein Blick verriet die späte Erkenntnis, die mich vermutlich aussehen ließ als hätte ich einen Tiefschlag erhalten. Erstmals zeigte Frin so etwas wie ein Lächeln - jedoch keines, das von Freundlichkeit gezeichnet war, sondern eher die Art von Lächeln, die man zeigte wenn man Hofschlachter war und Spass daran hatte, Tieren die Eingeweide aus dem Körper zu ziehen. Darüber hinaus zeigte seine Stimme keinerlei Akzent, der auf ein Leben auf den Inseln hindeutete, obwohl mir Ruathan nie erzählt hatte, dass auch Nicht-Galatier Teil der Mannschaft waren. Und Frin war definitiv kein Galatier. “Sehe ich dich einmal eine hermetische Formel weben, Zauberer, schneide ich dich in Stücke und lasse Uevve deine Reste einkochen, damit wir noch lange ‘was von dir haben. Wär’ nicht das erste mal.” Und als hätte er diesen Standpunkt untermauern müssen, sah ich erstmals eine Regung bei Frin, als er seinen Umhang etwas löste und meinen Blick auf seinen Gürtel lenkte, an dem zahlreiche, kleine Knochen hingen. Ich war kein Experte in Anatomie, aber die Vorstellung, dass es sich dabei vorwiegend um Fingerglieder handeln durfte, war naheliegend. Der Einblick in die Zukunft, die Frin mir anbot, währte nur wenige Augenblicke, ehe der Mantel sich schloss und sich der erste Maat von mir abwandte. “Ein Fehltritt, Galatier. Und ich stehe hinter dir.”

Ich stand wie angewurzelt an Ort und Stelle und spürte wie mein Körper sich verkrampfte. Als Frin sich von mir abwandte und sich vermutlich einen anderen Ort suchen wollte, um mysteriös und unnahbar herum zu stehen, hörte ich ihn in meinem Rücken den Gruß “Käpn.” murmeln, ehe sich seine Schritte entfernten und ich merkte, dass ich so fixiert auf Frin gewesen war, dass mir Ruathans Anwesenheit in meinem Rücken ebenfalls erst auffiel, als sich die Silhouette meines alten Freundes in mein Blickfeld schob. “Dein Talent, dir Freunde zu machen, ist überwältigend Ualryig.” schnatterte Ruathan in all’ seiner Süffisanz und zeigte ein sorgloses Schmunzeln. “Der Typ ist unheimlich, Ruathan.” war mein einziger Kommentar, der jegliche Leichtigkeit vermissen ließ. “Ay.” erwiderte mein Freund. “Und das ist auch gut so. Und wenn du ihn kämpfen siehst, weisst du auch dass seine Erscheinung nicht nur Fassade ist. Aber wir sind auch kein schwimmendes Sermo, Ualryig. Das ist dir schon klar?” Ich blickte Ruathan an und zog eine Braue auch. “Wie meinst du das?” “Wenn wir unterwegs Schiffe aufbringen können, dann tun wir das. Wir töten, morden und brandschatzen - alles im Namen unseres ehrenwerten Hochkönigs. Gut, vielleicht nicht direkt in seinem Namen. Aber zu Gunsten der Inseln. Es spricht niemand offen darüber, aber ich ging davon aus, dass du schon sehr genau weißt, woher der ganze Tand kommt, den du über die Jahren gesammelt hast. Die Zeiten sind vorbei, wo das Treibgut zu uns gekommen ist.” Mein Blick wandte sich wieder seewärts, ehe ich antwortete. “Ich weiss das alles, Ruathan.” gab ich zu. “Und wenn du nicht mit einem leeren Schiffsbauch zurücksegeln willst, musst du andere Schiffe angreifen. Wenn es denn hier draussen irgendwo welche gibt.” Ich deutete in die Weite des Meeres und konnte mir mittlerweile kaum noch vorstellen, dass es da draußen überhaupt noch Land gab. Man hatte beinahe das Gefühl, zu den letzten Menschen der Welt zu gehören. Eigentlich kein schlechtes gefühl.

“Die gibt es.” wandte Ruathan ein. “Und wenn es dazu kommt, wäre es gut, wenn du auch schonmal einen Säbel in der Hand gehabt hättest. Oder einen Knüppel. Oder eins von Uevves Broten.” Der kleine Scherz verpuffte in dem leicht mahnenden Ton meines Freundes. “Erwartest du von mir, dass mit deinen Leuten Schiffe entere?” Wenigstens gegenüber Ruathan wusste ich, dass ich gefahrlos etwas Widerstand in meine Nachfrage legen konnte, ohne gleich über Bord geworfen zu werden. “Du weisst, dass ich dich wie einen Bruder liebe, Ualryig. Aber die Männer erwarten, dass du an ihrer Seite kämpfst wenn es ernst wird. Sind alles prima Kerle, aber wenn du auf dem Schiff rumlungerst und anderen beim Kämpfen zusiehst, werden sie dich nicht nur nicht leiden können - sie werden dir das Leben schwer machen, wann immer sie können. Und ich bin nicht immer da und kann dich auch nur begrenzt beschützen. Sonderbehandlungen gibt es unter meinen Männern nicht und zu denen zählst du bis nach Amhran auch. Tut mir leid, alter Freund.” Ich sagte zunächst nichts weiter und musste erst einmal verdauen, dass mich Ruathan auf diese Weise damit konfrontiert hatte. Vielleicht hatte ich einen Deut zu sehr in der Vergangenheit gelebt und geglaubt, dass ich nicht an derlei Dingen teilnehmen musste. Dass dem nicht so war, war eine schmerzhafte Erkenntnis. “Man gewöhnt sich an den Anblick von Toten Ualryig. Irgendwann nimmt man gar nicht mehr wahr, dass es ‘mal Menschen gewesen sind.” Ich schnaubte aus. “Ich hab nach 1395 so viele Tote gesehen, dass es bis mir bis an mein Lebensende reicht, Ruathan.” Die Bitterkeit in meiner Stimme war überdeutlich und zumindest damals war ich noch der Meinung, dass die Zahl der Toten, die ich gesehen hatte, nicht noch weiter ansteigen würde - ein fataler Trugschluss. Womit Ruathan jedoch Recht hatte, war eines: Man gewöhnte sich daran. An ihren Gestank, an die Unwürdigkeit des verfallenden Körpers und daran, dass ein Körper ohne Seele nichts weiter war als ein Fleischklumpen, den nichts mehr formen konnte, wenn man ihm den Quell seiner Lebendigkeit geraubt hatte. “Das ist etwas anderes.” wandte mein Freund ein. “Erinnerst du dich noch daran, wie wir uns regelmässig in Saras Tavernen geprügelt haben und sie am Ende durchrotieren mussten, weil die Wirte uns vor die Tür gesetzt haben?” Ich lächelte in einem Anflug von Nostalgie. “Ay. Zurückblickend waren wir ziemliche Idioten. Aber hat sich jedesmal angefühlt, als würde ich keinen Tag altern, so lebendig hab’ ich mich gefühlt. Das war die alte Zeitrechnung Ruathan. Für solche Kindereien war keine Zeit mehr, als wir alle anpacken mussten.” Der Freibeuter nickte ernst und gestand:”Aye. Aber dieses Gefühl, Ualryig. Dieses Gefühl ist ähnlich. Wenn du einem Mann, der im Todeskampf versucht hat, dir seine Klinge ins Herz zu stoßen, den letzten Hauch Leben aus seinem Körper schneidest, prügelst oder strangulierst, dann fühlst du dein eigenes Leben vor Ekstase förmlich pulsieren.” Ich blickte Ruathan ungläubig an. Diese Art der Poesie widerte mich an und war für mich weder nachvollziehbar noch erstrebenswert. “Also bringst du die anderen Schiffe nicht nur wegen ihrer Waren auf?” Er schüttelte den Kopf. “Doch, das tue ich. Mordlust alleine macht einen Mann zu einem Monster. Sieh dir Frin an.” Da konnte ich nicht widersprechen. “Aber die meisten von uns sind nicht auf diesem Schiff weil wir so gut darin sind, feine Verse zu verfassen. Wir können, was wir können ziemlich gut und wenn es dazu kommt, haben wir Spass daran. Stell’ dich besser drauf ein, damit umzugehen. Meine Männer sind nicht zimperlich in solchen Dingen.” “Klingt als würden sie regelmässig ein Blutbad veranstalten.” “Nicht alles über die Ard-Aynlinn ist gelogen, Ualryig. Manchmal muss man auch einfach mal den Worten Taten folgen lassen.” Ich zog meinen Umhang näher an meinen Körper.

“Ich werd’ mir von Chloe was zeigen lassen.” “Nein.” wandte er mit milder Stimmlage aber bestimmt ein. “Die würde dich schonen, damit deine Kronjuwelen weiter funktionstüchtig bleiben. Frag Ratte. Mit dem verstehst du dich gut und der wird dir einiges zeigen können. Hat er ja jetzt auch schon.” Ich nickte stumm und Ruathan legte eine Hand auf meine Schulter. “Tut mir leid, alter Freund.” Und damit überließ Ruathan mich meinen Gedanken, die sich anfühlten, wie die weitere See um uns herum genannt wurde: Eine einzige, große Leere.
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Kapitel 4: Die große Leere - von Ualryig Ard-an Cathasaigh - 03.01.2018, 12:56



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